Gefahren und Hoffnungen einer entstehenden multipolaren Welt
Weltwirtschaft in tiefgreifendem Wandel. Aufgewertet werden Länder, die bei der Industrialisierung einst abgehängt worden sind. Das hat erhebliche Folgen. Ein Gastbeitrag.
Die am 30. Mai erfolgte Veröffentlichung der jüngsten Schätzungen der Weltbank zur Entwicklung der nationalen Produktionskapazitäten bis zum Jahr 2022 ist Anlass, über die neue geopolitische Situation nachzudenken.
Die neuen Daten unterstreichen den Wandel von einer US-geführten zu einer multipolaren Weltwirtschaft, eine Realität, die US-Strategen bisher nicht anerkennen und zur Kenntnis nehmen. Die Zahlen der Weltbank machen jedoch deutlich, dass die wirtschaftliche Dominanz des Westens zu einem Ende gekommen ist.
Die Zeit der wirtschaftlichen Dominanz des Westens ist vorbei
So entfielen 1994 auf die westlichen G7-Länder, und das sind Kanada, Frankreich, Deutschland, Italien, Japan, Vereinigtes Königreich und die USA, 45,3 Prozent der Warenproduktion in der Welt, verglichen mit 18,9 Produzent auf die BRICS-Länder, wozu Brasilien, China, Ägypten, Äthiopien, Indien, Iran, Russland, Südafrika und die Vereinigten Arabischen Emirate gehören.
Mittlerweile hat sich das Blatt gewendet. Die Brics-Länder produzieren heute 35,2 Prozent der Weltproduktion, während die G-7-Länder nur noch 29,3 Prozent herstellen.
Seit 2022 sind die fünf größten Volkswirtschaften in absteigender Reihenfolge China, die USA, Indien, Russland und Japan. Chinas BIP (Brutto-Inland-Produkt) ist um etwa 25 Prozent größer als das der USA. Pro Person beträgt es etwa 30 Prozent des BIP der USA, aber bei einer 4,2-mal so großen Bevölkerung.
Heute sind drei der fünf wirtschaftlich größten Länder Mitglied in der BRICS, während nur zwei davon Mitglied der G7 sind. Im Vergleich zu 1994 haben sich auch hier die Verhältnisse geändert. Denn vor 30 Jahren waren die USA, Japan, China, Deutschland und Indien die fünf wirtschaftlich größten Staaten, von denen noch drei zu G7 und nur zwei zu Brics gehörten.
Der globale Einfluss der USA schwindet
So wie sich die Anteile an der Weltwirtschaft geändert haben, ändern sich auch die globalen Machtverhältnisse.
Die von den USA geführte Kernallianz, zu der die USA, Kanada, Großbritannien, die Europäische Union, Japan, Korea, Australien und Neuseeland gehören, machte 1994 56 Prozent der Weltproduktion aus, heute sind es nur noch 39,5 Prozent.
Infolgedessen schwindet der globale Einfluss der USA. Ein aktuelles anschauliches Beispiel dafür: Als die von den USA geführte Gruppe im Jahre 2022 Wirtschaftssanktionen gegen Russland einführte, schlossen sich nur sehr wenige Länder außerhalb des Kernbündnisses diesen Sanktionen an. Infolgedessen hatte Russland wenig Probleme, seinen Handel in Länder außerhalb des von den USA geführten Bündnisses zu verlagern.
Weltweite Konvergenz in der Wirtschaftstätigkeit
Die Weltwirtschaft befindet sich in einem tiefgreifenden Prozess der gegenseitigen wirtschaftlichen Annäherung, auch Konvergenz genannt, wobei Regionen, die im 19. und 20. Jahrhundert bei der Industrialisierung hinter dem Westen zurückgeblieben waren, jetzt die verlorene Zeit aufholen.
Die wirtschaftliche Konvergenz begann eigentlich schon in den 1950er Jahren, als die europäische imperiale Herrschaft in Afrika und Asien zu Ende ging. Sie hat sich in Wellen weiterentwickelt, zuerst in Ostasien, dann etwa 20 Jahre später in Indien und in den kommenden 20 bis 40 Jahren wird das in Afrika ebenfalls geschehen.
Diese und einige andere Regionen wachsen heute viel schneller als die westlichen Volkswirtschaften, da sie mehr "Spielraum" nach oben haben, um das BIP zu steigern, indem sie das Bildungsniveau schnell anheben, die Qualifikation ihrer Arbeitnehmer verbessern und eine moderne Infrastruktur installieren, einschließlich des universellen Zugangs zu Elektrifizierung und digitalen Plattformen.
Die Schwellenländer sind oft in der Lage, die vermögenderen Länder mit modernster Infrastruktur (z. B. schnelle Intercity-Bahnen, 5G, moderne Flug- und Seehäfen) zu überholen, während die wohlhabenderen Länder mit einer alternder Infrastruktur und teuren Nachrüstungen konfrontiert sind.
Der World Economic Outlook des Internationalen Währungsfonds prognostiziert, dass die Schwellen- und Entwicklungsländer in den kommenden fünf Jahren ein durchschnittliches Wachstum von etwa vier Prozent pro Jahr erzielen werden, während die Länder mit hohem Einkommen durchschnittlich weniger als zwei Prozent pro Jahr erreichen werden.
Schwellenländer wie China machen schnelle Fortschritte
Nicht nur bei den wirtschaftlichen Fähigkeiten und der Infrastruktur findet eine Konvergenz statt. Viele der Schwellenländer, darunter China, Russland, Iran und andere, machen auch bei technologischen Innovationen schnelle Fortschritte, sowohl bei zivilen als auch bei militärischen Technologien.
China hat eindeutig einen großen Vorsprung bei der Herstellung von Spitzentechnologien, die für die globale Energiewende benötigt werden, darunter Batterien, Elektrofahrzeuge, 5G, Fotovoltaik, Windturbinen, Kernenergie der vierten Generation und andere.
Chinas rasante Fortschritte in der Weltraumtechnologie, Biotechnologie, Nanotechnologie und anderen Technologien sind ähnlich beeindruckend. Als Reaktion darauf haben die USA die absurde Behauptung aufgestellt, dass China eine "Überkapazität" in diesen Spitzentechnologien habe, während die offensichtliche Wahrheit die ist, dass die USA in vielen Sektoren eine erhebliche Unterkapazität aufweist.
Chinas Fähigkeit zu Innovation und kostengünstiger Produktion wird durch enorme Ausgaben für Forschung und Entwicklung und seine riesige und wachsende Zahl von Wissenschaftlern und Ingenieuren untermauert.
USA setzen weiter auf Strategie der "Vorherrschaft"- aber vergeblich
Trotz der neuen globalen wirtschaftlichen Realitäten verfolgt der US-Sicherheitsstaat immer noch seine große Strategie des "Vorherrschaft". Darunter ist das Bestreben der USA zu verstehen, die dominierende wirtschaftliche, finanzielle, technologische und militärische Macht in jeder Region der Welt zu sein und zu bleiben.
Die USA versuchen immer noch, diese Vorherrschaft in Europa aufrechtzuerhalten, indem sie Russland in der Schwarzmeerregion mit Nato-Truppen umzingeln, doch Russland hat sich sowohl in Georgien als auch in der Ukraine militärisch dagegen zur Wehr gesetzt.
Die USA versuchen immer noch, die Vorherrschaft in Asien aufrechtzuerhalten, indem sie China im Südchinesischen Meer umzingeln, eine Torheit, die die USA in einen katastrophalen Krieg um Taiwan führen kann.
Die USA verlieren auch ihr Ansehen im Nahen Osten, indem sie sich dem gemeinsamen Ruf der arabischen Welt nach Anerkennung Palästinas als 194. Mitgliedsstaat der Vereinten Nationen widersetzen.
Doch die Aufrechterhaltung einer Vorherrschaft ist heute sicherlich nicht mehr möglich und war auch schon vor 30 Jahren anmaßend, Ausdruck eine Hybris, als die relative Macht der USA noch sehr viel größer war.
Ablösung der US-Hegemonie durch chinesische Hegemonie nicht zu erwarten
Heute liegt der Anteil der USA an der Weltproduktion bei 14,8 Prozent, verglichen mit 18,5 Prozent für China, und der Anteil der USA an der Weltbevölkerung beträgt nur 4,1 Prozent, verglichen mit 17,8 Prozent für China.
Der Trend zu einer breiten globalen wirtschaftlichen Konvergenz bedeutet aber nicht, dass die US-Hegemonie durch die chinesische Hegemonie ersetzt wird.
Tatsächlich wird Chinas Anteil an der Weltproduktion im kommenden Jahrzehnt wahrscheinlich seinen Höchststand von etwa 20 Prozent des Welt-BIP erreichen und danach mit dem Rückgang der chinesischen Bevölkerung wieder sinken.
Andere Teile der Welt, insbesondere Indien und Afrika, werden dann wahrscheinlich einen starken Anstieg ihrer jeweiligen Anteile an der globalen Produktion und damit auch ihres geopolitischen Gewichts erreichen.
Entstehung einer posthegemonialen multipolaren Welt
Wir treten also ein in eine posthegemoniale, multipolare Welt ein, die auch voller Herausforderungen ist.
Es könnte eine neue "Tragödie der Großmachtpolitik" beginnen, wenn mehrere mächtige Staaten, die zugleich Atommächte sind, miteinander vergeblich um die Hegemonie konkurrieren. Das könnte zu einem Zusammenbruch fragiler globaler Regeln führen, wie z. B. denen des offenen Handels im Rahmen der WTO, der Welthandelsorganisation.
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Aber es könnte auch zu einer Welt führen, in der die Großmächte, in Übereinstimmung mit der UN-Charta, gegenseitige Toleranz, Zurückhaltung und sogar Zusammenarbeit praktizieren, weil sie erkennen, dass im Atomzeitalter nur eine von der Vernunft geleitete Politik, die auf Interessenausgleich setzt, die Welt für alle lebenswert erhalten und vor der Vernichtung bewahren kann.
Jeffrey Sachs (1954, Detroit, Michigan) ist ein US-amerikanischer Ökonom und Professor. Er promovierte 1980 an der Harvard University in Wirtschaftswissenschaften. Sachs' Karriere ist geprägt von verschiedenen akademischen Positionen sowie Beratertätigkeiten für bedeutende internationale Organisationen wie die Vereinten Nationen, den Internationalen Währungsfonds (IWF) und die Weltbank (WTO).
Als Direktor des Center for Sustainable Development an der Columbia University und als Professor setzt er sich intensiv für nachhaltige Entwicklung ein. Besonders bekannt ist Sachs für seine maßgebliche Rolle bei der Entwicklung von Wirtschaftspolitiken in Osteuropa während des Übergangs vom Kommunismus zum Kapitalismus. Er gilt als Verfechter globaler Armutsbekämpfung.
Sachs' Leistungen in der Wirtschaftswissenschaft brachten ihm zahlreiche Auszeichnungen und Ehrungen ein. Sein Werk und sein Einsatz für eine gerechtere Weltwirtschaft haben seinen Einfluss weit über die Grenzen der akademischen Welt hinaus ausgedehnt. In "The Price of Civilization: Reawakening American Virtue and Prosperity" (2011) setzt er sich mit Fragen der US-Gesellschaft und Wirtschaft auseinander.
Telepolis hat von Sachs in der letzten Zeit eine Reihe von aufklärenden und mutigen Artikeln über Hintergründe, Verlauf und Auswirkungen des Ukraine-Kriegs und des Israels Krieg in Gaza veröffentlicht.
Sachs gehört wie Mearsheimer zu den herausragenden US-Wissenschaftlern, die eine klare realistische und sehr kritische Position gegenüber diesen Kriegen und der verhängnisvollen US-Außenpolitik einnehmen.
Der vorliegende Artikel von Jeffrey D. Sachs mit dem Titel "The Perils and Promise of the Emerging Multipolar World" (deutsch: "Gefahren und Hoffnungen in der sich entwickelnden multipolaren Welt") erschien am 6. Juni 2024 auf der US-Website Common Dreams. Dieser Text wurde mit Erlaubnis des Autors von Klaus-Dieter Kolenda ins Deutsche übertragen und mit einigen Zwischenüberschriften versehen.
Übersetzer: Klaus-Dieter Kolenda, Prof. Dr. med., Facharzt für Innere Medizin – Gastroenterologie, Facharzt für Physikalische und Rehabilitative Medizin/Sozialmedizin, war von 1985 bis 2006 Chefarzt einer Rehabilitationsklinik für Erkrankungen des Herz-Kreislaufsystems, der Atemwege, des Stoffwechsels und der Bewegungsorgane. Seit 1978 ist er als medizinischer Sachverständiger bei der Sozialgerichtsbarkeit in Schleswig-Holstein tätig. Zudem arbeitet er in der Kieler Gruppe der IPPNW e.V. (Internationale Ärztinnen und Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs und für soziale Verantwortung) mit. E-Mail: klaus-dieter.kolenda@gmx.de