Frauen in Deutschland 2023 – das gesellschaftlich benachteiligte Geschlecht?

Seite 3: Doppelte Maßstäbe

Bislang ging es um die Frage: Wo nehmen Anhängerinnen des Gleichberechtigungsfeminismus zu Recht faktisch bestehende Benachteiligungen von Frauen wahr und wo nicht? Wir diskutierten nun die Vorstellung, das gegenwärtige Geschlechterverhältnis hätte ausschließlich für Frauen Nachteile.

Die gegenwärtig durchschnittlich 4,8 Jahre kürzere Lebenszeit von Männern in Deutschland (Gesterkamp 2023) bildet keine Kleinigkeit, wenn die Frage aufkommt nach den unterschiedlichen Lasten, die Frauen und Männer zu tragen haben. Die meisten Feministinnen klammern das aus.

Viele von ihnen fordern Quoten für Frauen z. B. im öffentlichen Dienst. Frauenquoten für Bereiche wie den Straßenbau, die Bauwirtschaft oder Berufskraftfahrer (Frauenanteil 2020 zwei Prozent) verlangen sie nicht.

Die höheren gesundheitlichen Risiken, denen Männer unterliegen, sind zum großen Teil nicht selbstgemacht, sondern hängen mit längeren Arbeitszeiten in der Erwerbsarbeit, gefährlicheren Arbeitsaufgaben und höherem Arbeitsstress zusammen (vgl. Brandes 2002, S. 227f.).

Regelmäßig entfallen über 90 Prozent der tödlichen Arbeitsunfälle in Deutschland auf Männer.

In den USA hat sich der weibliche Vorsprung (an Lebenserwartung – Verf.) seit dem Jahr 1900 vervierfacht: von damals zwei auf heute rund acht Jahre.

In Deutschland ist er nicht ganz so stark gewachsen, aber immer noch von knapp drei Jahren zum Zeitpunkt der Reichsgründung 1871 auf gegenwärtig annähernd sieben. Die Kluft ist also großenteils das Werk des 20. Jahrhunderts und hat insofern eher gesellschaftliche als natürliche Ursachen.

Traub 1997, 23

Gern skandalisieren Gleichstellungsfeministinnen das Verhalten solche Männer, die, obwohl sie nicht mehr Erwerbsarbeit leisten als ihre Frauen oder gar keine, im Haushalt keine Aktivität zeigen. Derartige Beispiele sollen als evidenter Beleg für eine pauschale Aussage über Männer dienen.

Dabei soll es durchaus vorkommen, dass Frauen ihre Männer ausnutzen. Feministinnen halten sich hier zurück, eine Verallgemeinerung vorzunehmen.

Feministinnen nahmen keinen Anstoß an der 2011 ausgesetzten (nicht: abgeschafften) Wehrpflicht für Männer und sahen in ihr keine geschlechtsspezifische Diskriminierung. Der Bremer Juraprofessor Felix Eckardt (2007, 138-141) hält die Wehrpflicht für nicht vereinbar mit dem Gleichberechtigungsgebot.

Der Anteil der Frauen an Hauptschulabschlüssen im Jahr 2016 betrug 40 Prozent. Der Anteil der jungen Frauen unter den Abiturienten lag 2021 bei 54,1 Prozent. 62 Prozent der Abiturienten, die 2017 einen Schnitt von 1,8 oder besser erzielten, waren Frauen (Müller 2021).

Feministinnen werten die gegenwärtig im Durchschnitt schlechteren Schulabschlüsse von Jungen nicht als Benachteiligung eines Geschlechts. Gleiches gilt für die Tatsache, dass Jungen bei gleichen schulischen Leistungen schlechtere Noten erhalten als Mädchen. (Vgl. dazu den dritten Band der "Internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung" (Iglu) von 2005 zum Leseverständnis von Viertklässlern. Vgl. a. die Ergebnisse einer Studie von Prof. Heike Diefenbach (2007, 104).)

Diejenigen selbstschädigenden Verhaltensstile und Mentalitäten, die eher bei Frauen zu beobachten sind, interpretieren Feministinnen als negative Folge der geschlechtsspezifischen Sozialisation.

Kommt die Rede allerdings auf die Tatsache, dass Männer sich bislang weniger um ihre Gesundheit kümmern, häufiger Suizid verüben sowie den übergroßen Anteil der Obdachlosen und Gefängnisinsassen stellen, entsteht (auch) bei Feministinnen auffällig schnell die Assoziation "selbst schuld".

Viele Feministinnen erachten die für Frauen nachteilige Sozialisation als ein Symptom einer Gesellschaft, die von der Herrschaft der Männer bestimmt sei. Die Sozialisation von Männern zur Härte gegen sich selbst sehen Feministinnen nicht als etwas an, das ihre Diagnose infrage stellt, die Männer seien das privilegierte Geschlecht.

Der Stellenwert, den die Teilnahme am Erwerbsleben hat

Unternehmen sind daran interessiert, alle Begabungen auszunutzen. Aus ihrer Perspektive erscheint die Zurückhaltung von Müttern mit jüngeren Kindern gegenüber der Erwerbstätigkeit als eine skandalöse Vergeudung von "Humankapital".

Gleichstellungsfeministinnen sehen das häufig ähnlich. Zu den Mühen, den entnervenden Wiederholungen und der Enge, die das Dasein als Mutter kleiner Kinder und als Hausfrau mit sich bringt, gibt es viele eindrucksvolle Erfahrungsberichte (vgl. z. B. Drust 2011, Maier 2008).

Dennoch sieht ein nicht unerheblicher Teil der Frauen in der Haus- und Erziehungsarbeit größere Freiheitsspielräume und eine höhere Befriedigung, als dies gegenwärtig in vielen Erwerbsarbeiten zu erwarten ist.

Das Umfeld kann gestaltet werden, äußerlich, akustisch. Pausen können individuell genommen und gestaltet werden. Solche Privilegien sind in Betriebshierarchien erst auf einer hohen Ebene möglich. Und ein Teil der zu leistenden Arbeit kann auch noch lustbetont sein: "die verspielten, verschmusten, verplemperten Nachmittage zusammen mit dem Kind" (Dilloo 1992).

In: Stach 1993, 268

Viele Frauen machen eine Gegenrechnung auf gegenüber all dem, was in der Marktwirtschaft als Erfolg und als prestigeträchtige Führungsposition gilt. Sie nehmen die "Kosten" der Selbstinstrumentalisierung und einer monokulturellen Erwerbstätigkeit wahr.

Gleichstellungsfeministinnen fokussieren sich demgegenüber nur auf die Verluste von Frauen, die sie als Mutter und Hausfrau im Vergleich zur Teilnahme an der Erwerbstätigkeit erleiden. Gleichstellungsfeministinnen fällt es enorm schwer, auch nur zu verstehen, warum viele Frauen im Rennen um die oberen Posten in der Hierarchie keine ganz persönliche "Herausforderung" sehen.