Fußballweltmeisterschaft: Die Armen gewinnen gegen die Reichen

Bild: GCBA, CC BY-SA 2.5 via Wikimedia Commons

Argentinien gewinnt das Endspiel und wird Weltmeister. Wie in einem Heldenepos wird die Mannschaft gefeiert. Betrachtungen eines außergewöhnlichen Spiels.

Der Fußball schuldet Messi den WM-Pokal.

Aus dem ARD-Bericht am ersten WM-Spieltag

Einmal ist es passiert. Einmal haben die Armen über die Reichen gesiegt. Es passiert nicht oft, aber es passiert im Fußball immerhin öfter als im richtigen Leben. Auch in dieser Erfahrung der geglückten Rebellion gegen das Establishment liegt das Geheimnis dieses Sports und seiner weltweiten Faszination. Das Ergebnis am Sonntag war eine solche Ausnahme von der Regel.

Natürlich: Lionel Messi und seine Mannschaftskollegen sind stinkreich. Sie sind Großverdiener, führen ein Luxusleben in europäischen Gated Communities und repräsentieren eine neureiche Klasse, Showstars eines globalen Showbetriebs, die immer wieder mal im Laufe ihrer Karriere unter Beweis stellen, dass sie eine Menge Bodenhaftung bereits verloren haben. Aber in Augenblicken wie diesen sind sie nahe an ihren Fans und an den Menschen, für die sie spielen.

Im Trikot der Albiceleste repräsentieren sie ein Land, das arm ist im Vergleich zu Europa, und dem es schlecht geht. Man sollte den Stolz der Argentinier nicht für Unbescheidenheit halten und nicht glauben, dass ihm nicht eine tiefe nationale Verletzung und das Wissen um die eigene prekäre Existenz zugrunde liegt. Genau das repräsentiert auch die Seleccion. Und genau das zeigte sich auch in dem Spiel in dem Finale am Sonntag: Es kann immer noch schiefgehen. Bis zum letzten Augenblick. Und immer wieder, wenn man gerade glaubt, man habe es geschafft, dann gibt es Rückschläge.

Stimmen aus einer anderen Welt

Wer die aufgelösten Gesichter sah, weinend oder auch nicht, und wer die Erklärungen der Spieler nach dem Finalsieg verfolgte, der konnte hören, wo sie herkamen: Immer wieder war die Rede von den bescheidenen Verhältnissen, aus denen sie stammten, vom Dank an die Eltern, von den Opfern, die sie gebracht hatten, von der Familie.

Es waren Stimmen aus einer anderen Welt, einer Welt, wie sie auch Europa mal gekannt hatte, aber heute nicht mehr kennt und kennen will.

Und wer in der Übertragung der ARD den französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron sah, der erst zum allerersten Mal ins Bild kam, als die Franzosen in der 80. Minute der Anschlusstreffer erzielten, der sah auch, dass Macron nichts von dem verstand, was da passierte.

Kein Widerstand, der nicht überwunden werden kann

Dieser so schwer umkämpfte wie verdiente Sieg begann mit Druck und französischer Nervosität. Die Frage war, warum man es schon von den ersten Minuten an merken konnte, dass Argentiniens Stunde geschlagen hatte. Es war ein Triumph der Willenskraft. Der Überzeugung, dass der Fußballgott einem einfach den Sieg schuldete; dass es nichts gab, keinen Widerstand, kein Hindernis und keinen Rückschlag, der nicht überwunden werden könnte innerhalb der 90 Minuten.

Es war ein guter Anfang der Argentinier, die auch körperlich dagegenhielten. "Argentinien wagt viel", sagt der ARD-Kommentator Tom Bartels. Die Albiceleste war da von Anfang an, sie waren viel präsenter als die Franzosen. Eine Mannschaft gegen Einzelkämpfer.

Sie spielten eine perfekte erste Halbzeit, weil es keine Fehler gab, konnten die Franzosen auch keine Fehler ausnutzen. Und auch zu Beginn der zweiten Halbzeit gab es mehrere Angriffe, die früher oder später zu einem Tor führen würden. Der argentinische Mut hatte sich bis hierhin bezahlt gemacht.

Die Franzosen kamen erst um die 60. Minute auf. Nachdem Di Maria ausgewechselt wurde, gab es einen Bruch im argentinischen Spiel und weniger Offensivgefahr.

Dann kam, wie im ersten Maradona-Finale '86, der Gegner, hier die französische Übermannschaft noch einmal zurück. Und kurz schien alles doch noch wieder auf einen tragischen Tango hinauszulaufen.

"Leben, Liebe, Hingabe"

Aber Argentinien hatte keine Angst. Und Messi machte keine Show. Er spielte einfach Fußball. Einmal mehr (wie bei Spaniens WM-Erfolg 2010) wurde eine überraschende Auftaktniederlage (gegen Saudi-Arabien) mit anschließenden Umstellungen zum Schlüssel für einen WM-Titel.

"Danach hatten wir fünf Endspiele", so Messi. Obwohl Bastian Schweinsteiger im Fernsehen Mal um Mal bewundert, wie die Argentinier "den Stürmern des Gegners eins auf die Socken geben", und in der Vorrunde nur zehn Torschüsse zugelassen haben, war es gerade im Finale ein Sieg des argentinischen Mittelfelds und Angriffs.

Über 1.000 Pflichtspiele, und alles lief für Lionel Messi auf diesen einen Tag zu: Die Erfahrung der Niederlagen. Die Erfahrung des Finales von 2014, die Erfahrung des Achtelfinales gegen Frankreich 2018, die Erfahrung des Spiels gegen Saudi-Arabien. Erst mit der Erfahrung dieser einen Niederlage waren er und seine Mannschaft bereit zum Sieg, und wollte sich diesen Sieg auch nicht nehmen lassen.

Wie 1986 siegte Argentinien mit Willenskraft. Argentinien spielte konsequent, "edgy" und voller Leidenschaft. Es widerlegt en passent auch die Legende, dass ihr Spiel nur defensiv wäre. Und mit diesem Spiel ist nun auch für die Ignoranten endgültig klar, dass Messi ein größerer Spieler ist als Ronaldo. Was eigentlich vorher schon klar war.

"Leben, Liebe, Hingabe", so lautete der Dreiklang der ARD-Erklärungen. Nicht falsch, genauso wie die "Cojones" im Schweinsteiger-Kommentar.

Alles endete 3:3 und zum dritten Mal (nach 1994 und 2006) wurde ein Finale im Elfmeterschießen entschieden.

Stellvertretend für eine europäische Schwäche

Die Erfüllung seines Fußballerlebens erlebte Messi dann auf der Tribüne in einer durchsichtigen schwarzen Kutte, die ihm der Emir von Katar aufgedrängt hatte, bestimmt wieder solch ein wichtiges Traditionsstück, deren falsche Benennung Rassismusverdacht hervorruft.

Die Frage ist jetzt, ob es Lionel Messi gelingen wird, mit dem Erfolg in der WM auch den Schatten Maradonas abzuwerfen, und ein neues Modell argentinischer Idole in die Wege zu leiten: als Mann von ähnlicher Willenskraft, aber unauffälliger im Profil, von höherem Verantwortungsbewusstsein, nicht so exzentrisch und expansiv wie Maradona, könnte er eine neue Mythologie des "typischen argentinischen Spielers" begründen. Zugleich hat Messi mit dieser WM gezeigt, dass auch er ein Organisator und Kapitän ist.

"Die Argentinier spielen hier ein Finale, wir nicht. Das reicht so nicht", hatte der französische Nationaltrainer Didier Dechamps bereits zur Halbzeit Bereits in die Fernsehkameras gesagt, und hinterher die bittere Bilanz ziehen müssen, dass es nicht gereicht hat, dass Argentinien mehr Kraft und Energie hatte.

Die französische Schwäche, die sich das ganze Turnier über bereits angedeutet hatte, steht stellvertretend für eine europäische Schwäche. Nur 2014, 2002 und 1978 waren im letzten halben Jahrhundert die Europäer so schwach, wie diesmal. 2006 und 2018 waren sogar vier Europäer unter den letzten vier Mannschaften

Sie können ihre Schulden nicht bezahlen. Sie können ihre Steuern nicht bezahlen. Aber an diesem Abend ist das alles egal: Sie sind aus dem Schatten getreten und sind die Könige der Welt.

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