Freude, schöner Götterfunken?

Seite 3: Die Religion des "Neoliberalismus" als endgültiger Verrat an der Schönheit

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Wer im Kreise von jungen Leuten, die ohne Wider-Wort im Neoliberalismus sozialisiert worden sind, heute eine Vision "Alle Menschen werden Brüder" anklingen lässt, riskiert wohl in manchen Fällen herben Spott: "Wir sind hier doch nicht in der Kirche!" Womöglich könnte man auf Schiller verweisen und dem Gegenüber vorhalten, dass er oder sie die Weisheit wohl aus der "Kirche der Neoliberalismus" bezieht.

Da unterschätzt man freilich oft das Selbstbewusstsein des Gesprächspartners, denn dieser ist - ohne Kirche, Schiller und dergleichen - natürlich vollständig ideologiefrei, steht jenseits von rechts und links und weiß auch (bis auf weiteres), dass man sich in einer "Ich-AG" über die menschliche Bedürftigkeit den Kopf nicht zu zerbrechen braucht. Karriere macht überdies nur, wer sich bei der Lektüre ganz gezielt auf "nützliche Sachen" konzentriert. Da wäre natürlich noch der Tod, aber der trifft immer nur die anderen, und in zwanzig Jahren kann man sich ohnehin ein Gen für ewiges Leben kaufen, so der Kontostand stimmt.

Die Religion des Neoliberalismus ist wohl keine genuin "alteuropäische" Erfindung, aber das bleibt eigentlich ein nebensächlicher Aspekt. Erstaunlich ist, mit welcher Bereitwilligkeit das schöngeistige Bürgertum die ökonomistische Verformung auch von Schulwesen, Universität und Kulturgefüge hingenommen hat. Im neunten Schuljahr hatte mein ältestes Patenkind (Jg. 1987) schon eine "Performance" in der Sparte "Marketing" zu absolvieren. Unsereins (Jg. 1961) darf von vielen Studierenden der Gegenwart beneidet werden. Man hat uns an der Universität noch zweckfreies Denken erlaubt und den Atemraum dafür als etwas überaus Notwendiges erachtet.

Die Veranstalter einer Berliner Konferenz "Europa eine Seele geben" vom 26./27. November 2004 konstatierten: "Kultur ist ein Grundbaustein Europas. Doch in der Politik der EU ist Kultur nur eine Randerscheinung." Ein Jahrzehnt später hat scheinbar immer noch keiner dem Projekt Europa "eine Seele eingehaucht".

Vor wenigen Tagen berichtete mir der Mitarbeiter eines Bildungswerkes von einer sogenannten Qualitätskontrolle bei seinem Arbeitgeber. Die externen Gutachter hatten sämtliche Abrechnungsmodalitäten und Wirtschaftsdaten unter die Lupe genommen. Von Bildungskonzepten und Inhalten des Akademieprogramms wollten sie rein gar nichts wissen. Wohl gemerkt, es handelte sich um eine Bildungs-"Zertifizierung", nicht etwa um eine Wirtschaftsprüfung.

All die zahlreichen Opfer der Ökonomisierung des Kulturellen mussten die Bildungsbürger des "Abendlandes" schon erbringen und sich obendrein einfügen in ein inflationäres Kompetenzgerede mit Formalismus, Phrasen und Blödsinn ohne Ende. Im Zweifelsfall "pro Wirtschaft", was immer es auch kostet. Die Leser sollen hier meinen Zorn spüren. Wenn ich als ehemaliger Krankenpfleger über jene Hässlichkeiten und Absurditäten spreche, die der neoliberalistische Wahn etwa in unseren Krankenhäuser zur Tagesordnung gemacht hat, kann ich noch ganz anders ...

Die politische Leitkultur Europas bezieht sich nunmehr auf eine "marktkonforme Demokratie". Die dunklen Schatten der bürgerlichen Revolution - der Aberglaube an eine heilsame Wirkung von Gewalt (Militär) und die Heiligsprechung jeglichen Anspruchs auf Privateigentum unabhängig vom Gütergebrauch - werden getreu gepflegt.

Doch wo wäre die Gedächtniskultur, die radikaldemokratische Pioniere des Bürgertums in Erinnerung ruft und vermittelt, dass eine Republik nicht vom Himmel fällt, sondern - gegebenenfalls mit stolzem Selbstbewusstsein oder gar unter Opfern - errungen wird? Neuerdings streichen die abendländischen Hassprediger das Hinrichtungskreuz des Orientalen Jesus von Nazareth "schwarz-rot-gold" an. So hätten wir denn ein Bürgerlied der neuen, ganz anderen Art.