Gegenoffensive der Ukraine: "Es wird lang, es wird hart, es wird blutig"

Seite 3: Das Dilemma mit den Wunderwaffen

Tatsächlich ist von der angeblichen Überlegenheit westlicher Panzer wie Leopard und Abrams nichts mehr zu lesen, die in der Bild zu wahren Wunderwaffen erkoren wurden.

Denn diese Militärmaschinen haben sich als genauso anfällig erwiesen wie ihre russischen Gegenstücke. Sie sind schon in den ersten Tagen der Konterangriffe in den Minengürteln der Russen verreckt oder aus der Luft abgeschossen worden, wie die ukrainische Militärführung nur sehr widerwillig preisgegeben hat. Wenn ein Leopard einen Vorteil gegenüber den russischen Tanks hat, dann läge der darin, dass die Besatzungen größere Chancen hätten, heil herauszukommen.

Belegt ist das nicht. Panzer, welcher Bauart auch immer, sind im Zeitalter der Drohnen, Raketen und Kampfjets von wenig Nutzen. Schon mit einer aus der Hand gefeuerten Panzerfaust können sie außer Gefecht gesetzt werden.

Darauf haben unabhängige Militärexperten deutlich hingewiesen, als der Einsatz von Nato-Kampfboliden in der Diskussion war. Bezüglich der Leoparden ist in letzter Zeit auch mehr die Rede von Reparatur. Geht da gerade ein Mythos baden?

Die Konsequenz für die ukrainischen Soldaten besteht darin, dass sie nun zu Fuß durch die versteckten Pulverfallen geschickt werden, um ein paar Quadratmeter nationalen Terrains zu befreien. Moderne Kriegsführung stellt man sich anders vor.

Nachrufe über Nachrufe

In den Tagesmeldungen des ukrainischen Generalstabs hört sich das so an: "Wir sind 700 Meter vorgerückt." Oder: "Wir haben weitere 300 Meter zurückgelegt … Wir haben den Rand des Dorfes X erreicht."

Nüchterne Zahlen, hinter denen immer wieder Nachrufe stehen.

Vlasov sieht jeden Tag

Fotos von ukrainischen Männern und Frauen, die im Krieg gefallen sind. Im Zivilleben waren 90 Prozent von ihnen nicht beim Militär und haben auch nie daran gedacht, es zu werden. Unter den Toten sind Ärzte, Unternehmer, Lehrer, Schriftsteller, Journalisten, Programmierer, Opernsänger, Musiker, Ingenieure, Erfinder, Bauern – die Farben der Nation. Sie alle waren erfolgreich und glücklich in einem friedlichen Leben, jeder von ihnen hatte nahe Verwandte, Kinder im Hintergrund. Nicht selten findet man Nachrufe auf Vater und Sohn, die im Krieg gefallen sind, auf Brüder, die in derselben Einheit als Soldaten gedient haben.

Laut einer aktuellen Umfrage hätten 78 Prozent der Ukrainer einen Verwandten, Freund oder Bekannten, der im Krieg gefallen ist.

Kein Grund für die USA, gemeinsam mit der ukrainischen Führung die Kriegsziele zu überdenken. Wie zuvor erwähnt: hart und blutig wird es sein.

Wissen solche "Verbündeten" wirklich noch, was sie sagen? Ist das nicht eine offene Frage, deren Antworten sich in einer gesellschaftlichen Auseinandersetzung ab- und ausarbeiten müssten? Dazu noch einmal Thomas Pany:

Im Krieg finden täglich Grausamkeiten statt, die Menschen in normalen Lebensumständen über Jahre hinaus traumatisieren. Das Aussparen dieser entsetzlichen Seite des Kriegs wird zum politischen Argument, weniger in Talk-Show-Runden oder Medienkommentaren als in informellen Gesprächsrunden, Internetdebatten eingeschlossen, wenn es heißt:

Der Politiker oder die Politikerin, der oder die Medienschaffenden, der oder die Experten, die für mehr Waffenlieferungen oder gar für Nato-Einsätze in der Ukraine plädieren, könnten "leicht reden", weil sie ihre Haut und die ihrer Nahestehenden nicht riskieren.

Mit "no skin in the game" fasst die englische Sprache diesen Vorwurf sehr griffig. Der lautet, dass Menschen, die kein echtes Risiko haben, blind gegenüber der vollen Verantwortung für die Folgen ihrer Äußerungen sind.

Leise Kritik regt sich

In der Kritik, die sich vereinzelt aus Kreisen von unabhängigen Militärbeobachtern meldet, wird die menschenverachtende Brutalität, die sich Tag für Tag in der östlichen Ukraine kaum thematisiert. Es geht ihnen vor allem um die Strategien als Ganze.

Für die französischen Militäranalysten Michel Goya und Jean Lopez sieht es laut Telepolis schon seit geraumer Zeit in der Ukraine nicht nach einer schnellen militärischen Lösung aus.

Auch wenn hierzulande in der Öffentlichkeit der Eindruck entstanden ist, dass die ukrainischen Verteidiger auf der Siegesstraße sind und sämtliches Territorium, das von russischen Truppen besetzt ist, zurückholen könnten, so schränken die zwei Militäranalytiker aus Frankreich die Aussichten ein.

Ihre aktuelle Lageeinschätzung wurde im geopolitischen Magazin Le Grand Continent veröffentlicht. Sie äußern ein paar Punkte, die in der bundesdeutschen Öffentlichkeit kaum zu finden sind.

Es gebe operativ für die Ukrainer nicht viele Lösungen, bilanziert Michel Goya. Die Optionen für den ukrainischen Generalstab würden schrumpfen, je weiter der Krieg voranschreitet.

Daraus ziehen sie eine Folgerung, "die in der westlichen Medienöffentlichkeit nicht gerade favorisiert wird." Die Lösung liege möglicherweise darin, "an diplomatische Kompromisse zu denken."

Sahra Wagenknecht lässt grüßen.

Eine Gruppe von Militär-Controllern, deren Berichte für Fachpublikationen das polnische Portal gazeta.pl zusammenfasst, kommt zu ähnlichen Schlüssen wie die französischen Kollegen. Die Truppe sei zwar nach wie vor hochmotiviert zu kämpfen, heißt es dort, aber das Offizierskorps sei nicht ausgebildet, ein "Gefecht der verbundenen Waffen" nach Nato-Standards zu führen.

Es fehle auch an Koordination der verschiedenen Einheiten. Die auch von T-Online und Tagesschau zitierten Experten bemängelten zudem, dass die Ausbildung der ukrainischen Soldaten in der Bedienung westlicher Waffensysteme im Crashkurs viel zu kurz gewesen sei und deshalb im Stress der Gefechtssituation immer wieder fatale Fehler vorkämen.

Es gebe offenbar zahlreiche militärisch-taktische Defizite, fasst Franz-Stefan Gady, Politikberater und Analyst am Institute for International Strategic Studies (IISS) in London zusammen. Diese strategischen Fehler seien das größte Hindernis für entscheidende Durchbrüche der russischen Linien.

Eine Quintessenz der Expertengruppe:

Das Narrativ (von ukrainischer Seite), dass die Gegenoffensive deswegen so langsam vorankommt, weil zu wenige Waffen geliefert werden, ist monokausal und wird von denen, die an der Front kämpfen, nicht gestützt.

Gleichzeitig wird das ukrainische Militär in Schutz genommen:

Keine Streitkraft der Welt hat derzeit praktische Erfahrungen damit, wie man ein so dichtes und tief gestaffeltes Verteidigungssystem, wie die Russen es im Süden und im Osten der Ukraine etabliert haben, im Kampf der verbundenen Waffen überwinden kann. Eine solche Art der Verteidigungsanlagen haben wir seit Ende des Zweiten Weltkrieges in Europa nicht mehr gesehen.

Die Hoffnungen, dass die russischen Streitkräfte aufgrund mangelnder Moral oder schlechter Ausrüstung sich auflösen, hält Gady für gering und kommt zu der Prognose, dass es aus rein militärischer Perspektive in den kommenden Monaten nicht zu einem Ende der Kampfhandlungen komme. Mit Wahrscheinlichkeit werde dieser Krieg auch ins nächste Jahr gehen.

Muss man da wirklich ein Putin sein, um die Gegenoffensive als gescheitert zu betrachten?

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