Frankreichs politische Wende: Eine Gefahr für Deutschland und Europa?

Marine Le Pen und Jordan Bardella bei einem politischen Treffen, umgeben von Tricolore-Fahnen

Marine Le Pen und Jordan Bardella bei einem politischen Treffen in Marseille, März 2024. Bild: Obatala-photography /Shutterstock.com

Weckruf für den Kontinent: Mit einem Wahlsieg der Partei Le Pens stellen sich zentrale Fragen für Europa ganz neu, meint Sabine Rau, Leiterin des ARD-Studios.

In diesen Tagen widmen sich viele Analysen und Strategien dem hochheiligen Fußball. Die Medien beschäftigen sich mit der Fußball-Europameisterschaft und das werden sie bis zum 14. Juli tun, dem Tag des Endspiels in Berlin.

Der 14. Juli ist aber bekannterweise gleichzeitig Nationalfeiertag in Frankreich zum Gedenken an den berühmten Sturm auf die Bastille im Jahr 1789, als Frankreich die Monarchie beendete und die Republik ausrief. Es ist schön zu sehen, wie Geschichte und Fußball Hand in Hand gehen ... und mit wem wird Macron nach den bevorstehenden Wahlen am 30. Juni und 7. Juli Hand in Hand gehen?

Ein großer Befürworter von Macron ist auf jeden Fall der französische Fußballspieler Kylian Mbappé, der einen Appell an junge Menschen richtete, nicht für Le Pen zu stimmen. Nach dem Ergebnis der letzten Europawahlen hat Macron die Nationalversammlung aufgelöst.

Jordan Bardella, das Wunderkind der extremen Rechten

Die wahrscheinlichste Hypothese ist, dass er es mit Jordan Bardella zu tun haben wird. Bardella, der "junge General", so hat ihn Marine Le Pen mal beschrieben, der echte Chancen hat, Premierminister zu werden, und in diesem Fall wäre er der jüngste Premierminister in der Fünften Republik.

In nur wenigen Jahren hat sich das "enfant prodige" der extremen Rechten jenseits der Alpen auf die Bühne der französischen und internationalen Politik projiziert und mit 31,37 Prozent einen überwältigenden Sieg bei den letzten Europawahlen errungen.

Und wenn die Dinge so laufen, wie man in den politischen Kreisen vermutet, wird Macron gute Miene zum bösen Spiel machen müssen. Schließlich hat er es sich selbst zuzuschreiben. Er beabsichtigt auf jeden Fall nicht zurückzutreten. Das muss er auch nicht.

Macron und das kleinere Übel

Mit der Auflösung der Nationalversammlung hat er das Land praktisch dem rechten Flügel von Le Pen überlassen, einer Partei, die er immer kritisiert hat, nicht zuletzt wegen Le Pens Sympathie für Putin und der Finanzierung, manche nennen es Darlehen, die sie von einer russischen und einer ungarischen Bank in Höhe von insgesamt ca. 20 Millionen Euro zur Finanzierung des Präsidentschaftswahlkampfes 2022 erhalten hat.

Macrons Schritt, die Nationalversammlung aufzulösen, ist kein heroischer Versuch, seine Mehrheit zu retten, auch wenn er dafür mit der extremen Rechten koexistieren muss. Offensichtlich sieht Macron das Rassemblement National (RN) als das kleinere Übel im Vergleich zum möglichen Erstarken der radikalen Linken im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen 2027.

La France Insoumise isolieren

Das Risiko eines Misstrauensvotums im Herbst über den Finanzhaushalt und die Notwendigkeit eines politischen Neuanfangs nach der überwältigenden Niederlage bei der Europawahl ist sehr groß. Macrons Ziel war auch, La France Insoumise (LFI) zu isolieren.

Sie ist die einzige politische Kraft, die seit dem Aufstand der Banlieues im Juli 2023 die antirassistischen Kämpfe und die pro-palästinensische Bewegung ab dem 7. Oktober 2023 aktiv unterstützt hat. Dies ist die Analyse einiger politischer Forscher, die ihre Ideen in der französischen Zeitschrift Contretemps zum Ausdruck bringen.

"Für Europa und das deutsche-französische Verhältnis ist das nicht gut"

Auf die Frage von Telepolis, wie gefährlich ist die Entwicklung in Frankreich für Deutschland, antwortet Sabine Rau, Leiterin des ARD-Studios in Paris:

Wenn es zu einem klaren Wahlsieg des Rassemblement National bei diesen Parlamentswahlen kommt, dann stellen sich zentrale Fragen für Europa ganz neu. Bardella hat schon angekündigt, dass er die französischen Beiträge für die Europäische Union um zehn Prozent bis 15 Prozent kürzen will.

Das kann er natürlich nicht so ohne Weiteres, denn der Haushalt der EU ist bis 2027 schon beschlossen. Er will aber die Zahlungen von Frankreich an die EU kürzen, er lehnt den Asylpakt ab, er will den gemeinsamen Strommarkt aufkündigen.

Es geht um Verträge und Verabredungen, die er kündigen will, aber das kann er nicht im Alleingang machen. Noch ist der Präsident der Republik derjenige, der die Linien der französischen Außenpolitik bestimmt, aber eins ist vollkommen klar: Für Europa und das deutsche-französische Verhältnis ist das nicht gut.

Sabine Rau, Leiterin des ARD-Studios in Paris

Wenn das Programm des Rassemblement National mit dem des Front Populaire (die Linkskoalition, die derzeit 29 Prozent erreicht) in Bezug auf die Senkung des Renteneintrittsalters und die Aufhebung der von Macron angestrebten Rentenreform übereinstimmt, scheint Bardella bereits mit dem Medef (Mouvement des Entreprises de France – Arbeitgebervereinigung Frankreichs) vereinbart zu haben, das Thema nicht zu sehr zu forcieren.

Konvergenz von Neoliberalismus und Neofaschismus

Auf kontinentaler Ebene haben die Wahlen vom 9. Juni einen weiteren Schritt in der Konvergenz von Neoliberalismus und Neofaschismus definiert.

Die Annäherung zwischen dem Pol der Mitte und der extremen Rechten stellt nicht nur einen destabilisierenden Faktor für das europäische Regieren dar, sondern drängt auch auf eine Neudefinition des europäischen Integrationsprojekts, das auf den einzelnen souveränen Staaten und der synchronisierenden Funktion der Zentralbank beruht, die nicht ohne mögliche Reibungen auskommt.

Es lässt sich feststellen, dass der "Macronismus" nicht oder zumindest nicht immer funktioniert hat. Er ist keine Alternative, sondern die französische Variante der fortschreitenden Konvergenz zwischen Neoliberalen und Rechtsextremen. Die Strategie, die die "lepenische" Katastrophe aufhalten sollte, hat sich in Wirklichkeit als Beschleuniger der autoritären Deformation der Fünften Republik erwiesen.

Die Stimmung in Frankreich

In Frankreich ist die Stimmung unter der Bevölkerung sehr gemischt. Sabine Rau berichtet, dass es einige gibt, die Macron nicht mehr sehen können und sehr entschlossen sind, das Rassemblement National bei diesen Wahlen zu unterstützen. Es gibt aber auch Leute, die Angst davor haben, dass es zum ersten Mal in Frankreich die Rechtsextremen an die Macht kommen. Das Land ist tief gespalten.

Frankreich wird auch mit der Wahlenthaltung rechnen müssen, die in einem demokratischen, aber chaotischen System in Mode gekommen ist. Das gleiche Phänomen ist in Italien aufgetreten, wo fast die Hälfte der Wahlberechtigten nicht zur Wahl gegangen ist.

Ausgeklügelte politische Strategien, die sich erst in plötzlichen Entscheidungen manifestieren, lassen die Bürger oft ratlos zurück. Enttäuschung, Verzweiflung und Misstrauen fungieren als Wahlbremse bei den Bürgern und Bürgerinnen, die einfach nicht wissen, für wen sie stimmen sollen.

Tatsache ist, dass das Rassemblement National der absolute Favorit ist. Das sagen zumindest die meisten Umfragen. Marine Le Pen hat sich als sehr selbstbewusst und ziemlich kämpferisch gezeigt. Sie weiß wahrscheinlich, dass sie gewinnen kann. Wird in diesem Fall Macron ein stiller Zuschauer sein?