Freies Fleisch für freie Bürger

Christian Lindner. Foto: kschneider2991/pixabay license

Blond Blau Magenta: Lindner und die weißen Frauen - nach dem Parteitag versucht die FDP, sich selbst weniger im Weg zu stehen

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Freiheitliche Politik betrachtet die Gesellschaft nicht als moralische Besserungsanstalt. Sie nimmt hin, dass nicht alles politisch Wünschenswerte herbeigeplant und herbeiregiert werden kann, sie toleriert fremde Lebensentwürfe und Lebenswelten. Diesem Land fehlt nichts so sehr wie die integrierende Kraft eines gelassenen Liberalismus.

SZ, 27.04.2019

Knapp zwei Jahre nach ihrem Wiedereinzug in den deutschen Bundestag steckt die FDP im Dilemma. Eineinhalb Jahre hat sie gebraucht, um das von ihr verursachte Scheitern einer Jamaika-Koalition zu verarbeiten, das von Parteichef Christian Lindner gegen die Mehrheit der Partei von oben verordnet worden war.

Zwar hat auch die FDP bereits in ihren außerparlamentarischen Jahren 2013 - 2017 gemerkt, dass mit einseitig marktradikaler, Shareholder-orientierter und konzernfreundlicher Ausrichtung oder gar als Klientel-Partei der Rechtsanwälte und Zahnärzte politisch nichts mehr zu gewinnen ist. Ein politisches Programm, das sich in Steuersenkungen, Deregulieren und Privatisieren erschöpft funktioniert nicht in einer Wirklichkeit, in der die Risiken der Deregulierer am Ende von dem Steuerzahler gezahlt werden, der laut reiner Lehre keine Steuern mehr zahlen muss.

Sie hat begriffen, dass man heute Wirtschaft nicht mehr ohne Gesellschaft und ohne Politik machen kann. Doch immer wieder unterlaufen ihr schwere Kommunikationsfehler. So zuletzt, als die Parteiführung nicht in der Lage war, ihre im Prinzip sachlich plausiblen Antworten auf die "Fridays-for-future-Demos" in einleuchtende, nachvollziehbare politische Botschaften zu verwandeln.

Wo andere Parteien sich den arroganten Kindern des Bürgertums andienen, ihre Parolen nachplappern und betonen, wie viel sie heute wieder von den beseelten Jungen gelernt haben, stellte die FDP klar, dass Ernstnehmen kritisieren heißt, nicht nach dem Mund reden.

Ehrgeiz, Marketing und ...?

Anstatt nun aber als Partei wahrgenommen zu werden, die gegen Hypermoral für Verhältnismäßigkeit eintritt, und gegen Eingriffe eines ökologischen Terrorapparats die individuellen Freiheiten verteidigt, räsonierte Parteichef Lindner über Nebensächlichkeiten wie das Schulschwänzen und forderte, Sachfragen doch "den Profis" zu überlassen.

Nicht nur dass diese Betrachtungsweise Berufspolitiker schnell überflüssig machen könnte - ohne es zu wissen begab sich Lindner hier auch in argumentative Nähe zum italienischen Faschistenführer Benito Mussolini, der bereits in den 1920er Jahren für "Fachleute statt Politiker" eintrat und von einer "Politik der Ingenieure" geschwärmt hatte. Mit alldem war plötzlich auch der alte Vorwurf der "sozialen Kälte" wieder da.

Nur ein Beispiel für das Hauptproblem: Die FDP hat es nicht leicht, im vielstimmigen Konzert der Parteien gehört zu werden. Darum wird sie schon mal lauter und zugespitzter auf die Gefahr hin, dass die gedankliche Prägnanz verloren geht. Oder sie krakeelt gleich drauflos, wie die Ex-Generalsekretärin und Europa-Spitzenkandidatin Nicola ("gewählt ist gewählt") Beer. Die wendet ihren Ehrgeiz vor allem auf die eigene Karriere an, und bleibt inhaltlich im Vagen.

Es kommt auch nicht gut, wenn man in Reden fordert: "Europa muss raus aus der Komfortzone", sich selbst aber einen Platz im FDP als komfortablen Backup-Posten herbeimobbt. Beim Parteitag am vergangenen Wochenende wurde der "Problem-Beer" (Der Spiegel) dann folgerichtig von der eigenen Partei angeschossen.

Zwar ist die FDP gut im Marketing. In Punkto Design, PR und Werbung ist sie vielleicht die moderne Partei. Als einzige Bundestagspartei organisiert die FDP ihre Wahlkämpfe zentral. So wird den Landesverbänden ein eigenes Design verboten und die Plakate auch für regionale Wahlkämpfe vorgeschrieben - da greifen die Liberalen zu jenen "illiberalen" Lenkungsmitteln ("Regulierung"), die sie sonst als Teufelswerk verdammen.

Aber: Die FDP ist nicht gut genug darin, sich unterscheidbar zu machen, und politische Alleinstellungsmerkmale zu entwickeln.

Wo sind die politischen Alleinstellungsmerkmale?

Dabei könnte es doch so einfach sein. Die FDP könnte und müsste sich gelassener und fröhlicher geben als die Grünen. Es war auffällig, wie sehr die Grünen de facto zum Hauptgegner der FDP geworden sind, weil man ganz offensichtlich im gleichen Milieu, der gleichen Bildungsschicht, der gleichen Mentalität um Anhänger wildert.

Bei näherem Hinsehen gibt es viele Gemeinsamkeiten: Mag man sich vielleicht noch über die Bankenrettungen streiten und übers bedingungslose Grundeinkommen (das die FDP mal ebenso erfunden hat wie die Umweltpolitik), so schätzt man doch gemeinsam Wind- und Sonnenkraft, sowie das humanistische Gymnasium, ächtet antibiotikaverseuchte Hühner und höhere Erbschaftsteuern. Dass die Wähler der Grünen sich Sorgen darum machen, ob das Verbrauchsniveau moderner Gesellschaften vielleicht üble Folgen für die Welt hat, hindert sie nicht daran mehr Rohstoffe zu verbrauchen, als alle anderen Wählerschichten - außer jenen der FDP.

Statt AfD, statt CDUSPD, statt Linke zu bekämpfen, setzen sich die Rechtsliberalen in fast jeder Parteitagsrede immer lang und breit mit den linksliberalen Grünen auseinander, statt zu erkennen, dass die Grünen ihre heimlichen Verbündeten sind. Wäre die FDP nicht nur neidisch auf grüne Erfolge, könnte sie gerade von den Grünen lernen, wie man durch eine Strategie des Kopierens und Umarmens politische Erfolge einfährt.

Noch leichter wäre es, deutlich zu machen, dass die FDP die Mehrheit des heutigen Bürgertum in seiner kosmopolitischen, weltoffenen Ausrichtung stärker repräsentiert, als die Angst getriebene, aufs Sichern des Bestehenden ausgerichtete Union, die oft genug nur kleinbürgerlich und spießig verengt argumentiert.

Die FDP könnte und müsste das Progressive des Bürgertums repräsentieren, wo die Union zu sehr im Traditionellen, in der Sozialmoral der Katholiken verharrt, die das Recht auf Abtreibung klammheimlich verdammt, wissenschaftsskeptisch ist, Windräder und Sonnenkollektoren nur wollen, wenn sie nicht im eigenen Dorf stehen, für die Anstand, Vorschriften und "Sicherheit" Fetische sind, Freiheit, Bürgerrechte und Veränderung dagegen zu sehr nach Bedrohung des Hergebrachten klingen.

Tatsächlich ist die FDP mindestens so sehr wie die Grünen die Partei jener "globalen Elite", gegen die die Demagogen und Brunnenvergifter ins Feld ziehen.

Die FDP könnte und müsste sich auch gegen die Wutbürger, die Lügner und Hetzer von AfD und PEGIDA stellen, gegen all die nicht satisfaktionsfähigen Wurmfortsätze des Völkischen, die von einem rachegetriebenen Ex-CDUler und einer Bank-Managerin mit Schweizer Wohnsitz und Geldgebern geführt und von den Neonazis in den Partei-Ecken angetrieben werden.

Man lernt die FDP schätzen auf diesem Parteitag. Besser Yuppies als das "Pack" (Sigmar Gabriel). Und ohne Frage ist es besser, von der FDP noch weitere 50 Jahre regiert zu werden, als von der AfD auch nur ein Jahr lang.

Was heißt es, Partei der Freiheit zu sein?

Die FDP könnte jung und bunt und frei sein. Stattdessen bringen sie die Jungen gegen sich auf. Stattdessen scheint sie außerstande eine schlüssige politische Dimension von Freiheit zu formulieren, die über die reine Marktfreiheit hinausgeht und von Liberalismus, wenn man darunter mehr versteht als Steuersenkungen.

Aber was heißt denn Liberalismus? Partei der Freiheit. Der Freiheit des Einzelnen. Der Freiheit von Eingriffen möglichst aller Art, wie zur Selbstbestimmung in möglichst jeder Hinsicht. Gegenüber der Macht von Staat und Wirtschaft. Aber auch gegenüber Kollektiven und Gemeinschaften und Identitäten aller Art: Heimat, Herkunft, Partei, Ethnie, Geschlecht, Religion, etc.

Der Liberalismus kennt Bindungen, aber nur selbstgewählte. Freiheit heute heißt wie eh und je Selbstbestimmung. Eine Partei der Freiheit hätte also zunächst Räume der Selbstbestimmung des Einzelnen zu sichern, in einer Gegenwart, in der Handlungsfreiheiten, aber auch Meinungsfreiheiten zunehmend unter Druck geraten.

Sie geraten erst recht in Europa unter Druck. Liberalismus, libertäre Freiheitlichkeit sind der Gegensatz zu jener antiliberalen Mehrheitsherrschaft, die autoritär ist, aber sich als "demokratisch" maskiert und damit populär wird.

Eine Partei der Freiheit müsste sich für Bildung einsetzen, um es überhaupt erst zu ermöglichen, dass aus "Wilden" (John Stuart Mill) "Mündige" (Immanuel Kant) werden. Denn erst Bildung macht jene Horizonterweiterung möglich, die auch nicht wenige Wähler dringend benötigen, und stiftet Sicherheit in Zeiten des Wandels. Es ist bezeichnend, dass SPD-Finanzminister Olaf Scholz überall Ausgaben steigert, aber genau einen einzigen Etat kürzt: Den für Bildung und Forschung.

Christian Lindner hat Recht, wenn er den Fortschrittspessimisten der Ökologiebewegung, der Anti-Atombewegung, den Erderwärmungspessimisten entgegenhält: "Die angeblichen Grenzen des Wachstums sind immer wieder überwunden durch Schaffenskraft und Erfindergeist der Menschen."

Eine Partei der Freiheit muss immun sein gegen Pessimismus und Panik. Sie muss gegen den ökologischen Autoritarismus individuelle Selbstentfaltung sichern, Flexibilität und Entscheidungsspielräume ausbauen. Eine Partei der Freiheit muss dem Gesinnungsterror aller Art entgegentreten: Wenn die #MeToo-Freak-Bloggerin Margarethe Stokowski im Spiegel fordert, den Verzehr von Spargel ("der alte weiße Mann der Kulinarik") zu ächten, dann kann man es noch als Kuriosität abtun, aber es ist doch bezeichnend für den Zeitgeist.

Eine Partei der Freiheit könnte gegen jede Art der Regulierung des Privatlebens eintreten und dabei verirrte Piratenwähler ebenso einsammeln, wie Bürgerrechtler, die bei den Grünen nicht genug zum Zuge kommen - erinnern wir uns: Nichts hat den Grünen in den vergangenen Jahren so sehr geschadet, wie die Forderung nach dem Veggie-Day.

In einem Land, in dem kaum 2 Prozent der Bevölkerung Veganer sind, und nur ca. 10 Prozent behaupten, sich vegetarisch zu ernähren, wird man auch zur Rettung der Welt das von den Greta-Kids geforderte gesetzliche Fleischverbot so wenig durchsetzen wie den Verzicht aufs Fliegen. Das FDP-Motto könnte lauten: "Freies Fleisch für freie Bürger!"

In einer Gesellschaft des grassierenden Pessimismus und der Fortschrittsfeindlichkeit hätte eine Partei der Freiheit die Partei des Mutes zu sein, der Zuversicht, der Offenheit. Eine Partei des Vertrauens in den einzelnen Menschen.

Female Fantasies

Es fehlt der FDP für all das aber derzeit das glaubwürdige Personal. Und sie will zu sehr erkennbar die Macht. "So wie Lindner sie geformt hat, ist die Partei zwar von der Vorstellung, um fast jeden Preis regieren zu müssen, kuriert. ... Ziel und Zweck der Politik aber bleibt für die Liberalen letztlich das Mitregieren." (SZ, 26.04.2019)

Am ersten Punkt hat man angesetzt. Die eher lästige Nicola Beer wird nach Europa abgeschoben. Stattdessen werden andere junge FDP-Frauen sichtbar, so sichtbar, dass man fast den Eindruck haben könnte, die FDP sei eine Partei der Frauen: FDP-Generalsekretärin Linda Teuteberg, Juli-Chefin Ria Schröder, die Bremer Spitzenkandidatin Lencke Steiner, die Hamburger Vorsitzende Katja Suding.

Vor allem Linda Teuteberg - "charmant, kreativ, intelligent, lernfähig" so Wolfgang Kubicki - verdient Beachtung. "Liberalismus gehört ins Feuilleton und auch ins Bierzelt" erklärte sie noch vor dem Parteitag im Interview mit der Welt - wobei man sich bei Teutebergs Anblick fragt, wie viele Stunden sie wohl schon im Bierzelt zugebracht hat? Aber das Bild stimmt. Wer Teuteberg in Berlin erlebte, wie sie die beiden Parteiheiligen Ralf Dahrendorf und Karl Hermann Flach zitierte, konnte tatsächlich den Eindruck haben: Das könnte die Angela Merkel der FDP werden.

Anders im Ton, abwägender in der Aussage zeigte sie schon in ihren ersten Interviews eine große Gewandtheit darin, sich in vielem nicht festzulegen und trotzdem Aussagen klar zu platzieren. Man müsse die Dinge erst sehr gründlich durchdenken, sie dann aber verständlich zuzuspitzen und so hörbar wie möglich in Debatten einzubringen. "Ich halte nichts von diesen künstlichen Gegensätzen. Sekretär oder General, Säbel oder Florett, Programmatik entwickeln oder hörbare Stimme der FDP sein: Das zählt alles zur Aufgabe einer Generalsekretärin."

Die interessanteste Debatte des FDP-Parteitags war jene über die parteiinterne Repräsentation von Frauen. Die FDP legte dabei großen Wert darauf, dass nicht von einer "Frauenquote" die Rede war, sondern von einer Zielvereinbarung. Verstanden wurde es trotzdem anders. Entscheidend ist diese Wirkung. Und gerade die FDP-Frauen redeten dagegen, spotteten über die "female fantasies unserer Bundespartei".

Dabei hat die Frauen-Quote auch den Grünen nicht geholfen - der Anteil weiblicher Mitglieder liegt dort bei knapp 40 Prozent.

Kann nicht eine Partei mal konsequent gegen Quoten sein?

Man fragt sich: Kann nicht wenigstens eine Partei mal konsequent gegen Quoten sein? Sich gegen den antiliberalen Zeitgeist stellen? Sogar FDP-Mitglieder wettern gegen die Bundespartei: "Was macht ihr denn da jetzt? Lasst doch den Blödsinn. Steht doch zu euren Grundsätzen." Die in Berlin gelegentlich gestellte Frage "Werden wir jetzt die neuen Grünen?" ist trotzdem falsch. Denn was wäre denn für die FDP so blöd daran, die neuen Grünen zu werden?

Um es noch mal zu sagen: Gerade wenn die FDP beginnen würde sich über sich selbst und über die Grundprinzipien des Liberalismus zu definieren, würden sie erkennen, dass die Grünen ihre Verbündeten sind. Sie würden von den Grünen lernen, auch diese inhaltlich zu umarmen und zu kopieren.

Einstweilen aber steht die FDP sich selbst im Weg. Und die jungen Frauen begreifen es. Sie werden sich ihre Position erkämpfen und den FDP-Kurs langsam, aber konsequent verändern. Bei Lindner wird es um einiges länger dauern, das auch zu begreifen, als bei Kubicki, der stärker in sich ruht und mit selbstbewussten Frauen erkennbar kein Problem hat. Die nassforsche Art, das zu Schnelle, Spätpubertäre von Bambi Lindner ist es, die ihm jetzt, da er sichtbar älter wird, zunehmend Probleme bereitet.

Eine Partei der Freiheit muss in einer Gesellschaft der Unsicherheit und des neuen Puritanismus die Partei der Selbstverwirklichung sein und des "neuen Hedonismus" (Oscar Wilde).

Wenn Christian Lindner dazu nur der Satz einfällt: "Selbstverwirklichung, ökologische Sensibilität und soziale Absicherung, die haben Voraussetzungen. Wirtschaftliche Voraussetzungen", dann klingt er wie ein Bauchredner der alten FDP.

Die jungen Frauen werden ihn eines Besseren belehren.