Gaza, TikTok und der Vietnam-Moment

Seite 2: Globale Brille ersetzt deutschen Tunnelblick

Erstens ist diese Generation schon seit der sehr frühen Jugend digital und global vernetzt, und Hauptuser von TikTok. Sie nimmt die Welt stärker durch eine globale Brille auf, als durch eine nationale, wodurch sie diesen Konflikt weniger aus der deutschen Sonderstellung, sondern mit Blick auf universelle Menschenrechte betrachtet. Die hohe Zahl der getöteten Kinder scheint hier eine besondere Empathie zu erzeugen.

Zweitens ist die Generation Z biographisch weiter von historischen deutschen Verbrechen entfernt. Waren bei der Generation X, also die Generation die zwischen dem Ende der 1960er-Jahre und 1980 geboren wurde, die Großeltern noch in der Zeit des deutschen Faschismus lebensweltlich aktiv, sind die Großeltern der Generation Z erst in den wilden 60er- und 70er-Jahren erwachsen geworden.

Drittens ist die heutige Jugend multikulturell aufgewachsen. Zu viele haben Bezugspersonen aus dem arabischen Raum oder anderen Teilen des globalen Südens, wo dieser Konflikt auch mit Rücksicht auf anderen kollektiven Traumata wahrgenommen wird. Während die alten Linksliberalen in ihren weißen Ghettos wie der "Roten Flora" in Hamburg "Nie wieder ist jetzt!" rufen, ruft die progressive Jugend in ihren bunten Lebenswelten: "Nie wieder gilt für Alle!"

Die Sorge um zivile Menschenleben in Gaza ist für sie nicht weniger legitim als kollektive Trauer und Anteilnahme nach dem Massaker der islamistischen Hamas an Israelis am 7. Oktober im Grenzgebiet zum Gazastreifen.

Diese neue Generation wird mit dem deutschen Establishment – einschließlich der Liberalen und Linken – aufeinander prallen. Allgemein ist eine aktive Unterstützung für die israelische Kriegsführung in Deutschland immer schwieriger zu vermitteln. Nach ARD-Deutschland-Trend sehen fast zwei Drittel der Deutschen die Militäraktionen gegen die palästinensische Zivilbevölkerung als nicht gerechtfertigt an.

Grenzen des Sagbaren und Rassismus

Die politische Verarbeitung dieses Konflikts wird in Deutschland durch dramatisch eng gezogene Grenzen des Sagbaren erschwert, die in diesem Fall eben keinen antirassistischen Charakter haben, sondern zuerst Meinungsäußerungen von Menschen mit familiärem Bezug zu Gaza treffen. Wenn schon die Forderung nach einem Waffenstillstand als antisemitisch gelabelt wird, dann hat fast niemand mit Angehörigen im Gazastreifen eine Chance, nicht als Antisemit zu gelten.

Gerade trendet eine globale Boykott-Kampagne gegen US-Konzerne, die den Krieg unterstützen, besonders gestützt von progressiven Kanälen aus den USA, während im Deutschen Bundestag alle Parteien (einschließlich zwei Drittel der Linksfraktion) die internationale Boykott-Kampagne BDS als antisemitisch einstuften.

Hierdurch wird eine Ablösung stattfinden, eine weitere Welle der Erosion der "Mitte". Da kann Vizekanzler Robert Habeck (Grüne) noch so rhetorisch geschickt reden: Dass ein von SPD und Grünen geführtes Deutschland in der Versammlung der Vereinten Nationen nicht einmal für eine Waffenruhe gestimmt hat, während die überwältigende Mehrheit der Mitgliedsstaaten danach ruft, dass Kanzler Scholz meint, Israel würde sich in diesem Krieg an das Völkerrecht halten, während Krankenhäuser, Flüchtlingslager und angesagte Fluchtrouten bombardiert werden, das alles wird der Generation Z nicht zu verkaufen sein.

Nicht nur die migrantische Teil der Bevölkerung, sondern auch die progressive Jugend entfremdet sich vor ihren Smartphones nachhaltig vom Establishment, von Parteien und insbesondere von etablierten Medien.

Dies hat erhebliche Folgen für die Politik. Hatte die etablierte Mitte bereits mindestens rund 15 Prozent der Bevölkerung nach rechts verloren, die dem etablierten Politik- und Medienbetrieb nichts mehr glauben, wuchs die Skepsis während der Pandemie bei weiteren Teilen der Bevölkerung, was sich unter anderem an den hohen Zahlen der Nichtwähler:innen ablesen ließ.

Das geringe Vertrauen in etablierte Parteien, die aktuellen Probleme lösen zu können, schwindet. Und nun auch noch die migrantischen, besonders loyalen Bürger:innen und die progressive Generation Z. In Deutschland, einst Hort der politischen Stabilität und der breiten Mitte, müssen Regierende bald damit leben, dass eine bunte und widersprüchliche Mehrheit aus ganz unterschiedlichen Gründen den Institutionen grundsätzlich misstraut.

Der Westen verliert Soft Power

Diese Erosion im Inneren ist ein weiterer Faktor zur Schwächung des Westens in der neuen multipolaren Welt. Wir wissen, dass die modernsten Städte in China und Golfstaaten gebaut werden. Wir wissen, dass die Robotisierung von Städten ganz bestimmt nicht in Europa starten wird.

Wir wissen, dass die BRICS-Staaten viele Aufnahmeanträge zu bearbeiten haben, dass China seine Handelsbeziehungen in Afrika und Südamerika immer weiter ausbaut, während im Süden eine prowestliche Regierung nach der anderen stürzt. Der Krieg in der Ukraine hat dem Westen noch einmal einen massiven Schub gegeben.

Einer der Hauptkonkurrenten, Russland, hatte sich bis auf die Knochen blamiert. Militärisch schwächer als gedacht und moralisch bankrott in der blinden Verwüstung ukrainischer Städte ohne klares erreichbares Kriegsziel. Der globale Süden ist den Rufen nach Sanktionen nicht gefolgt, aber der Konkurrent Russland hat massiv an Substanz, an Image und Soft Power verloren.

Soft Power beschreibt die politische, kulturelle und ideologische Attraktivität eines Blocks im geopolitischen Wettbewerb. Sie ist ein entscheidender Erfolgsfaktor. Verfügt ein Block über viel Soft Power, versuchen andere Staaten, dieses Modell zu imitieren und sind dadurch leicht erreichbar und beeinflussbar.

Soft Power erleichtert die Erschließung von Märkten und vor allem die Gewinnung von Wissen und Fachkräften. Der Westen präsentierte sich als die freie Welt, die im Gegensatz zu Russland Kriege und Eroberungen hinter sich gelassen hat und als Handels- und Ordnungsmacht für eine bessere Welt sorgen will.

Deutschland proklamierte eine "wertegeleitete Außenpolitik". Diese Geschichte ist vorbei. Man hat einen Krieg gegen Gaza finanziell, militärisch und durch Abstimmungen unterstützt, in dem nach Unicef-Angaben bereits im ersten Monat mehr Kinder getötet wurden als in eineinhalb Jahren Ukraine-Krieg. Die Doppelmoral des Westens ist so eklatant, dass das Narrativ vom moralisch besseren Westen wie ein Kartenhaus in sich zusammenfällt.

Gerade Deutschland, das seit den Merkel-Jahren große Sympathiegewinne im globalen Süden und insbesondere in der arabischen Welt verzeichnen konnte, verbrennt mit einem Schlag alle seine Soft-Power-Karten. Während der Westen dieses Gemetzel aktiv unterstützt, hat China vom ersten Tag des Krieges an einen Waffenstillstand und Verhandlungen für eine dauerhaften Frieden unter der Leitung der Vereinten Nationen gefordert.

Die Welt lernt gerade, wo die für alle sorgende Ordnungsmacht dieses Jahrhunderts sein könnte. Der Innerlich zerrissene und nach Außen moralisch blamierte und in der UN mehr und mehr isolierte Westen wird es nicht mehr sein.