Freude, schöner Götterfunken?

Seite 4: Angela Merkels Rückgriff auf eine "Politik der Schönheit"

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Von einem Autor wie Erich Fromm war und ist zu lernen, dass ein überzeugender Antikapitalismus vor allem in der Biophilie - in der Liebe zum Leben und der Freude am Lebendigen - wurzelt. Wer die Kraftlosigkeit einer weithin noch in den herrschenden ökonomistischen Denkstrukturen verbliebenen Linken verstehen möchte, tut gut daran, auch Defizite auf dem Feld der antikapitalistischen Biophilie und Ästhetik zu sichten.

Um hier nicht in einen ausschweifenden Exkurs zu gelangen, versuche ich das von mir Gemeinte mit einem klugen Satz auf den Punkt zu bringen: Die überaus wertvolle Erkenntnis, dass die Basis der ökonomischen Verhältnisse stets den geistigen bzw. kulturellen Überbau einer Gesellschaft bestimmt, bleibt nur hilfreich, solange wir uns anschicken, in möglichst vielen Bereichen immer auch das Gegenteil zu denken, zu erfahren und zu leben. Es ist Zeit, die Frage nach "politischen Subjekten", die sich nicht so leicht korrumpieren lassen, und die Suche nach gedeihlichen Biotopen für einen von Lebensfreude bewegten politischen Widerstand ganz oben auf die Themenliste zu setzen.

Ein außerordentliches Phänomen der Gegenwart ist der Umstand, dass mit Kanzlerin Angela Merkel gerade eine Spitzenpolitikerin des bürgerlichen Lagers Signale in Richtung einer "Politik der Schönheit" aussendet. Ich maße mir keine sachgerechte Deutung dieser Sache an, denn ich habe weder ein Gespräch mit der Bundeskanzlerin geführt, noch verfüge ich über die Gabe, auf der Grundlage von Mediendarbietungen in das Herz eines anderen Menschen zu schauen. Einstweilen hat unsereins Eindrücke, mehr nicht, und projiziert vielleicht Wunschbilder.

Das repressive Regime, das die Große Koalition und einige grüne Helfershelfer zeitgleich in der Flüchtlingspolitik durchgesetzt haben, muss jedem Interpreten der gewandelten Regierungschefin großes Kopfzerbrechen bereiten. (Die Hypothese einer Rollenverteilung "good guy - bad guy" halte ich allerdings noch nicht für überzeugend.)

Lassen wir hier die Frage völlig außer Acht, ob Angela Merkel nur von strategischen oder auch von wertegebundenen vielleicht spezifisch christlichen - Überlegungen ausgeht und ob die gegen sie gerichtete Kritik an einer fehlenden gesamt-europäischen Perspektive berechtigt ist. Gewiss erscheint mir, dass es angesichts der "wirklichen Wirklichkeit" allein aus pragmatischen Gründen gar keine Alternative zum grundlegenden Rückgriff auf eine "Politik der Schönheit" gab und gibt. Das Ausmaß des Elends ist einfach zu groß, als das man sich auf Angstsignale und Kleinmut verlegen dürfte.

Die Strategie eines Aufbruchs zur Menschlichkeit war - einen innerparteilichen Konsens vorausgesetzt - erfolgversprechend und hätte der CDU sogar Wählerstimmen zuführen können. Die in aktuellen Erhebungen verzeichneten Einbußen an Zustimmung gehen aus meiner Sicht in erster Linie auf das Konto der Angstmache von Merkels Widersachern in der Union. Ein mir bekannter CDU-Bürgermeister, der sich im Übrigen schon seit vielen Jahren in "seiner" Stadt für Flüchtlinge einsetzt, teilt diese Einschätzung.

Bedeutsam bleibt aus einer nach innen gerichteten Perspektive, wie viele Menschen im Land allüberall Hilfsbereitschaft zeigen und Solidarität praktizieren. Ist dies nicht auch ein Protest gegen die Religion des Neoliberalismus, die uns mit ihren Botschaften und ökonomischen Druckmitteln zur Hässlichkeit im Zwischenmenschlichen verführen oder gar zwingen will? Sollte man sich da nicht staunend mit Bertolt Brecht auf die Suche begeben?

Den Mitmenschen zu treten / ist es nicht anstrengend? Die Stirnader / schwillt ihnen an, vor Mühe gierig zu sein. / Natürlich ausgestreckt / gibt eine Hand und empfängt mit gleicher / Leichtigkeit. Nur / gierig zupackend muss sie / sich anstrengen. / Ach, welche Verführung zu schenken! Wie angenehm / ist es doch, freundlich zu sein! Ein / gutes Wort / entschlüpft wie ein wohliger Seufzer.

Bertolt Brecht: Der gute Mensch von Sezuan

Eine "Politik der Schönheit" zielt auf die Schönheit der miteinander geteilten Bedürftigkeit und auf Strukturen, die Auswege aus der Programmierung zur Hässlichkeit eröffnen. Fragen der sozialen Gerechtigkeit und Fragen der solidarischen Flüchtlingspolitik gehören deshalb zu einem einzigen politischen Komplex. Wer sie auch nur im Ansatz gegeneinander ausspielt, wie heuchlerisch verpackt auch immer, der kann kein Verbündeter sein bei einem Projekt, das der Schönheit neue Wege bahnt.

Selbstredend, die Lösung der anstehenden Herausforderungen hat realpolitisch und verfassungskonform zu erfolgen: "Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen." (Grundgesetz Artikel 14 Absatz 2) Die rational nicht mehr begreifbare Schieflage der Reichtumsverteilung und die Erfordernisse der öffentlichen Haushalte sind bekannt. Irgendwann muss man bezogen auf Vermögen, die von den Besitzenden auch bei ultimativem "Wohlleben" und einer Lebenserwartung von womöglich 500 oder viel mehr Jahren nicht aufgebraucht werden können, wohl doch ein Verfahren zur Anwendung bringen, das dem Grundgesetz entspricht.

Der nächste Finanzcrash kommt bestimmt, und dann gibt es keine zukünftige Generation mehr, die so schuldenfrei wäre, dass sie für die Betreiber der Geldvermehrungsmaschine und eine willfährige Politik die Zeche bezahlen kann. So langsam könnte es den Programm-Machern der großen Parteien eigentlich dämmern, dass eine Festlegung auf die bekannten prokapitalistischen Paradigmen nicht mehr zukunftsträchtig ist.

Dann wäre da noch die Sache mit den Lebensbedingungen für die Nachgeborenen auf unserer Erde, eine Sache mit Dringlichkeit, die für uns Sterbliche und auch für Europa ein paar Nummern zu groß zu sein scheint. Es freute sich einst ein Matthias Claudius (1740-1815) mit kindlichem Stolz, ein "menschlich Antlitz" zu tragen (Gedicht: "Täglich zu singen"). Die Zyniker der Gegenwart meinen hingegen schon in jungen Jahren, die Spezies homo sapiens sei eine Viruskrankheit des Planeten und die gehe gewiss vorüber.

Noch mehr Kleingeister an die Front, dann kann man die Sache bewahrheiten und beschleunigen. Man denke etwa an den deutschen Kurienkardinal Gerhard Ludwig Müller, der ganz andere Schauplätze des zivilisatorischen Nachdenkens bevorzugt als sein Chef. G.L. Müller wird z.B. getrieben von einer panischen Angst, Papst Franziskus könne Getaufte trotz Scheidung und neuer Heirat leichtfertig zur Kommunion einladen. Der Mann ist auch so ein großer Abendländer, der ernste Sorgen hat und Europa, ja die ganze Welt retten will.