Gehirnareal für das Aufspüren von Schwindeleien
Für das Durchschauen von komplizierten sozialen Beziehungen gibt es nach Ansicht von Wissenschaftlern eine eigenständige soziale Intelligenz
Auch vor der Erfindung des Lügendetektors, in dessen Genuss jetzt auch US-Abgeordnete kommen sollen, die im Geheimdienstausschuss sitzen, haben Menschen mehr oder weniger erfolgreich die Glaubwürdigkeit ihrer Mitmenschen abzuschätzen. Bei aller aufklärerischen Wahrheitsobsession und Kritik am Schein halten es die Menschen oft auch nur deswegen miteinander aus, weil sie lügend sich das Leben gegenseitig, aber auch schon gegenüber sich selbst erträglicher machen. Angeblich haben die Menschen, um nicht ganz dem wechselseitigen Trug anheimzufallen, auch einen Lügendetektor im Gehirn entwickelt.
Manche Anthropologen sind der Meinung, dass die menschliche Intelligenz sich wesentlich dem "sozialen Gehirn" verdankt. Für Lebewesen, die in festen Gruppenverbänden mit nicht ganz einfachen Hierarchien und Zuwendungsstrategien (Kraulen) leben, könnte tatsächlich ab einer gewissen Stufe der Komplexität, die auch mit der Kunst des Lügens und Schwindelns zusammen hängt, eine Schwelle überschritten worden sein. Schließlich wird erst auch dann die Frage nach der Wahrheit bedeutsam, wenn Lüge oder Schein entdeckt werden kann, und wenn diese häufiger vorkommen als das knappe Gut der Wahrheit.
Die Kunst des Aufdeckens könnte aus dem Umgang mit den Mitmenschen erwachsen sein, die mit allen Mitteln versuchen, ihre Interessen zu verfolgen und dabei auch gerne zu Schwindeleien greifen. Die sind dann um so perfekter auszuüben, wenn Lebewesen über ein Selbstbewusstsein verfügen, wodurch sie auch in der Lage sind, sich in Andere hineinzuversetzen oder sich selbst aus der Perspektive eines Anderes zu sehen. Dann nämlich können sie auch Schauspielern, also wissen, wie man sich verhalten muss, um Andere glaubhaft von etwas zu überzeugen. Da aber alle mehr oder weniger in einer Gruppe über diese Fähigkeit verfügen, findet wie immer ein Wettrüsten zwischen Entlarvung und Perfektionierung der Lüge statt, das die Intelligenz weiter treibt. Allerdings gibt es erhebliche Unterschiede beim Lügen. Sich selbst zu beschwindeln ist etwas völlig anderes als zu versuchen, einen Anderen von etwas Falschem zu überzeugen, was sich wiederum davon unterscheidet, beispielsweise manches nur zu verschweigen oder moralische Anforderungen nicht zu erfüllen.
Lokalisierung des Lügens und des Erkennens von Betrügereien im Gehirn
Mit Hilfe der funktionellen Kernspintomografie haben Wissenschaftler feststellen können, dass beim Lügen bestimmte Gehirnareale aktiv sind. Allerdings gingen sie für die Interpretation ihres Experiments davon aus, dass das Gehirn gewissermaßen die Wahrheit sagen möchte, während Lügen einen größeren Aufwand mit sich bringt. Die Wahrheit müsse nämlich unterdrückt werden, weswegen Lügen ein komplexerer Vorgang sei und beispielsweise eine höhere Aufmerksamkeit verlange (Erhöhte neuronale Aktivität beim Lügen). Das aber ist reichlich spekulativ, wenn auch nachzuvollziehen ist, dass Lügen wie viele andere höheren kognitiven Leistungen eine kompliziertere Verhaltensweise ist, etwas zu erhalten, als wenn direkt darauf zugegriffen wird.
In einem anderen Experiment haben Psychologen gezeigt, dass die meisten Menschen, lügen , wenn sie sich unterhalten und sich sympathisch sowie kompetent geben wollen. Das aber ist so verwunderlich auch nicht, wenn sie Versuchspersonen aufgefordert wurden, durch ihr Verhalten für einen bestimmten Eindruck beim Anderen zu sorgen, denn Selbstdarsteller sind Schauspieler, die auf einer Bühne vor Zuschauern agieren (Lügen ist das halbe Leben).
In zwei Beiträgen, die in den Proceedings of the National Academy of Sciences (3526 und 3529) veröffentlicht wurden, führen nun Neurowissenschaftler und Anthropologen Hinweise vor, dass die Fähigkeit, Schwindeleien oder Betrügereien zu entdecken, die Eigenschaft eines darauf spezialisierten Areals und nicht die allgemeine Leistung der Intelligenz ist. Schwindeln in einem sozialen Austauschverhältnis (Wenn du mir dies oder jenes gibst, dann gebe ich dir dies oder jenes oder so ähnlich), ist nicht dasselbe wie Lügen, aber damit zumindest verwandt und oft auch verbunden. Die Neurowissenschaftler von der University of Denver untersuchten mit dem standardisierten Fragenkatalog einen Mann (R M), der durch einen Fahrradsturz 1974 Hirnverletzungen erlitten hatte. Dabei wurde vor allem das limbische System beschädigt, in dem primär emotionale Informationen verarbeitet werden und das auch für moralische Einstellungen verantwortlich sein soll.
R M vermag ganz normal die Verhaltensweisen anderer Menschen zu analysieren und zu beurteilen, wenn sie nichts mit sozialen Anforderungen zu tun haben, wie sie in Sätzen wie "Wenn du x erhalten willst, musst du dafür y machen" enthalten ist. Das aber ist formal identisch mit der Fähigkeit, mögliche Betrügereien zu erkennen, was R M vermutlich aufgrund des beschädigten limbischen Systems versagt ist. Daraus schließen die Wissenschaftler, dass das Erkennen von Betrügern in sozialen Beziehungen eine gesonderte Fähigkeit ist und nicht abhängig ist vom allgemeinen Denkvermögen, das bei R M vorhanden war.
Evolutionär erworben, nicht kulturell bedingt
Nun ist eine Fallstudie nicht gerade sehr vielsagend. Ergänzt wurde diese Studie durch eine Untersuchung von Anthropologen der University of California, Santa Barbara. Sie haben einen ähnlichen Test mit 21 Angehörigen des Shiwiar-Stammes durch, der weitgehend isoliert im Amazonasgebiet von Ecuador lebt. Wenn, so die Hypothese, das Erkennen von Schwindeleien eine Fähigkeit ist, die sich einem spezialisierten Gehirnareal verdankt, das sich evolutionär entwickelt hat, dann sollte diese Art des Erkennens von allen Menschen gleichermaßen und unabhängig von kulturellen Einflüssen ausgeübt werden können.
Die Indios mussten dieselben Aufgaben wie R M in mündlicher und bildlicher Form lösen. Angeblich würde Menschen, die in kleinen Gruppen von Jägergesellschaften leben, in logischen Tests schlechter abschneiden als Menschen aus industrialisierten Ländern. Die Shiwiar zeigten in diesem Fall, in dem es um das Erkennen von möglichen Schwindeleien bei sozialen Interaktionen ging, aber dieselben gedanklichen Leistungen wie Harvard-Studenten. Für die Wissenschaftler ist dies ein Beleg dafür, dass die "Lügenerkennung" nicht aus allgemeinen kognitiven Leistungen erwächst, die durch spezifische kulturelle Aktivitäten erworben wird, sondern eine biologisch fundierte Kompetenz der menschlichen Art.
Allerdings stellten die Anthropologen einen Unterschied fest: Die Indios waren stärker an Akten der Großzügigkeit interessiert als die Harvard-Studenten. In den Tests wurden freilich nur Beziehungsgeflechte erkannt, die Schwindeleien ermöglichen. Aufgrund bestimmter logischer Schlussfolgerungen kann nachgeprüft werden, ob eine Art Wenn-Dann-"Vertrag" eingehalten wurde. Dadurch wird man vorsichtiger und aufmerksamer, kann Betrügern auf die Schliche kommen. Ob die Menschen mit ihrem womöglich angeborenen Detektor für Betrügereien dann auch tatsächlich entdecken, dass sie belogen oder beschwindelt werden, ist eine ganz andere Sache, die dann wahrscheinlich doch wieder viel mit Kultur und Erfahrung zu tun hat. Zumindest unterscheiden sich die Betrugsmöglichkeiten heute doch sehr von denen, die in kleinen Stammesgesellschaften vor Zehntausenden von Jahren möglich waren.