Frieden trotz Aggression: Historische Lektionen

Friedensverhandlungen jenseits der Konfliktlinien: Geschichte bietet unkonventionelle Lösungen. Die dritte Seite zählt. (Teil 2 und Schluss).

Nachdem der erste Teil der zweiteiligen Artikelserie sich mit einigen Techniken der Verhandlungsführung beschäftigt hat, insbesondere denjenigen, die William Ury im Laufe seiner 40-jährigen Praxis als Vermittler gewonnen und in seinem lesenswerten Buch Possible. Wie wir in einem Zeitalter des Konflikts überleben (und gedeihen) dargestellt hat, stehen hier nun Beispiele aus der Geschichte erfolgreicher Friedensverhandlungen im Mittelpunkt.

Grundsätzliche Bedenken

Sobald kurz nach Russlands Angriff auf die Ukraine Stimmen in Deutschland laut wurden, die sich für eine diplomatische Lösung des Krieges starkmachten, ernteten sie massive Vorwürfe wie "Lumpenpazifisten" und "die fünfte Kolone Putins" zu sein.

Die Argumente gegen Friedensverhandlungen waren erstaunlich grundsätzlicher Natur. Man könne grundsätzlich nicht mit einem Aggressor sprechen, weil man ihm nicht offensichtlich vertrauen könne. Verhandlungen könnten prinzipiell nur gelingen, wenn beide Parteien wirklich gesprächsbereit seien.

Verhandlungen könnten grundsätzlich nur geführt werden, wenn der Aggressor sich aus dem angegriffenen Land vollständig zurückgezogen hat.

Und nicht zuletzt: Gesprächen könnte man prinzipiell nur zustimmen, wenn derjenige, der sich für Friedensverhandlungen starkmacht, bereits einen optimalen Kompromiss in der Tasche hat, um Kritiker vom Sinn der Friedensdiplomatie zu überzeugen.

Was an diesen Argumenten schon damals erstaunte: Sie sind so grundsätzlicher Natur, dass daraus fast zwingend logisch abzuleiten ist, dass Friedensgespräche bei einem Angriffskrieg, in dem der Aggressor nicht bereit ist, sich auf sein Staatsgebiet zurückzuziehen, grundsätzlich keine Aussicht auf wirklichen Erfolg haben können und bestenfalls zu einem Diktatfrieden führen.

Diese Behauptung ist angesichts einer Reihe von Friedensschlüssen in der Geschichte jedoch absurd. Es vermag entsprechend kaum überraschen, dass in all den, dem Autor dieses Beitrags bekannten, Diskussionen über Sinn und Unsinn von Friedensverhandlungen niemals Bezug auf historische Beispiele für Friedensverhandlungen genommen wurde – mit der Ausnahme der Münchener Verhandlungen, 1938, was bereits im ersten Teil thematisiert wurde.

Aus der Geschichte lernen

Die Erkenntnis, dass man aus der Geschichte lernen muss, ist ein alter Hut und sie gilt selbstverständlich auch für die Geschichte erfolgreicher Friedensverhandlungen.

Daher betont Sara Rozenblum de Horowitz in ihrem Vorwort zu einem Buch des Gründungsvaters der Konflikt- und Friedensforschung, Johan Galtung, (siehe wieter unten: Literatur):

Wir müssen aus der zerstörerischen Vergangenheit lernen, um eine Wiederholung zu vermeiden. Wir müssen aus der konstruktiven Vergangenheit lernen, um uns von ihr in der Gegenwart und Zukunft leiten zu lassen.

Sara Rozenblum de Horowitz

Es ist faszinierend wie vielfältig und kreativ Friedenslösungen sein können und welch facettenreiche Beispiele es aus der Geschichte erfolgreicher Friedensverhandlungen zu berichten gibt.

Sehr kreativ!

Manchmal muss man jenseits der ausgetrampelten Pfade denken, wenn man einen Weg zum Frieden finden und den gordischen Knoten eines Konflikts durchschlagen möchte, der Länder schon seit Generationen beherrscht.

Der Grenzkonflikt zwischen Peru und Ecuador führte 1941, 1981 und 1995 zu Kriegen. Eine Einigung schien unmöglich. Weder der Sieg einer Seite, noch ein Kompromiss bei der gemeinsamen Grenzziehung war in Sicht.

In dieser verfahrenen Lage machte Johan Galtung dem ecuadorianischen Präsidenten Sixto Durán Ballén den Vorschlag, das umstrittene Territorium in einen binationalen Naturpark zu verwandeln.

"Sehr kreativ" war die überraschte und skeptische Antwort. Und der zögerliche Nachsatz, dass dies vielleicht in 60 Jahren gelingen könnte.

Tatsächlich wurde aber genau diese kreative Idee von Galtung nur drei Jahre später Wirklichkeit und ein Friedensvertrag zwischen den Nachbarländern geschlossen, die seit 1941 in Konflikt miteinander lagen.

Eine genaue Grenzziehung und Eigentumsbestimmung wurde damit hinfällig und statt eines lebensgefährlichen Grenzgebiets zu fürchten, können Menschen beider Länder heute die Schönheit der Landschaft gemeinsam genießen.

Die dritte Seite aktivieren

Venezuela stand 2003 unter der Präsidentschaft von Hugo Chávez kurz vor einem Bürgerkrieg, als William Ury von den Vereinten Nationen gebeten wurde, eine friedliche Lösung zu finden und ein Blutvergießen zu vermeiden. Er sollte dafür einen Vortrag in einem Theater halten.

Statt der erwarteten 100 bis 150 Zuschauer versuchten mehr als tausend Menschen Einlass zu finden. Dabei handelte es sich um Unterstützer und Gegner des Präsidenten, die kaum mehr ein Wort miteinander wechselten. Ury versuchte in seiner Rede das im ersten Teil der Artikelserie beschriebene Mittel der "dritten Seite" anzuwenden:

Wie kann ein Bürgerkrieg beendet werden? Aus meiner Erfahrung in anderen Ländern kann ich Ihnen sagen, dass der Schlüssel darin liegt, dass die gesamte Gemeinschaft zusammenkommt, um die Gewalt zu beenden.

Neben den beiden Seiten gibt es noch eine dritte Seite. Es ist die Seite von ganz Venezuela – die Seite Ihrer Kinder und deren Zukunft. Und Ihre Zukunft. Die dritte Seite ist die engagierte Gemeinschaft, die sich der Gewalt widersetzt und für den Dialog und die Suche nach Wegen für ein friedliches Zusammenleben eintritt, selbst bei tiefen politischen Differenzen.

Jeder von Ihnen kann ein Mensch der dritten Seite sein. Sie können es sein, wenn Sie ein Chavista sind oder wenn Sie ein Antichavista sind. Oder wenn man keines von beiden ist. Sich auf die dritte Seite zu stellen, bedeutet einfach, sich auf die Seite der gesamten Gemeinschaft zu stellen.

Denken Sie einen Moment lang darüber nach, wie dieser Konflikt Sie und die, die Sie lieben, verletzt hat. Vielleicht wurde jemand, den Sie kennen, verprügelt oder sogar getötet. Vielleicht sprechen Ihre Familienmitglieder oder Freunde nicht mehr miteinander.

Vielleicht haben Sie oder jemand aus Ihrem Umfeld seine Arbeit verloren. Vielleicht haben Sie oder Ihr Kind einen Albtraum über Gewalt gehabt.

William Ury

Das für unmöglich Gehaltene gelang. Nach dem Vortrag teilten sich die Teilnehmer in kleine Gruppen auf, Unterstützer von Chavez zusammen mit seinen Gegnern und versammelten sich dann in größeren Gruppen. Sie diskutieren, wie sie zusammenarbeiten könnten, um Gewalt zu verhindern und den Frieden im Land zu bewahren.

Die Menschen vereinbarten, sich am nächsten Tag wiederzutreffen. Sie organisierten öffentliche Dialoge im ganzen Land, veranstalteten Straßentheater und Schulprogramme, traten in Radiosendungen auf. Der Dialog, der im Theater stattfand, wurde in einer landesweiten Fernsehsendung ausgestrahlt. Sie trug den Titel "Die dritte Seite".

Ury schreibt:

Die Alternative zu Gewalt und Krieg ist das konstruktive Eingreifen der Gemeinschaft. (…) Bis zu diesem Moment gab es im politischen Konflikt in Venezuela nur zwei Seiten, die im Vordergrund standen. Es gab keinen Platz für Nuancen oder Komplexität – oder für Gespräche.

Jetzt gab es einen Platz für die dritte Seite, eine Gemeinschaft, die Menschen aller Meinungen einschloss. In diesem Moment der intensiven Ausgrenzung zwischen den beiden polarisierten Seiten in Venezuela wurde ein Zuhause für die dritte Seite geboren.

William Ury

"Ein-Text"

Eine ungewöhnliche Idee rettete die Friedensverhandlungen 1978 in Camp David. Als die Gespräche zwischen dem ägyptischen Präsidenten Sadat und dem israelischen Präsidenten Begin trotz viel guten Willens vor dem Scheitern standen, schlug der damalige US-Außenminister Cyrus Vance dem US-Präsidenten Jimmy Carter eine Methode vor, an der unter anderem der damalige Student William Ury gerade gearbeitet hatte.

Dieser beschreibt sie wie folgt:

Der Ein-Text, wie wir ihn nannten, ist eine genial einfache Alternative zum üblichen Feilschen um gegensätzliche Positionen. Anstatt auf Zugeständnisse zu drängen, entwirft ein Dritter eine mögliche Vereinbarung und bittet die Parteien um Stellungnahme.

Anschließend überarbeitet der Dritte den Text kontinuierlich, um auf die Bedenken einzugehen, bis ein Konsens erzielt wird. Der Ein-Text ist eine Möglichkeit, eine goldene Brücke zu bauen.

William Ury

Der Vorteil: In hochemotionalen Konflikten will niemand eine schmerzhafte Entscheidung treffen. Daher ziehen sich beide Seiten darauf zurück, jeweils die andere zu kritisieren, sodass eine Lösung noch unwahrscheinlicher wird.

Durch das Ein-Text-Verfahren bleibt der Vorschlagsentwurf sehr informell. Daher kann er leicht überarbeitet werden, um die Ideen und Vorschläge der Parteien aufzunehmen. Und jedes Mal, wenn sich der Eine-Text verbessert, sehen die Seiten nicht nur ihre Bedürfnisse berücksichtigt, sondern auch ihre Ideen und ihre Sprache in den Text einfließen.

Die Gegner stehen nun vor einer viel attraktiveren Entscheidung als im gewöhnlichen Verhandlungsprozess. Anstatt vorab schmerzhafte Zugeständnisse machen zu müssen, ohne eine Idee zu haben, wie das Ergebnis schließlich sein wird, müssen sie hier nur eine Entscheidung treffen, und das auch erst ganz am Ende, als sie genau sehen können, was sie im Gegenzug bekommen haben. Die Verhandler wiederholten in Camp David den Prozess wieder und wieder.

Beiden Seiten gelang es, sich auf diese Weise innerhalb von nur einer Woche (und 23 Entwürfen der Ein-Text-Version) auf ein Dokument zu einigen. Dennoch wäre der Friedensschluss noch in letzter Minute gescheitert, weil Sadat von einem geheimen Abkommen zwischen den USA und Israel erfuhr.

Ein langes persönliches Gespräch zwischen Carter und Sadat über die gemeinsamen Enkel führte dann schlussendlich zum entscheidenden Durchbruch und einem erfolgreichen Friedensabkommen.

Die Siegesrede

Ein ganz besonderes Werkzeug im Arsenal von William Ury ist die sogenannte Siegesrede. Im Februar 2017, kurz nach der Wahl Donald Trumps, war die Situation zwischen den USA und Nordkorea extrem angespannt.

Experten bezifferten das Risiko eines Krieges sogar mit 50-50. In dieser Atmosphäre dachte William Ury gemeinsam mit seiner Kollegin Liza Hester über eine mögliche Lösung des sich anbahnenden Konflikts nach. Ihr Brainstorming startet von einem faszinierenden Ausgangspunkt:

Wo ist der Ausweg für Trump und für Kim Jong-un? Wie kann dieser Showdown in einer Einigung statt in einem Krieg enden? Wie können beide Führungskräfte für sich selbst und die Menschen, die ihnen am meisten am Herzen liegen, wie Helden aussehen?

Welche Siegesrede könnte Donald Trump vor dem amerikanischen Volk halten, um zu erklären, wie er gewonnen hat? Welche Siegesrede könnte Kim Jong-un gleichzeitig vor seinem Volk halten und erklären, wie er gewonnen hat?

William Ury

Diese kleine Übung führte schließlich zu einer Teambildung, die monatelang genau in dieser Richtung weiter arbeitete, die dann in einer Entspannung zwischen den USA und Nordkorea mündete.

Auch im jahrzehntelangen Bürgerkrieg in Kolumbien ist es unter anderem die Übung der Siegesrede, die zum Durchbruch verhalf. Ury bat eine Gruppe von Regierungsvertretern folgendes Gedankenspiel zu spielen:

Stellen Sie sich für einen Moment vor, dass die FARC den Regierungsvorschlag angenommen hätte. So unglaublich es auch erscheinen mag, sie haben sich grundsätzlich darauf geeinigt, im Rahmen eines Friedensabkommens zu entwaffnen und zu demobilisieren.

Dies wird das erste Mal seit fünfzig Jahren Krieg sein, dass sie sich darauf einigen, überhaupt über dieses Thema zu sprechen. Stellen Sie sich nun vor, ihr Anführer Timotschenko müsste vor den Kämpfern stehen und erklären, warum die FARC-Führung beschlossen hat, den Vorschlag der Regierung anzunehmen. Was könnte er wohl sagen?

William Ury

Dieses Brainstorming wird dann konsequent weiterverfolgt, wobei entscheidend ist, dass die Beteiligten sich wirklich bemühen in die Schuhe des Feindes zu schlüpfen und für einen Moment die Welt aus dessen Augen zu sehen. So schwer es auch fallen mag. Gerade angesichts des unendlichen Leids.

Zahlreiche Erfolgsgeschichten

Selbstverständlich sind diese und viele anderen erfolgreichen Friedensverhandlungen keineswegs ein Garant, dass alles nur eine Frage der Technik und des guten Willens ist. Auch leider nicht, dass der beigelegte Konflikt möglicherweise später wieder aufflammen kann.

Die Beispiele sind aber ein mehr als deutlicher Hinweis, dass oftmals mehr Durchbrüche zum Frieden möglich sind, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Gerade also um die Möglichkeiten von Verhandlungen wirklich einschätzen zu können, sind Grundkenntnisse der Geschichte mehr als hilfreich.

Denn eines ist sicher, wie bereits der Friedensnobelpreisträger Desmond Tutu wusste: "Wenn Du Frieden willst, sprich nicht mit Deinen Freunden, sprich mit Deinen Feinden."

Wer hätte gedacht, dass nach all den Jahrzehnten blutigen Bürgerkrieges jemals Frieden in Kolumbien geschlossen werden könnte?

Wer hätte gedacht, dass nach all den Jahrzehnten blutigen Bürgerkrieges jemals Frieden in Nordirland geschlossen werden könnte?

Wer hätte gedacht, dass nach all den Jahrzehnten der Apartheid jemals Frieden in Südafrika geschlossen werden könnte?

Es geht um Möglichkeiten und das Mögliche

Wer hätte gedacht, als China 1962 Indien angriff und sich beide Länder weigerten einen Waffenstillstand zu verhandeln, dass ein Frieden dennoch möglich wäre? Die dritte Seite in Form von sechs pakt-freien Ländern wurde aktiv und brachte beide Kriegsparteien in Colombo an den Verhandlungstisch.

Wer hätte gedacht, dass beim ersten Golfkrieg, als der Irak der eindeutige Aggressor war und den Iran angriff, massiv internationales Recht brach, indem er wiederholt Chemiewaffen einsetzte, was den Tod Tausender Zivilisten zur Folge hatte, dass dennoch zumindest ein Waffenstillstand möglich war?

Der grausame Krieg forderte bis zu einer Million Opfer endete dank der dritten Seite in Form der UN, die die Resolutionen 582 und 598 verabschiedete, welche einen Waffenstillstand vorsah, den beide Kriegsparteien annahmen.

Allein dieser kurze Exkurs sollte ausreichen, um die oben aufgeführten extrem grundsätzlichen Standpunkte infrage zu stellen. Sich derart prinzipiell gegen die Möglichkeit von Friedensverhandlungen zu stellen und sogar selbst eine aggressive Rhetorik gegen Verhandlungsbefürworter zu führen, beruht offensichtlich nicht auf historischer Kenntnis von Friedensverhandlungen, sondern auf fehlender Kenntnis.

Bei jedem den obigen Beispielen erfolgreicher Verhandlungen hätte man ebenfalls grundsätzliche Ablehnung äußern können. Bei keinem der angeführten Exempel erfolgreicher Verhandlungen hätte man die Wendung zu einem erfolgreichen Abschluss vorhersehen können.

Literatur:

Johan Galtung und Dietrich Fischer: Johan Galtung. Pioneer of Peace Research
William Ury: Possible. How We Survive (and Thrive) in an Age of Conflict

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