"Gehirnwäsche" durch einen marokkanischen Imam?
Die Rolle des bekannten Islamisten, gegen den es sogar einen Abschiebebefehl gab, wirft immer neue Fragen auf
In Katalonien wird weiter mit Hochdruck daran gearbeitet, Licht in die mörderischen Vorgänge in Barcelona und Cambrils zu bringen. Durch Mitwirkung der Bevölkerung konnte die Mossos d'Esquadra (katalanische Polizei) den 22-jährigen Younes Abouyaaqoub stellen, der allein vergangenen Donnerstag den Lieferwagen im mörderischen Zickzackkurs über die "Ramblas" gesteuert hatte. Dabei wurden 13 Menschen in der katalanischen Metropole getötet und mehr als 100 zum Teil schwer verletzt.
Bestätigt ist nun auch, dass er auch für ein 14. Opfer in Barcelona verantwortlich ist. Denn nach dem Anschlag in der Fußgängerzone hatte er mit einem Auto eine Straßensperre durchbrochen. In dem Wagen wurde später der Katalane Pau Pérez erstochen gefunden. Der katalanische Innenminister Joaquim Forn hat den Zusammenhang bestätigt, dass Pérez von Abouyaaqoub erstochen wurde, um an sein Auto als Fluchtwagen zu kommen.
Tagelang war nach dem jungen Marokkaner gefahndet worden. Doch die katalanische Regionalregierung konnte nun mitteilen, dass er am Montag "kurz vor 17.00 Uhr" in der Stadt Subirats niedergeschossen wurde, die etwa 50 Kilometer westlich von Barcelona liegt. Auch er trug eine Sprengstoffweste, die sich aber wie bei den Terroristen, die in Cambrils erschossen wurden, als Attrappe herausgestellt hat. Es ist eine bekannte Taktik, die Sicherheitskräfte zu Todesschüssen zu provozieren, um als "Märtyrer" ins Paradies zu kommen. Und damit ist natürlich auch verbunden, dass die Islamisten keine Aussagen mehr über die Hintermänner machen können.
Das ist aber in Barcelona gescheitert, denn vier mutmaßliche Mitglieder der Terrorzelle wurden verhaftet und werden heute dem Ermittlungsrichter am Nationalen Gerichtshof in Madrid vorgeführt. Sie haben schon umfassende Aussagen gemacht, weshalb die Mossos relativ schnell die Identitäten der Beteiligten kannten und deshalb auch konkret nach dem Marokkaner Abouyaaqoub suchen konnten.
Mohamed Houli Chemlal, der die Explosion in Alcanar verletzt überlebte, hat vor dem Ermittlungsrichter Fernando Andreu in Madrid ausgesagt, man hätte einen Anschlag gegen die Sagrada Familia und andere bedeutsame Punkte in Barcelona verüben wollen. Der 21-jährige Spanier aus Melilla, der auch in Ripoll gelebt hat, war der erste, der vernommen wurde. Er hatte aber schon gegenüber der Polizei ausgesagt, "große Anschläge" vorgehabt zu haben.
Driss Oubakir hat doch selbst die Lieferwagen angemietet und nicht sein kleiner Bruder, der dies angeblich mit dessen Pass gemacht haben soll, wie er bei der Festnahme behauptet hatte. Nun meint er, er habe geglaubt, sie seien für einen Umzug gewesen. Das wird ihm kaum noch jemand abnehmen. Er wird daher mit großer Sicherheit auch eingeknastet, da er jetzt schon seine Version ändert (vermutlich ändern muss, weil sie nicht aufrechtzuerhalten ist). Sein Cousin wurde inzwischen in Marokko festgenommen, da die Ermittlungen auch dahin gehen. Er wird verdächtigt, ebenfalls zur Terrorzelle zu gehören.
Die Mossos haben nun bestätigt, dass die Zelle definitiv zerschlagen ist. Das hatte der spanische Innenminister beim Versuch, sich in den Vordergrund zu spielen, schon zum Ärger der Katalanen verkündet, um davon abzulenken, dass seine spanischen Sicherheitskräfte, die für den Antiterrorkampf verantwortlich sind, völlig versagt haben. Der hatte ausgeschlossen, dass es zu Anschlägen wie in Nizza oder Berlin kommen könne, versucht nun aber, die Schuld nach Katalonien abzuwälzen, statt die Verantwortung zu übernehmen und zurückzutreten.
Wie Telepolis schon berichtet hatte, hat er die Bevölkerung entweder angelogen oder seinen Geheimdiensten und Polizeieinheiten ist wirklich entgangen, wie sich in aller Ruhe seit Jahren junge Islamisten radikalisieren - und das seit 2006 unter der Anleitung eines alten islamistischen Bekannten der Sicherheitskräfte, der im Rahmen von etlichen Ermittlungen aufgetaucht ist.
Der Imam war den Sicherheitskräften seit 2003 als radikaler Islamist bekannt
Es ist auch für die Islam-Gemeinde in Ripoll unerklärlich, warum man nie über die Vergangenheit des 42-jährigen Imam Abdelbaki Es Satty aus Madrid informiert wurde. Die Gemeinde hatte, wie es vorgeschrieben ist, den Namen an die zuständige spanische Behörde gemeldet. Sie wussten nicht, dass der Marokkaner wegen Drogenhandel bis 2012 im Knast saß und sich dort auch mit einem der Islamisten angefreundet hat, der für das Massaker in der spanischen Hauptstadt 2004 mitverantwortlich ist, bei dem 191 Menschen ermordet wurden.
Er war spätestens seit 2003 den Sicherheitskräften als radikaler Islamist bekannt und sogar angeklagt, Selbstmordattentäter für den Kampf im Irak angeworben zu haben. Deshalb hätte er eigentlich kein Imam in Spanien oder in Ripoll sein dürfen. "Er wäre hier nicht reingekommen", erklärte der Präsident der islamischen Gemeinde in Ripoll Ali Assid, wenn man davon informiert worden wäre. Aufgefallen sei er in der Moschee nicht durch radikale Reden, fügte er an. Was die Lage noch undurchsichtiger und für die spanischen Sicherheitskräfte noch ungemütlicher macht, ist, dass es sogar einen Auslieferungsbefehl gegen den radikalen Islamisten gab, der nie umgesetzt wurde.
Nötig ist das nicht mehr, da der Marokkaner in dem Haus im südkatalanischen Alcanar in die Luft geflogen ist, als er mit Sprengstoffen hantierte. Das führte dazu, dass die übrigen Mitglieder der Zelle eilig einen Plan B durchgezogen haben. Insgesamt wurde bis gestern noch nach drei Terroristen gefahndet worden. Doch auch die verbleibende dritte Person dürfte in Alcanar in die Luft geflogen sein, meinen die Sicherheitskräfte. Es wurden Reste von drei Personen gefunden. In dem besetzten Haus in Südkatalonien wurden seit Monaten die Vorbereitungen für etliche schwere Sprengstoffanschläge getroffen, die in Barcelona ein Blutbad anrichten sollten. Mehr als 120 Gasflaschen hatten die Islamisten besorgt, um die Sprengwirkung ihrer Bomben zu verstärken. Da die nicht einmal in die beiden von den Terroristen gemieteten Lieferwagen passen, war offensichtlich noch mehr geplant.
"Die Radikalisierung ging nicht schnell"
Der Imam hatte sich schon im Juni aus Ripoll abgesetzt, angeblich zum Urlaub nach Marokko. Rechte Medien in Spanien haben an einer Legende gestrickt, um Druck von der konservativen Regierung zu nehmen. Nun gibt es Zeugenaussagen, die die angebliche schnelle Radikalisierung ins Märchenreich verbannen. Und es ist auch eine Legende, dass sie völlig unbemerkt blieb.
"Die Radikalisierung ging nicht schnell", zitiert die Zeitung El País einen direkten Angehörigen eines Attentäters. Die Gruppe habe mindestens ein Jahr lang versucht, sich heimlich mit dem Imam - allerdings "außerhalb der Moschee" - zu treffen. Abseits der Treffen hätten sie sich gegenüber dem Imam so verhalten, als kenne man sich nicht und sich nur kurz gegrüßt. Die Zelle verfügte auch über mindestens eine Wohnung, in denen die Treffen stattfanden. "Ich dachte die rauchen dort Joints", erklärte ein Anwohner.
Abdelbaki Es Satty wird nicht nur bei der Durchführung, sondern auch für die Radikalisierung der sehr jungen Attentäter eine zentrale Rolle zugeschrieben. Aufgefallen sei er in der Moschee aber nicht durch radikale Reden. Er dürfte zur Dynamisierung beigetragen haben, doch es gab bereits eine Radikalisierung, bevor der Imam in die Kleinstadt am Rand der Pyrenäen kam. Einer der inzwischen getöteten Attentäter hatte schließlich schon 2015 im Internet davon geträumt, "alle Ungläubigen zu töten".
Auch die Eltern und Angehörigen der jungen Terroristen machen vor allem den Imam verantwortlich. Der habe ihre Söhne einer "Gehirnwäsche" unterzogen oder "verrückt" gemacht, erklären sie und distanzieren sich von den Anschlägen, die nicht in ihrem Namen ausgeführt worden seien. Fast alle in Ripoll sind konsterniert und können sich kaum vorstellen, wie scheinbar integrierte Jugendliche zu solchen Taten kamen.
Eine Sozialarbeiterin, die lange mit den Jungen zusammengearbeitet hat, ist "aus Schmerz am Boden zerstört". Es ist ein erstaunliches Dokument, das sie in der Zeitung La Vanguardia veröffentlicht hat, in dem Raquel Rull niemandem eine Schuld zuschreibt, aber richtige - auch selbstkritische - Fragen stellt. Denn die einfachen Schuldzuschreibungen, wie auch von den Familien, die vor allem auf den Iman abstellen, sind ganz offensichtlich vereinfachend und falsch. "Was machen wir falsch? Wir müssen das stoppen" schreibt Rull und fügt an: "Und ich hatte geglaubt, es richtig zu machen, dass ich mein Sandkorn beitragen würde ." Dass ausgerechnet Abouyaaqoub den Todeswagen fuhr, kann sie nicht fassen.
Es ist auch erwähnenswert, dass der katalanische Regierungschef Carles Puigdemont zu der wichtigen Frage nicht spekulieren wollte, wie sich die Radikalisierung in einer Kleinstadt vollziehen konnte und nicht in einer anonymen Vorstadt in Frankreich oder Belgiens. Das müsse ausgiebig untersucht werden, erklärte Puigdemont. Er wies auch die Stimmen zurück, die allseits nun Katalonien zu einem Hotspot der radikalen Islamisten erklären. Das ist das nächste Märchen, als hätte es nicht Verhaftungen im ganzen Land gegeben, und vor allem in den Exklaven Mellila und Ceuta. Auch die Spuren der Islamisten, die 2004 das Massaker in Madrid verübten, führten nicht nach Katalonien. Es gab allerdings - wie nun erneut - klare Verbindungen in die Exklaven, die längst als Brückenköpfe zur Ausbreitung vom IS in Europa bezeichnet wurden.
"Die moslemische Gemeinschaft gegen den Terrorismus"
Es gäbe "keine besondere Radikalisierung", wies Puigdemont die Vorwürfe zurück. 200.000 Marokkaner lebten normal in Katalonien, schickten ihre Kinder in die Schule und trügen zur Entwicklung des Landes bei. "Es ist ungerecht, über ihnen einen Schatten aus Zweifeln und Verdacht auszubreiten. Es ist glücklicherweise eine verbreitete Ansicht in Katalonien, weshalb auch Neofaschisten von der Bevölkerung aus Barcelona geworfen wurden, die die Anschläge für ihre rassistische Propaganda missbrauchen wollten, berichtete auch der Spiegel.
"Nicht in meinem Namen" seien die Anschläge verübt worden, machen Moslems in Katalonien bei vielen Versammlungen deutlich. Die bisher größte Versammlung fand gestern in Barcelona statt. Mehrere tausend Menschen hatten sich im Zentrum versammelt, unweit des Anschlagsorts. Dazu hatten mehr als 150 moslemische Organisationen aufgerufen. "Die moslemische Gemeinschaft gegen den Terrorismus", lautete das Motto. Auch hier wurden selbstkritische Töne angestimmt. "Wir haben ein wirkliches Problem, das wir nicht verdecken dürfen", forderte die Sprecherin der Stiftung Ibn Battuta die Versammelten zu einer selbstkritischen Überprüfung auf, warum ein in Katalonien geborener oder seit jungen Jahren dort lebender Mensch zu so etwa fähig ist. Aufgerufen wurde auch, sich an der Großdemonstration am Samstag zu beteiligen.
Verbindungen nach Frankreich und Belgien
Die Mossos versuchen derweil die internationalen Verknüpfungen aufzurollen. Klar ist mittlerweile, dass einige der Terroristen kurz vor den Attentaten in Barcelona und Cambrils kurzzeitig nach Paris gereist waren. Der Audi A3, der in Cambrils gestoppt worden war und dessen fünf Insassen erschossen wurden, war wenige Tage vor dem Attentat in Paris. Das Fahrzeug wurde von einem Radar wegen überhöhter Geschwindigkeit registriert. "Es war eine sehr eilige Hin- und Rückfahrt", haben französische Behörden mitgeteilt, obwohl sie in einem Hotel übernachtet haben.
Gesucht wird auch nach Verbindungen nach Belgien, wo sich der Imam immer wieder aufgehalten hat, aber dort nicht als Imam tätig wurde, weil er kein polizeiliches Führungszeugnis vorgelegt hat. Die Verbindungen nach Vilvoorde waren eng, die als ein Zentrum des radikalen Islamismus gehandelt wird. Verbindungslinien gibt es allerdings auch nach Marokko und in die Schweiz.