G20-Gipfeltreffen: Eiszeit, keine Brücken; Blinken will nicht reden, Lawrow geht
Keine Einigung über Blockade des Weizenexports aus der Ukraine; Selenskyi hofft, dass die Ukraine "noch vor Ende des Jahres viel erreichen und diesen Krieg beenden kann".
Der Ukrainekrieg ist gegenwärtig der Nordpol, an dem sich der politische Kompass vielerorts ausrichtet. Das ist auch beim G20-Gipfel der Außenminister so, der heute in Bali begonnen hat.
Wer überhaupt die Hoffnung hegte, dass mit ihm ein, wenn auch zaghafter, Beginn von Gesprächen innerhalb der gegnerischen Lager, den USA und Russland, in Gang kommen könnte, erhielt rasch einen Bescheid aus der Wirklichkeit: "Der russische Außenminister Lawrow verlässt den G20-Gipfel vorzeitig", wird heute Vormittag vielfach gemeldet.
Da verfestigt sich beim Mediennutzer schnell der Eindruck, dass es die russische Seite ist, die keinerlei Interesse an solchen Runden hat. Eine derartige, möglicherweise von einer sprungbereiten Empörung unterstützte, Beurteilung liefe aber auf eine vorschnelle und einseitige Einschätzung hinaus, da US-Außenminister Anthony Blinken bereits im Vorfeld zum Zusammentreffen in Bali der Möglichkeit zum Austausch mit seinem russischen Amtskollegen eine klare Absage erteilt hat.
Für ein bilaterales Treffen sei aktuell "nicht die richtige Zeit". Laut New York Times wollten sich auch mehrere andere westliche Vertreter nicht mit Lawrow treffen. "Nur wenige waren bereit, mit ihm für die üblichen Fotos zu posieren."
Nachträglicher Einschub: Man kann das aus deutscher Sicht so sehen: "Er (Lawrow, Einf. d. A.) entzog sich damit in erster Linie der Replik von Baerbock, als amtierende Vorsitzende der G-7-Gruppe stand sie als nächste Rednerin auf der Liste." (SZ). Baerbock warnte laut Süddeutscher Zeitung zuvor: "Es ist wichtig, dass Russland hier nicht die Bühne überlassen wird." Und sie warnte vor einem "netten Socialising, beim netten Abendessen".
Man kann die Aussage des US-Außenministers aber auch im größeren Bild dahingehend interpretieren, dass es gerade kein Interesse an ernsthaften Gesprächen gibt, dass ein solches Interesse entscheidend vom Kriegsverlauf in der Ukraine abhängt. Die militärische Lösung stellt die Bedingungen für eine Neuaufnahme relevanter Gespräche.
Sie hat die Priorität. Ernsthafte Verhandlungen gibt es erst, wenn das Kriegsgeschehen die Beteiligten dazu zwingt. Dazu gehören in einem Stellvertreterkrieg, der der Ukrainekrieg auch ist, mehrere Seiten, was die Sache komplizierter macht.
Lawrow: "Wie der Westen atmet"
Zu diesem Hintergrundmuster fügen sich heute auch die Nachrichten vom G20-Gipfel. Sie liefern in der Presseschau vorderhand Positionen zum Krieg. Wie zum Beispiel von Sergej Lawrow: "Wenn der Westen keine Gespräche will, aber es wünscht, dass die Ukraine Russland auf dem Kriegsgelände besiegt – beide Ansichten wurden geäußert -, dann gibt es vielleicht nichts mit dem Westen zu besprechen." (aus dem Englischen übersetzt, Tass).
Lawrow traf sich dann mit einigen "wichtigen Ministern" (New York Times) aus China, Indien, Brasilien, der Türkei, Argentinien und Indonesien. Was dabei herauskam, ist noch nicht in der Öffentlichkeit zu erfahren.
Die russische Nachrichtenagentur Tass übermittelt zur frühen Abreise des Außenministers noch die Aussage: "Wir sind es nicht, die die gegenseitigen Kontakte eingestellt haben. Das haben die Vereinigten Staaten getan. Das ist alles, was ich sagen kann. Wir laufen niemandem hinterher und bieten ein Treffen an. Wenn sie nicht reden wollen, ist das ihre Entscheidung."
Interessant in diesem Zusammenhang ist ein Einblick in das Klima auf dem G20-Spitzentreffen, wie ihn die New York Times liefert:
Er (Sergej Lawrow, Einf. D. A.) war ein Stinktier auf der Party im tropischen Urlaubsort und wurde von vielen gemieden, wenn auch nicht von allen.
New York Times
Das würde nach Stand der Dinge nicht bei allen Redaktionen so leicht durchgehen. Er sei nach Bali gekommen, um sich einen Eindruck zu verschaffen, "wie der Westen atmet", wird Lawrow von der Tageschau zitiert.
Die Blockade von Weizenexporten
Es gab auch Inhaltliches zu einem Streitthema: der Blockade von Weizenexporten aus der Ukraine über Häfen am Schwarzen Meer. US-Außenminister Blinken hatte in einer Plenarsitzung gefragt: "An unsere russischen Kollegen: Die Ukraine ist nicht euer Land. Ihr Getreide ist nicht euer Getreide. Warum blockiert ihr die Häfen? Ihr solltet das Getreide herauslassen."
Sein russischer Kollege, bei der Plenarsitzung nicht zugegen, sagte laut Tagesschau, dass Russland bereit sei, "mit der Ukraine und der Türkei über Getreide zu verhandeln. Es sei aber unklar, wann solche Gespräche stattfinden könnten". Der Streit darüber dauert seit mehreren Wochen. Russland fordert eine Aufhebung von Sanktionen und die Beseitigung von Seeminen.
Aus Sicht der Ukraine sind die Seeminen nötig, um einen russischen Angriff auf ukrainische Seehäfen zu verhindern. Angesichts der aggressiven Invasion des Landes durch die russische Armee, ist Schutz und Vorsicht angebracht.
Dass dies von einem Streit zwischen unterschiedlichen Lagern in Medien begleitet wird, gehört zum habituellen politischen Geschehen des "Informationskrieges". Beängstigender sind Appelle, wie sie vom US-Think-Tank Responsible Statecraft übermittelt werden.
Demnach gibt es Forderungen nach einer US-Militäreskorte, "um die russische Blockade zu beenden".
Wie Sam Fraser von Responsible Statecraft auflistet, wurden Versionen des Vorschlags "vom litauischen Außenminister, von pensionierten US-Militärs wie Admiral James Stavridis, General Wesley Clark und General Jack Keane sowie von der demokratischen Abgeordneten Elissa Slotkin und den Redaktionen des Boston Globe und des Wall Street Journal unterbreitet".
Diese Vorschläge unterscheiden sich zwar im Detail, aber alle berufen sich auf die Rhetorik der humanitären Intervention, um die Aktion zu rechtfertigen und zu legitimieren. Das Wall Street Journal fordert eine von den USA geführte Marineeskorte, die "als humanitäre Operation geplant und angepriesen wird". Stavridis bezeichnete seinen Plan als "humanitäre Kornmission", während Slotkin einfach eine "humanitäre Eskorte" forderte. Der Boston Globe nannte seinen Vorschlag eine "Menschenrechtsmission", während der litauische Außenminister von einer "nicht-militärischen humanitären Mission" sprach.
Responsible Statecraft
Würde das ernstgenommen, so wäre das eine Eskalation mit unabsehbaren Folgen.
"Brücken bauen"
Auf dem G20-Spitzentreffen sollten Brücken gebaut werden, so kündigte es Gastgeberin Retno Marsudi an, die laut Tageschau eindringlich zu einem Ende des russischen Angriffskrieges in der Ukraine aufrief:
"Unsere Verantwortung ist es, den Krieg so schnell wie möglich zu beenden. Und Brücken zu bauen und nicht Mauern."
Ob und wie Brücken gebaut werden, hängt allen Anzeichen nach, wesentlich vom Kriegsgeschehen ab. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj erklärte in einem Interview mit CNN: "Die Ukrainer sind nicht bereit, ihr Land aufzugeben und zu akzeptieren, dass diese Gebiete zu Russland gehören. Dies ist unser Land."
"Unser Land wird vereint und geeint bleiben. Wenn die mächtigen Waffen unserer Partner rechtzeitig zu uns kommen, und wenn das Glück und Gott auf unserer Seite sind, können wir noch vor Ende des Jahres viel erreichen und diesen Krieg beenden. Zumindest den militärischen Teil dieses Krieges können wir beenden."
Wolodymyr Selenskyj