Gesellschaft mit beschränkter Hoffnung
Seite 2: Die Stunde der "Rattenfänger"?
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Man ist skeptisch geworden in den ersten Reihen, Wähler und Gewählte stehen sich verunsichert gegenüber, wenngleich man keineswegs von einem Totalschaden im Verhältnis der Bürger zu den politischen Institutionen sprechen kann. Soziologen attestierten dennoch bereits vor Jahren, das sei die Stunde der "Rattenfänger" in der ersten allgemeinen Verunsicherungsgesellschaft.
Wenn Großparteien keine passenden Antworten auf die dringlichsten Fragen in der von Ulrich Beck ausgerufenen reflexiven und risikoreichen Moderne hätten, würden Rechtspopulisten Wählerstimmen wie Gummibärchen aus der Packung mogeln. In der Tat, in vielen Ländern Europas ist der Rechtspopulismus auf dem Vormarsch: Ob in Form von Le Pens Front National in Frankreich bereits seit über zwei Jahrzehnten oder wie im Falle der vor drei Jahren umbenannten belgischen Vlaams Belang (ehemals Vlaams Blok), die es mit geglättetem Programm durch die Mitte versucht, indem sie Themen wie Kriminalität und Immigration auf die Agenda setzt.
Rechtspopulisten kommen aber nicht nur, sie gehen auch. Haider als rechtspopulistisches Protomodell kam, sah, siegte und stürzte. Auch die Lijst Pim Fortuyn (LPF) in den Niederlanden wurde nach dem Mord an Pim Fortuyn im Jahre 2002 zwar zunächst auf Anhieb mit 26 Sitzen in die Zweite Kammer gewählt, dann wollte sie aber plötzlich doch keiner mehr wählen - Ende 2006 erhielten sie bei der vorgezogenen Parlamentswahl mit einem Stimmanteil von 0,21 Prozent nicht mal mehr einen Sitz.
Extreme Positionen, die nicht als extremistisch eingestuft werden
In Deutschland ist eine rechtspopulistische Kraft allerdings bislang nicht einmal erkennbar. Mit Ausnahme der Partei Rechtsstaatliche Offensive unter Stramm-Jurist und Koks-Fan Schill gab es auch bis heute keine nennenswerten Gehversuche. Die 1983 gegründeten Republikaner proben sich schon seit Jahren als lachhafte rechtsradikale Akklamationskulisse fern jeglicher Einflussnahme. Nur der NDP gelingt es heute, sich als rechtsextreme Kraft zu etablieren und sich vor allem für die Jugend als braune Spielwiese zu präsentieren.
Keine Frage, die weit verbreitete Desillusion treibt den rechten Extremismus entschieden voran. Gerade die NPD machte in den letzten Jahren aus Frust Programm. Sie hat die soziale Frage in den Mittelpunkt ihrer Zielsetzung gerückt und versucht als selbst ernannte "Fundamentalopposition" vom Seitenstreifen der Demokratie in die Mitte zu drängen. Gleichwohl sind es heute nicht nur die Extremisten, die der derzeitigen Darstellung der Regierung in Deutschland ablehnend oder skeptisch gegenüber stehen.
Es ist vor allem ein Großteil der Bevölkerung, der der Politik heute mit Misstrauen begegnet, der bisweilen auch extreme Positionen vertritt, das aber keinesfalls als extremistisch einstuft. Wilhelm Heitmeyer stellt diese Problematik seit über fünf Jahren mit seiner Folge "Deutsche Zustände" zur Disposition (vgl. Deutsche Zustände 2006). 61 Prozent der Bürger Deutschlands ordneten sich im Jahre 2006 politisch dieser "Mitte" zu, was immer das auch alles sein kann. Und in dieser Mitte steigen nicht nur Fremdenfeindlichkeit, Islamophobie und das Einfordern von Etabliertenvorrechten. In dieser Mitte grassieren vor allem auch Abstiegsängste, es herrscht breite Skepsis, Wahlapathie und Missmut gegenüber den Parteien.
Konkurrenzdruck für Parteien durch andere politischen Beteiligungsformen
Man darf dennoch nicht den Fehler machen, die Rechnung eins zu eins mit dem Wirt begleichen zu wollen. Weder ist der Zusammenhang von "fremdenfeindlichen" Einstellungen, Regierungsskepsis und Wahlapathie zwingend, noch muss die weit verbreitete Wahlenthaltung, auch die Skepsis gegenüber der Regierung und ein zunehmender Parteienmitgliederschwund gleich das Ende der Demokratie bedeuten. Das liest sich zwar brauchbar und geht runter wie kühles Bier an deutschen Stammtischen, bleibt aber analytisch hemdsärmlig. Denn der Rückzug von der herkömmlichen Politik ist auch dem Umstand geschuldet, dass Parteien und Politiker heute zunehmend dem Konkurrenzdruck gegenüber anderen politischen Beteiligungsformen ausgesetzt sind.
Dazu gehören nicht nur die Bürgerinitiativen und die "neuen" sozialen Bewegungen, die sich seit den 60er Jahren herausgebildet haben, auch die neuen Beteiligungsformen im Netz. Wer heute politisch aktiv ist braucht keinen Parteiausweis. Institutionenskepsis, fehlende Parteiidentifikation und die Distanz zu den Parteien sind nicht nur unmittelbar Zeugnis von Frust - das können sie auch sein. Sie zeugen vor allem auch von Selbstbestimmtheit und zunehmender Bindungslosigkeit. Sie sind auch ein Resultat der Individualisierung seit 68.
Rückgang der Wahlbeteiligung - Einfallstor für Rechts?
Bedenklich wird es nur, wenn die Bürger immer weniger von ihrem Stimmrecht Gebrauch machen. Gerade eine heute vielfach fehlende Parteienidentifaktion und nicht existierende Integration in sozio-politische Netzwerke trägt dazu bei, dass Bürger den Wahlurnen vermehrt fernbleiben. Und je unwichtiger eine Wahl empfunden wird, desto seltener wird auf den Wahlzetteln angekreuzt. Die Bundesebene steht da noch an der Spitze der Wichtigkeit, dann folgt die Landes- und Kommunalebene, das Schlusslicht bildet die Europawahl. Die Wahlbeteiligung ist zudem - neben Faktoren wie dem sozio-ökonomischen Status, dem Bildungsgrad, dem Alter, der Konfession oder geringfügig auch dem Geschlecht – eine Art Nutzenabwägung. Durch eine gute Wahlvorfeldanalyse ist heute bereits vor dem Wahlausgang relativ klar, wer wie hoch welche Prozentpunkte einfährt, wenn auch die in Umfragen ermittelte Wahlbeteiligung höher ist als die tatsächliche. Warum soll man sich da noch sonntags vor dem Tatort ins Wahllokal quälen?
Den klassischen Nicht-Wähler aber, da ist sich die Forschung einig geworden, gibt es nicht. Bis weit in die 60er Jahre war er auch eine Phantombeschreibung. Die Beteiligungsquote bei den Wahlen in den 50ern und 60ern variierte schließlich zwischen 85 und 90 Prozent. Erst nachdem es 1972 unter Kanzler Brandt einen Höchststand der Wahlbeteiligung von 91,1 Prozent gegeben hatte, ging die Bundestagswahl-Quote seit Mitte der 70er Jahre kontinuierlich zurück. Bei der ersten gesamtdeutschen Wahl 1990 erreichte die Wahlbeteiligung dann mit 77,8 Prozent einen ersten Tiefstand. Sie wuchs zwar anschließend wieder und pendelte in den folgenden drei Bundestagswahlen um die 80-Prozent-Marke. Bei der letzten Bundestagswahl ging die Beteiligung dann aber wieder in Richtung Keller: Mit nur 77,7 Prozent Wahlbeteiligung (2002: 79,1 Prozent) war das das niedrigste Ergebnis einer Bundestagswahl überhaupt.
Gleichzeitig können sich rechtsextreme Parteien heute über eine abnehmende Wahlbeteiligung nicht beschweren, sie legten in den letzten Jahren zu, wenn sie auch auf Bundesebene bislang relativ erfolglos blieben - die NPD rauschte zuletzt 1969 mit 4,3 Prozent der Zweitstimmen bei einer Bundestagswahl an der 5-Prozent-Hürde vorbei. Gerade aber auf Landes- und Kommunalebene mehren sich seit den 90er Jahren Wahlerfolge von Rechts, insbesondere von der NPD in den letzten Jahren. An rechten Wahlerfolgen und einer fortschreitenden Wahlenthaltung ändert dann auch die Tatsache nichts, dass das Interesse an Politik heute sogar höher ist als 1960, wenn es auch jüngst im Vergleich zu 2006 leicht rückläufig war.
Laut FGW-Politbarometer interessierten sich im März 2007 knapp die Hälfte der befragten Wahlberechtigten "sehr stark" oder "stark" für Politik. Dieser Wert ist schon seit längerem mit geringen Abweichungen (+/- 3 bis 4 Prozentpunkte) relativ stabil. 1960 waren das aber erst 27 Prozent, die sich in den Umfragen des IfD Allensbach politisch interessiert zeigten. Natürlich lassen sich diese Zahlen aufgrund zweier verschiedener Forschungsinstitute und verschiedener Antwortangaben nicht absolut vergleichen, ein Trend ist dennoch erkennbar.
Und trotzdem wollen heute viele nicht mehr wählen, wenn es auch die mit der Demokratie Zufriedenen noch immer stärker als die Frustrierten in die Wahlurnen treibt und vieles dafür spricht, dass es heute gerade ein Großteil der politisch Nicht-Interessierten mit dem Wählen lieber ganz bleiben lässt. Rechte Parteien wiederum profitieren von den politisch und materiell Unzufriedenen, den Unentschlossenen aber auch von den politisch Nicht-Interessierten, die sonst womöglich gar nicht wählen gehen.
Die Bürger fühlen sich politisch kompetenter, von den Parteien aber nicht ernst genommen
Dass das politische Interesse im Laufe der Jahrzehnte gewachsen ist und sich viele dennoch nicht repräsentiert fühlen, das ist gerade zu einem Problem für die Großparteien geworden. Die Bürger verstehen sich heute mehr als vor Jahrzehnten als beeinflussende Subjekte. Almond und Verba hatten diesen Wandel bereits vor über 40 Jahren mit einem Übergang vom "Parochialismus" zu einer "modernen Staatsbürgerkultur" beschrieben.
Sich als beeinflussendes Subjekt zu verstehen hieß, das Individuum in den Mittelpunkt zu rücken. Es hieß aber auch, sich selbst als wichtig zu nehmen und auch an der eigenen Entfaltung festzuhalten. In Folge der Wohlfahrtstaatsentwicklung stieg nicht nur das politische Interesse beim Bildungsbürgertum, auch das politische Kompetenzgefühl wuchs, insbesondere das wahrgenommene Verständnis von politischen Vorgängen und in abgeschwächter Form auch die eigene wahrgenommene Einflussmöglichkeit auf die Politik. Dem steht heute nur ein seit Mitte der 70er Jahre geschwundenes politisches Responsivitätsempfinden gegenüber. Die Bürger fühlen sich von der Führungsschicht kaum noch ernst genommen und haben kaum noch das Gefühl, dass die Parteien und Politiker auf ihre Interessen eingehen und sich auch responsiv verhalten. Das ist das eigentliche Problem.
Gerade weil die ökonomische Lage für zu wenig Heiterkeit sorgt, trauen viele der Politik dann einfach nicht mehr. Politik kann ein Gefühl staatlicher Fürsorge kaum noch transportieren, da richten auch die neuen Arbeitsmarktdaten mit positiver Tendenz nichts aus. Der eigene Arsch gehört selbst gepflegt. Selbstbezogenheit als Folge von möglicher oder tatsächlicher Arbeitslosigkeit wird dann zu einem Problem für die Regierung. Richard Sennett hatte das in seinem Buch „Verfall und Ende des öffentlichen Lebens“ so formuliert, dass das Publikum sich in dem Maße aus dem Auge verlieren würde, wie sie an einen Politiker glaubt. Das heißt nichts anderes als dass der Politik dann immer weniger geglaubt wird, wenn man zu sehr an sich selber glauben muss. Die Abkehr von parteizentrierter Politik ist auch die Hinführung zum eigenen Selbst.