Gaea Girls und Yakuza Boys

Über den neuen japanischen Film

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Immer mehr japanische Filme finden ihren Weg nach Deutschland. Auf kleinen Festivals und in Programmkinos hat man damit die Gelegenheit, dem aufregendsten Kino der Gegenwart zu begegnen.

Dead or Alive

Ein zierliches Mädchen steht in einem Kampfring, mit geneigtem Haupt, übersät mit blauen Flecken. Tränen laufen ihr übers Gesicht, Blut stömt aus einer Wunde am Mund. Um sie herum verharren andere Mädchen mit ausdruckslosen Gesichtern, doch das geschundene Wesen hat nur Blicke für die Trainerin, eine seltsam deformierte Kreatur mit blonden Haaren, die ohne eine Spur von Mitleid auf sie einredet und ihr wiederholt ins Gesicht schlägt. Immer wieder und mit äußerster Härte landet die Faust im Gesicht, das vor Tränen und Blut kaum noch zu erkennen ist. Man wartet auf einen Ausbruch, eine Reaktion, eine empörte Geste, die einem einen Ausweg aus dieser freiwillig ertragenen Grausamkeit aufzeigen würde. Doch alle Beteiligten der Szene verbindet ein undurchdringliches Einverständnis, an dem man als Zuschauer nicht Teil hat.

Der Dokumentarfilm "Gaea Girls" (2000) der Filmemacherinnen Kim Longinotto und Jano Williams begleitet eine Hand voll Mädchen auf ihrem schmerzhaften Weg zum Profi-Wrestling. Ohne jeden Off-Kommentar und begleitet von nur wenigen Worten der Mädchen und ihrer Trainerin, lässt der Film das Publikum Anteil haben an einer streng ritualisierten Welt, die zugleich eine der blutenden Körper ist. Rigorose Disziplin und äußerste Gewalt, totale Anpassung und Exzess sind in diesem Trainingscamp untrennbar miteinander verbunden. Doch was einen als westlicher Zuschauer vielleicht am meisten schockiert, ist das glückliche Lächeln der Mädchen, wenn sie von ihrer Zukunft sprechen.

Mehr als an den Schmerzen und Routinen, den Schlägen und immer wiederholten Körperverrenkungen offenbart sich dem Zuschauer an diesem Lächeln, dass er keine Ahnung hat, was diese Mädchen umtreibt. "I don’t stand out in a crowd. In the ring I can become someone who is noticed." Die Worte von Takeuchi Saika, deren Weg zum ersten öffentlichen Auftritt als Wrestlerin der Film in den Mittelpunkt stellt, deuten vielleicht noch am ehesten an, worum es in vielen neueren japanischen Filmen geht.

Auf kleinen Festivals wie kürzlich in Köln oder in Hamburg und in Programmkinos entdecken immer mehr deutsche Zuschauer ein Kino, das zum aufregendsten der Gegenwart gehört. Der Widerstreit zwischen gesellschaftlichen Zwängen und Selbstverwirklichung, zwischen öffentlicher Unsichtbarkeit und privatem Ausbruch ist das zentrale Thema vieler japanischer Produktionen. Und in keinem Kino der Welt nehmen Auf- und Ausbruchsfantasien aus einem streng geregelten öffentlichen Leben so innovative und gewalttätige Züge an wie im japanischen. Bestimmte Figuren, Genres und Motive kehren immer wieder, doch was eine junge Generation begnadeter, aber weitgehend noch unbekannter Filmemacher daraus macht, sprengt häufig jeden westlichen Referenzrahmen.

Einer von diesen jungen Regisseuren ist Sabu, dessen Film "Monday" (1999) Anfang Juni in einige deutsche Kinos kommt. "Held" dieses kleinen Meisterwerks ist der Salaryman Takagi, einer jener schwarzweiß uniformierten Geister, die die japanische Wirtschaft am Laufen halten. An einem Montagmorgen erwacht er nicht zum gewohnten Klingeln seines Weckers, sondern in einem fremden Hotelzimmer. Erinnern kann er sich an nichts, erst eine Packung Reinigungssalz, die er in einer seiner Taschen findet, ruft Bilder vom vergangenen Wochenende herauf. Das Salz, das bei Beerdigungen zum Bannen böser Geist verwendet wird, erinnert Takagi an eine Totenwache, die einen unvorhergesehenen Verlauf genommen hat. Nicht nur, dass der Sarg falsch herum stand, obendrein wurde Takagi auch noch von den anderen Trauergästen dazu auserkoren, den noch aktiven Herzschrittmacher der Leiche zu deaktivieren, der sonst bei der Einäscherung explodiert...

Die Idee ist ebenso einfach wie brillant: Man nehme einen Biedermann, ein Hotelzimmer und eine klaffende Erinnerungslücke, und schon hat man den Zuschauer mitten hinein versetzt in einen unwiderstehlichen Eskalations-Sog. Doch das eigentliche Wunder von "Monday“ ist die Eleganz, mit der hier immer wieder haarscharf an den Erwartungen des Publikums vorbei inszeniert wird. Hätten andere Regisseure das Slapstick-Potenzial der Eröffnungsszene bis zum Letzten ausgereizt, lässt Sabu sie ebenso abrupt enden wie das Erinnerungsvermögen seines Helden. Die Fundstücke aus Takagis Taschen erzählen eine Geschichte voller Lücken, eine Rückkehr des Verdrängten, der der Zuschauer ebenso hilflos ausgesetzt ist wie Sabus Protagonist.

Selten auch ist es einem Film so gründlich gelungen, eine Balance zwischen verschiedensten Genres zu finden. Überwiegt am Anfang noch die Komik, driftet Takagis alkoholisierter Abstieg in seine eigenen Abgründe immer mehr in den Bereich des Horrorfilms. Eine eher beiläufig in seinen Besitz gekommene Pumpgun verwandelt den devoten Angestellten zusehends in einen apokalyptischen Racheengel, der der von ihm repräsentierten Gesellschaft den Zerrspiegel vorhält. Ganz nebenbei ist "Monday“ aber auch ein großartiger Tanzfilm. Das perfekte Timing, die elliptische Erzählweise mit ihren Ruhepausen und die atemberaubende Choreographie kleinster Gesten und Blicke machen den Film zu einem Lehrstück über filmischen Rhythmus. Und wer gesehen hat, wie Takagi nach ein paar Gläsern Schnaps in einer Yakuza-Bar die Sau rauslässt, möchte nach dem Kino gleich selbst in die Disco rennen.

"Monday“ ist Sabus vierter Film, und mit ihm hat er sich endgültig zum cineastischen Anwalt der unsichtbaren Arbeitstiere der Nippon Economy gemacht. In seinem ersten Film "Dangan Runner"(1996) ist es ein erniedrigter Koch, der durch einen Banküberfall sein Leben zurückgewinnen möchte, in "Postman Blues" (1997) ist es ein Postbote, der durch die Begegnung mit einem kleinen Yakuza von einem anderen Leben zu träumen beginnt. Wie auch in "Monday“ verwandeln sich diese Selbstbestimmungsversuche jedoch schnell in Fluchtbewegungen. Nicht Befreiung wartet auf Sabus Protagonisten, sondern die apokalyptische Begegnung mit einem Aufgebot der Staatsmacht, auf das das von keinem Einzelnen gelenkte und zunehmend absurder werdende Geschehen zusteuert. Dass Sabu seinen scheiternden Helden zum Schluss allerdings immer einen flüchtigen Moment der Freiheit gönnt, macht ihn eher zu einem der Frohnaturen im japanischen Kino, dass nicht immer so nett mit seinen Figuren und Zuschauern verfährt.

Der aus der Bahn geratene Salaryman spielt im modernen japanischen Kino eine zentrale Rolle. Mit der durch ihn verkörperten Spannung zwischen Höflichkeit und Anpassung auf der einen und eskapistisch-exzessiven Ausbruchsfantasien auf der anderen Seite bietet diese Figur viele Identifikationsmöglichkeiten – auch für ein auf Dienstleistungs-Tugenden geeichtes westliches Publikum. Schon Sogo Ishiis auch hierzulande bekannter "Die Familie mit dem umgekehrten Düsenantrieb" (1984) zeigt den Amok laufenden Angestellten im Kreise seiner Lieben. Ein vermutetes Termitennest unter dem Wohnzimmerboden ist hier Symbol für die hinter der öffentlichen Fassade verborgenen Abgründe des japanischen Mittelstands. Gewalt und sexuelle Fantasien greifen umso mehr um sich, je größer das vom Vater gebohrte Loch im Boden wird. Wie auch Sabu bewegt sich Ishii von der Komik zum Horror, die Familienzwistigkeiten weichen einem Vernichtungsfeldzug, in dem jeder gegen jeden kämpft.

Neben dem Amok laufenden Salaryman prägt eine weitere Figur westliche Vorstellungen vom japanischen Kino: der Yakuza. Längst schon hat der japanische Gangsterfilm durch Takeshi Kitanos Genrevariationen internationale Anerkennung gewonnen. Gewisse Codes und Rituale wie abgeschnittene Finger und Tattoos sind durch Kitanos Werk Teil des westlichen Japanbilds geworden. Wie auch in "Gaea Girls“ und den Filmen von Sabu und Sogo Ishii geht es in Filmen wie "Violent Cop“ (1989), "Sonatine“ (1993) und "Hana-Bi“ (1997) um Ausbruchs-Utopien. In fast allen seinen Werken stellt Takeshi Kitano der unvermittelten Gewalt und den strengen Hierarchien der Yakuza-Organisationen idyllische Strandszenen gegenüber. Doch wie auch Sabu gewährt Kitano seinen im Sand herumtollenden Schlägern nur ein kurzes Glück, sein filmisches Universum ist zutiefst fatalistisch, und die nächste, oft außerhalb des Bildes ablaufende Metzelei ist niemals weit.

Auch Takashi Miike, der derzeit wohl produktivste und radikalste Filmemacher der Welt, benutzt das Yakuza-Genre, um der japanischen Gesellschaft den Zerrspiegel vorzuhalten. Szenen des Glücks und der Freiheit sucht man bei ihm vergeblich, transzendente Momente werden seinen Figuren nicht gewährt. Was bleibt, ist der ins Leere laufende körperliche Exzess, mit dem Miikes degenerierte Yakuzas ihre verloren gegangene Männlichkeit wiederherstellen wollen. In "Dead or Alive" (1999) macht einer von ihnen sich so seine Gedanken: "Alle lachen, wenn sie ihn sehen. Aber sie lieben meinen Schwanz. Tut mir leid, dass er so klein ist. Das sind die Gene."

Spätestens jetzt sollte auch dem letzten Zuschauer klar sein, dass die einstigen Ikonen japanischer Männlichkeit in die Krise geraten sind – mit äußerst unangenehmen Folgen. Die Worte sind an ein halbtotes Mädchen in einem Plastik-Swimmingpool gerichtet: "Noch immer läuft die Scheiße aus dir raus. Was ist das bloß mit dem menschlichen Körper. Ein vollkommenes Rätsel ... Spürst du jetzt Gott?"Wenig später wird er das Mädchen im eigenen Kot ertränken.

Solche Szenen machen unmissverständlich klar, warum Takashi Miike vielen Kritikern als "wohl finsterst gesonnener Regisseur der Gegenwart“ ("Spex") gilt. Bekannt geworden ist er hierzulande mit "Dead or Alive" und "Audition“, die nach der Rotation auf vielen internationalen Festivals Anfang dieses Jahres auch in deutschen Programmkinos zu sehen waren und für euphorischen Brechreiz beim Publikum sorgten. Aus Japan war man harte Kost gewohnt, doch die Filme von Miike stellten alles bisher Dagewesene in den Schatten. Sie sind außerdem keine singulären Meisterwerke eines Autorenfilmers europäischer Fasson, sondern Produkte einer außerordentlich hochtourigen Ökonomie, des japanischen Film- und Videomarktes. Miike ist ein Meister der minimalen Budgets und knappen Drehzeiten, Produktionsbedingungen, die ihm völlige künstlerische Freiheit ermöglichen – und seit 1991 eine Filmografie hervorgebracht haben, mit der man sich in Europa längst zur Ruhe setzen könnte. "Audition" ist Miikes 25. Film, "Dead or Alive" sein 28.!

Auf den ersten Blick passt Takashi Miike prima in die westliche Vorstellung von Japan als Reich der explodierenden Sinne. Die spektakuläre Eingangssequenz von "Dead or Alive" reiht in rasender Geschwindigkeit Bilder aneinander, in deren Mittelpunkt nicht Figuren, sondern Körper stehen: kopulierend, blutend, explodierend, fallend, tanzend, schwitzend, fressend, koksend, schreiend. Wer nach dem furiosen Auftakt einen 90-minütigen visuellen Overkill erwartet, wird jedoch enttäuscht. Stattdessen entpuppt sich der Film als Meditation über eine Gesellschaft am Rande der Auflösung.

Was Filme wie "Monday", "Dead or Alive" und "Audition" neben den sich in ihnen abbildenden gesellschaftlichen Verhältnissen und den für Fans interessanten Genre-Elementen für ein wachsendes westliches Publikum wohl auch interessant macht, ist schlicht ihr filmischer Einfallsreichtum. In Hollywood scheint man sich ja endgültig auf das möglichst exakte Klonen einmal gefundener Formeln (Teen-Slasher, Highschool-Comedy, Family-Drama, Joel-Silver-Spektakel) zu verlassen, mit Ridley Scott ("Gladiator", "Hannibal") als Sahnehäubchen oben drauf, bei dem einem endgültig das Würgen kommt. Einmal im Jahr darf dann ein Regisseur mit seinem "radikalen" Werk den Beweis antreten, dass das System doch noch zur Innovation fähig ist. Brav stürzen sich denn auch die Medien auf Soderberghs "Traffic", wie sie es letztes Jahr mit Paul Thomas Andersons "Magnolia" taten, und perpetuieren ein von Hollywood geprägtes Bild der Filmwelt, das schiefer nicht sein kann. Die wahren "Wonderboys" sitzen ganz woanders.