Gegen Armut hilft kein Impfstoff
"Corona" spaltet die Gesellschaft? Nein, dafür kann das Virus nun wirklich nichts
Was so ein kleines Virus alles anstellen soll: Jetzt ist "Corona" auch noch schuld an der verstärkten Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich. Die Meldungen dazu häufen sich, gerade in der Weihnachtszeit. Dann drücken die Medien traditionell noch mehr auf die Tränendrüsen. Richtiger wird das damit allerdings nicht.
Das gewerkschaftsnahe Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) aus Düsseldorf stellt in seinem "Verteilungsbericht 2020" fest: "Die Einkommensungleichheit wird durch die Corona-Krise weiter verstärkt."
Grundlage hierfür sind Befragungen verschiedener Einkommensgruppen zwischen April und Juni des Jahres. Es sollte angegeben werden, wie sehr Einbußen durch die Wirkungen der Maßnahmen gegen die Pandemie zu verzeichnen waren. Die Personen mit den geringsten Einkommen gaben die größten Verluste an, die mit den höchsten die geringsten.
Erklärt wird dieses Phänomen mit verschiedenen Effekten. Die Süddeutsche Zeitung fasst zusammen: "Wenigverdiener arbeiten öfter im sozialen Bereich, in der Fabrik oder im Supermarkt (…) Wenn Firmen gerade Leute entlassen, sind dies oft Leiharbeiter und Minijobber, die sowieso weniger verdienen als die Allgemeinheit."1
Auch die Kurzarbeit trifft die Menschen unterschiedlich hart: "Diesmal (im Vergleich zur Finanzkrise 2008 - B.H.) gibt es auch viel Kurzarbeit im Gastgewerbe, bei Verkehr/Logistik und generell in Kleinbetrieben. Also in Bereichen, wo ohnehin unterdurchschnittlich bezahlt wird (…) Generell zeigt sich: Wer in Deutschland am wenigsten verdient, bis zu 1.700 Euro netto im Monat, arbeitet am häufigsten kurz."2Für Bettina Kohlrausch, Direktorin des WSI, ist damit klar: "Menschen, die zuvor schon wenig hatten, sind in der Krise besonders oft und besonders hart von wirtschaftlichen Verlusten betroffen."
Von der Hand in den Mund
Ein nicht allzu überraschender Befund: Wer täglich von der Hand in den Mund lebt, keine bedeutenden Rücklagen bilden kann, und wem seine miese Einkommensquelle dann genommen wird - der hat ein existenzielles Problem. Diese Lage hat aber das Corona-Virus nicht erzeugt. Sondern es ist das Ergebnis des Verhältnisses zwischen Kapital und Arbeit. Wer da auf der Arbeit-Seite steht, muss hoffen, vom Kapital beschäftigt zu werden. Bezahlt wird dann ein "Einkommen", das nie die Höhe erreicht, sich vom Zwang zu befreien, seine Arbeitskraft verkaufen zu müssen.
Das verraten die Forscher auch, wenn sie auf die höheren Einkommensgruppen verweisen. Die haben zwar das Problem weniger. Solche Leute baden indes ebenfalls nicht im Geld. Sie sind auf ein monatliches Einkommen angewiesen, um ihr Leben zu finanzieren. Aber sie fallen immerhin nicht ins Nichts, da darf man schon froh sein.
Sie können sich bisher durchwursteln, weil das Kurzarbeitergeld die notwendigen Ausgaben für die Lebenshaltung einigermaßen ermöglicht. Oder weil sie das zweifelhafte Glück haben, in "systemrelevanten" Berufen zu arbeiten. Einbußen von bis zu einem Drittel des Gehalts oder Lohns sind aber auf Dauer auch für die "Bessergestellten" in der Hierarchie der abhängig Beschäftigten nicht zu verkraften. Das bemerken selbst die WSI-Experten.
Die Autoren des regelmäßig erscheinenden "Verteilungsberichts" beschäftigt jedoch diese ökonomisch prekäre Lage nur in sehr eigentümlicher Weise: Sie messen "Einkommensungleichheit". Sie stellen sich die Gesamtheit der Einkommen von "Erwerbspersonen" in Deutschland vor und schauen sich an, wie diese unter den Leuten verteilt ist.
Nebenbei: Die Vermögen der Menschen, die nicht arbeiten müssen, weil sie schlicht zu reich dafür sind, werden nicht erfasst. Ein Zehntel der Deutschen verfügte 2017 nach Angaben des Sozio-oekonomischen Panels über rund 56 Prozent des gesamten gesellschaftlichen Vermögens. Das oberste Prozent kommt danach auf einen Anteil von 18 Prozent. Das sind bei einem Gesamt-Nettovermögen von 7,78 Billionen Euro stolze 1,4 Billionen oder 1.400 Milliarden im Besitz eines Hundertstels der erwachsenen Bevölkerung.
Für ein paar Euro mehr
Die WSI-Experten konstatieren Jahr für Jahr mit einem "Gini-Koeffizient" messerscharf, in welche Richtung sich die unteren, mittleren und hohen Einkommensgruppen verschoben haben. Lautet der Koeffizient "Null", hat jeder das gleiche Einkommen. Bei "Eins" vereint sich alles Einkommen auf eine Person, alle anderen bekommen nichts. Der letzte gemessene Wert liegt bei 0,289 für 2017, eine leichte Verbesserung der Ungleichheit gegenüber den Vorjahren, aber seither stagniert sie, sagen die Forscher. Mit einem anderen Index ausgedrückt: "...die reichsten 10 % der deutschen Haushalte (besitzen mehr - B.H.) als die ärmsten 40 % zusammen."3
Und, ist das jetzt schlimm, weniger schlimm oder gar nicht? Anders gefragt: In welcher Welt leben diese Wissenschaftler? Jedenfalls nicht in einer, in der durch die kapitalistische Ausbeutung von Arbeitskräften notwendig und ganz gezielt "Einkommensunterschiede" (und noch weit eklatanter Vermögensunterschiede zwischen den Profiteuren des Wirtschaftssystems und den Beschäftigten) entstehen. Und an denen sich die Gewerkschaften mit ihren Tarifverträgen fleißig beteiligen.
Darin enthalten sind schließlich die bis ins kleinste Detail ausgeführten Stellenbeschreibungen, wem welches Geld zukommen darf. Der Kapitalseite ist das sehr recht. So bezahlt sie mit dem Segen der Arbeitervertreter kein Cent zu viel, kann mit den diversen Posten die Konkurrenz unter den Beschäftigten prima befeuern - auf dass sich möglichst alle kräftig ins Zeug legen, für ein paar Euro mehr.
Das gewerkschaftsnahe Institut WSI will davon offenbar nichts wissen. Lieber konstruiert man sich eine Art Einkommens-"Kuchen". Dessen Tortenstücke, so die Einbildung, werden ungleich geschnitten. Doch man täusche sich nicht: Dass alle ein gleich großes Stück bekommen sollten, der Gini-Koeffizient eines Tages gen Null geht, meinen die Forscher keineswegs. So "realistisch" sind sie dann schon. Dementsprechend fallen ihre Empfehlungen aus.
Sie fordern unter anderem, "Wenigverdienern" ein "Mindestkurzarbeitergeld von 1200 Euro im Monat zu geben". Außerdem plädieren sie für einen Mindestlohn von zwölf Euro die Stunde und die Verlängerung des Arbeitslosengeldes. Und, kein Scherz, "mehr Tarifverträge" wären auch gut.4 Jene Verträge, deren Inhalte gerade die Einkommensunterschiede festschreiben.
Ein bisschen weniger "ungleich" reicht
Die Ratschläge des WSI zielen eben nicht auf eine Beseitigung von "Ungleichheit". Ein bisschen weniger ungleich müsste reichen. Wofür?
"Wir sehen in unserer Forschung deutlich: Menschen mit Einkommensverlusten beurteilen die politische und soziale Situation im Land deutlich kritischer. Und sie zeigen sich im Durchschnitt sogar empfänglicher für Verschwörungsmythen zur Pandemie"5
Für wen ist demnach ein erbärmliches Einkommen das größere Problem? Nicht für die betreffenden Menschen, sondern für den Staat. Diese Leute könnten doch glatt auf dumme Gedanken kommen!
Was immer sich die Forscher darunter vorstellen, ihr Schluss daraus ist zynisch: Geben wir denen doch einfach eine bessere Mindestausstattung, dann werden die schon alles wieder gut finden. Zumindest in dem Maße, dass sie in ihrer Armut nicht unangenehm auffallen. Und den Wissenschaftlern bleibt mit Sicherheit ihr Forschungsgegenstand Ungleichheit erhalten. Arbeitslos werden die nicht.
Der Armutsbericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbands schlägt in eine ähnliche Kerbe. Die Ausgabe 2020 trägt den Titel "Gegen Armut hilft Geld". Dem ist erst einmal nicht zu widersprechen. Die Millionen will aber auch der Verband nicht ausschütten, geschweige denn die Ungleichheit nach dem "Gini-Koeffizient" auf null bringen. Vielmehr fordert man "eine bedarfsgerechte Anhebung der Regelsätze in Hartz IV und der Altersgrundsicherung (nach Berechnungen der Paritätischen Forschungsstelle auf mindestens 644 Euro), die Einführung einer Kindergrundsicherung sowie Reformen von Arbeitslosen- und Rentenversicherung".6
Immerhin liegt der Verband damit um stolze 41 Euro über den Vorstellungen von Bündnis 90/Die Grünen, ab wann für Hartz IV-Empfänger "die Einkommensarmut praktisch beseitigt" wäre.7
Bedauern heißt nicht bekämpfen
Wie Verband und Grüne auf ihre exakten Daten kommen? Sicher nicht, indem sie den Maßstab einigermaßen sorglosen Lebens anlegen. Sondern beide unterstellen ganz selbstverständlich, dass es in dieser doch so reichen Gesellschaft eine existenzbedrohende Armut dauerhaft gibt. Das bedauern sie, bekämpfen die Armut jedoch nicht. Schließlich müssten sie sich dann ihren Ursachen widmen. Die eben nichts mit einer falschen "Verteilung" zu tun haben.
Vielmehr ist die Armut Resultat eines Wirtschafts-Systems, das für eine Menge Leute gar keine Verwendung hat. Und vielen anderen zu wenig für ein halbwegs normales Leben bezahlt - nicht aus bösem Willen, sondern weil Lohn und Gehalt Kosten bedeuten, die den Profit schmälern. Und Profit muss sein, denn ohne gibt es kein Geschäft. Die ganz normalen Arbeitnehmer - siehe "höheres Einkommen" - fallen ebenso ins Leere, sobald sie nicht Monat für Monat ihr Geld bekommen. Ein Geld, das sie nur solange von ihrem Arbeitgeber erhalten, wie er mit ihnen seinen Gewinn erzielt.
Von einem "regional und sozial zerrissenen Land" spricht Ulrich Schneider vom Paritätischen Wohlfahrtsverband. Da teilt er die Sorge der Kollegen vom WSI, die Armut könnte den Zusammenhalt der Gesellschaft gefährden. "Die Corona-Krise dürfte (…) diesen Trend noch einmal spürbar beschleunigen." Sie habe "jahrelang verharmloste Probleme ans Licht gezerrt."
Als ob bis zur Pandemie den Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft das Phänomen Armut unbekannt gewesen wäre. Das stimmt natürlich nicht, die Bundesregierung erhebt selbst regelmäßig einschlägige Daten und berichtet darüber. Außerdem verfügen Behörden wie die Agentur für Arbeit über sehr exakte Listen ihrer Leistungsempfänger, da bleibt nichts verborgen.
Was ein Herr Schneider eigentlich meint: Mein Thema Armut bekommt jetzt im Zeichen von Corona noch mehr Bedeutung. Da muss die Politik doch endlich mehr auf meine Empfehlungen hören, wie die Armut am besten in den Griff zu bekommen ist. Was nicht zu verwechseln ist mit ihrer Abschaffung.
Mit "Corona" ist die Armut hierzulande nicht eingezogen. Sie war schon immer da - im Prinzip nämlich bei allen, die keine Mittel besitzen, ein profitables Geschäft aufzuziehen. Sie haben nur ihre Arbeitskraft, um an Geld zu kommen. Die Produktion in der kapitalistischen Wirtschaft basiert genau darauf: Dass es genügend Leute gibt, deren Mittellosigkeit sie zur abhängigen Beschäftigung zwingt.
Wenn alles funktioniert, steht am Ende der Veranstaltung auf der einen Seite ein ordentlicher Gewinn für den Betrieb. Gegenüber zählt der Arbeitnehmer seine Euro und weiß: Morgen muss ich da wieder hin. Schlimmer: Hoffentlich darf ich da wieder hin. Ich habe ja sonst nichts. So wird es auch nach der Pandemie bleiben. Denn gegen Armut im Kapitalismus hilft kein Impfstoff.
Literaturhinweis zum Thema Armutsforschung:
Renate Dillmann / Arian Schiffer-Nasserie: Der Soziale Staat. Über nützliche Armut und ihre Verwaltung. VSA Verlag Hamburg, 2018, S.28ff.