Freude, schöner Götterfunken?

Seite 2: "Alle Menschen werden Brüder"

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Die dargebotene Liste ist selbstredend als Auswahl zu lesen. Vielleicht kommt es wirklich dazu, dass "Beethovens Neunte" als offizielle Europa-Hymne noch zu unseren Lebzeiten ausgedient haben wird. Spätestens dann werden wir wissen, wie viel Hässlichkeit in näherer Zukunft noch möglich ist - "Konzentrationslager"-Streifen ("Transitzonen" und die Vorstellung einer "gated nation") an den Grenzen der Wohlstandsverteidiger inklusive.

Schillers Gedicht An die Freude, welches die Komposition der Europa-Hymne inspiriert hat, kreist freilich ganz um die Schönheit und um magische Kraftquellen, die die durch schlechte Kulturübung ("Mode") getrennten Menschen wieder zusammenführen (im englischen Text sind die "Zauber" mit "magic powers" übersetzt).

In der frühesten Fassung von 1785 werden auf diese Weise Bettler zu Fürstenbrüdern, so dass also im Raum der Freude die Aufhebung von Standes- und Klassengrenzen vorweggenommen wird. Die Verheißung jener Verse, die Beethoven dann auch seiner Musik zugrunde gelegt hat, fällt noch weitaus anspruchsvoller aus - nämlich universell: "Alle Menschen werden Brüder."

So wenig nun in Artikel 1 unserer Verfassung von "deutschen Menschen" die Rede ist, so wenig transportiert die Europa-Hymne die ausschließende Parole "Alle Europäer werden Brüder" (gemeint: Geschwister). Um die "Brüderlichkeit" innerhalb Europas war es freilich schon vor der gegenwärtigen Humanitätsdefizit-Krise der europäischen Politik auf Kosten von Flüchtlingen nicht gut bestellt. Wo sollen da jetzt im Handumdrehen die Potenzen einer länderübergreifenden, gar universellen Geschwisterlichkeit herkommen?

So ist das mit "universellen Werten", die man nur in Sonntagsreden beschwört, während man die eigene entwicklungspolitische Programmatik in Koalitionsverhandlungen mal so eben zwischen zwei Kaffeepausen preisgibt, das universelle Menschenrecht auf Nahrung lediglich als eine Theorie betrachtet, Kriegs- und Menschenrechtsverbrechen allein nach Nützlichkeitsgesichtspunkten von Fall zu Fall beklagt, den Bettlerstatus der UNO achselzuckend zur Kenntnis nimmt ...

Ein Diskurs über "ethische Grundprinzipien" unter den Vorzeichen von Aufklärung und Vernunft wird stets zu loben sein. Doch gibt es so etwas wie eine Menschenwürde oder überhaupt "universelle Werte", die lediglich abstrakt in Urkunden verankert sind, aber nicht als etwas "Evidentes" im leibhaftigen Leben der Menschen und der Gesellschaften?

Schillers "Zauberbande" können nicht in einem geschichtslosen Raum geknüpft werden, sondern nur im Kontext von Überlieferungsvorgängen, Kommunikationsgemeinschaften und Werterfahrungen. Da hatten die wirklichen Konservativen, die es heute nicht mehr gibt, Recht. Gleiches gilt für die Immunisierung gegenüber Ideologien und Praktiken der Menschenverachtung. Nicht zuletzt geht es in diesen Zusammenhängen um kulturelle und ästhetische Phänomene, also auch um eine Frage der Schönheit.

Bei der Suche nach förderlichen Traditionen und universellen Unterscheidungskriterien darf durchaus in Jahrtausenden gedacht werden:

  1. Lange vor den neuzeitlichen Humanisten und liberalen Kosmopoliten haben schon Philosophen der Antike über ein "Weltbürgerrecht" nachgesonnen.
  2. In der hebräischen Bibel geht es selbstredend um die eine Menschheit, so dass jede nationalreligiöse Ideologisierung nur als Missbrauch bezeichnet werden kann. Das Recht der Fremden bzw. Zuwanderer ist förmlich als Gottesrecht festgeschrieben, und seine Beachtung wird bezeichnenderweise im gleichen Kontext eingeklagt wie die Beachtung des Rechts der wirtschaftlich Benachteiligten aus dem Kreis der Alteingesessenen.
  3. Für Christen, sofern sie am Ökumenischen Weltrat der Kirchen oder der römisch-katholischen Weltkirche ausgerichtet sind, ist das Bekenntnis zur Einheit der Menschheit11 auf dem ganzen Erdkreis konstitutiv. (Ob dies schon bei allen bayerischen, kroatischen oder polnischen Rechtskatholiken angekommen ist und wie National-"Christentümer" jeglicher Schattierung das Bekenntnis "One Human Family" leugnen, dergleichen Fragen stehen auf einem anderen Blatt.)
  4. In der koranischen Tradition sind das Lebensrecht jedes Menschen und die Achtung der gesamten Menschheit untrennbar miteinander verbunden. Die Abschiedsrede des Propheten Mohammed kommt der Sache nach zudem einer Exkommunikation aller Rassisten gleich. (Die aggressivsten Attacken wider Ethos und Ästhetik der islamischen Tradition gehen auf das Konto des von westlichen Regierungen gestützten arabischen Öl-Feudalismus und der von dessen Staatsreligion abgeleiteten Terrorkomplexe eines sogenannten "Islamischen Staates".)
  5. Die buddhistische Philosophie, wie sie wohl am wirkungsvollsten vom Dalai Lama vorgetragen wird, geht von der Gleichheit und empathischen Begabung aller Menschen aus. Im Wesentlichen gelten nationale, kulturelle oder religiöse Schranken letztlich als gegenstandslos.
  6. Jeder Sozialist, so er denn diesen Namen verdient, wird sich einem internationalistischen - universellen - Ethos verpflichtet fühlen. ("Nationalbolschewistische" Ambitionen, die im "Querfront"-Milieu der Gegenwart durchaus wieder Konjunktur haben und wie ehedem zwangsläufig immer im Rechtsradikalismus enden, haben mit "Sozialismus" selbstredend nichts zu tun. Siehe Jürgen Elsässer. Punkt.)

Das Leben, Lieben, Lernen, Arbeiten, Nachdenken, Reisen, Schreiben, Kommunizieren und ungezählte andere Vollzüge oder Erfahrungen einer jüngeren Generation stehen schon lange im Horizont von "Globalisierung". Es steht zu erwarten, dass diese Generation ihre Visionen einer globalisierten Weltgesellschaft als Kommunikationsgemeinschaft von Verschiedenen und neue philosophische Impulse für ein Verständnis des universellen Menschenrechts noch nachdrücklicher im öffentlichen Raum vorträgt als bislang.

"Die Anderen", was soll das für eine Kategorie sein? "Der Andere", das sind immer wir selbst, wie man es auch drehen oder umdrehen will. Denn ein Mensch zu sein, das bedeutet immer auch: "anders zu sein".

Meinen persönlichen Zugang zu einem universellen Ethos möchte ich hier nur andeuten. Grundlegend erscheint es mir, dass besondere Vorzüge, nützliche Eigenschaften und "Leistungserbringungen" - seien sie ökonomisch oder immateriell (z.B. intellektuell, kulturell oder moralisch) - die Würde eines Menschen nie begründen können. Im Gegenteil, jeder Versuch, der in diese Richtung geht, kann nur in dem münden, was wir in Ermangelung eines besseren Begriffs einstweilen noch immer als "Barbarei" bezeichnen.

Aus meiner Sicht erschließt nur die allen Menschen gemeinsame und doch wiederum zutiefst individuelle Bedürftigkeit einen Zugang zur unantastbaren Würde. (Im Bereich des Ethischen ist hierbei z.B. keineswegs eine - möglicherweise ja gar nicht entwickelte - Liebesfähigkeit der maßgebliche "Bezugspunkt", sondern die ausnahmslos allen gemeinsame Liebesbedürftigkeit.)

Erst auf dieser Grundlage ist auch zu sprechen von der nach meinem Dafürhalten konstitutiven und wunderbaren Befähigung bzw. Berufung jedes Menschen, die allen gemeinsame Bedürftigkeit miteinander zu teilen - sei es im Bereich des Leiblichen, Seelischen, Geistigen oder der materiellen Güter. Indessen betreten wir hier schon den in "ethischen" Kategorien nicht mehr hinreichend kommunizierbaren Raum der Freude und des Schönen, womit wir wieder bei Friedrich Schiller bzw. der Europa-Hymne angelangt wären.

Zu den ethischen Konsequenzen eines solchen Verständnisses der Menschenwürde gehört es, dass die Konstruktion von unantastbaren sozialen oder ökonomischen Privilegien irgend eines Kollektivs - etwa unter Verweis auf "Verdienste" vergangener oder gegenwärtiger Generationen einer Region, Nation etc. - auf überzeugende Weise nicht mehr gelingen kann, wenn dies andere von den Bedingungen eines menschenwürdigen Lebens ausschließt. Maßgeblicher Bezugspunkt ist ja eben die Bedürftigkeit jedes Menschen.