Gesellschaftskritik und psychische Gesundheit
Seite 3: Kapitalismus und Depressionen
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Sehr deutlich auf die Seite der Verteidiger des Status quo stellte sich auch der Soziologe, Psychologe und Psychotherapeut Martin Dornes, Wissenschaftler am Frankfurter Institut für Sozialforschung. In der "Zeit" versuchte er zusammen mit einem Kollegen nachzuweisen, dass der Kapitalismus die Menschen nicht depressiv mache.
Kurz darauf veröffentlichte er ein Buch zum Thema ("Macht der Kapitalismus depressiv? Über seelische Gesundheit und Krankheit in modernen Gesellschaften", 2016), in dem er seine Argumentation weiter ausführt. Die FAZ richtete daraufhin ein Streitgespräch zwischen ihm und dem Jenenser Soziologieprofessor Hartmut Rosa ein.
Rosa behauptete darin, der Kapitalismus führe zu mehr Burnout und Depressionen. Dornes zufolge geht es uns aber so gut wie nie. Deutlicher können sich zwei Standpunkte kaum voneinander unterscheiden.
Kapitalismuskritik seit dem "erschöpften Selbst"
Dornes' Buch ist eine gute Vorlage, rechnet er dort doch mit zahlreichen Kapitalismuskritikern ab, die seit dem Buch "Das erschöpfte Selbst" (1998; deutsch 2004) des französischen Soziologen Alain Ehrenberg auf psychische Störungen allgemein und Depressionen im Besonderen hinweisen. Und die Frage nach den möglichen gesellschaftlichen Ursachen kommt Jahr für Jahr aufs Neue auf, wenn Krankenkassen wieder einen Anstieg der psychologisch-psychiatrischen Diagnosen berichten (Diagnosen psychischer Störungen steigen stark an).
Martin Dornes fasst erst einmal seitenlang den Stand der epidemiologischen Forschung zusammen und kommt zu dem Ergebnis, dass diese im Laufe der Zeit keinen Anstieg psychischer Störungen dokumentiert. Damit fehle es der These, durch den sich weltweit ausbreitenden Kapitalismus gehe es den Menschen psychisch schlechter, schon einmal an Untermauerung:
Psychische Erkrankungen haben in den letzten 30 bis 40 Jahren also nicht zugenommen. Was sich jedoch in diesem Zeitraum - und besonders in den letzten 15 Jahren - verändert hat, ist die öffentliche Aufmerksamkeit und die Häufigkeit von gefühlten und/oder diagnostizierten psychischen Störungen. Diese Häufigkeit bildet anscheinend etwas anderes ab als deren reale Häufung, nämlich unter anderem die Tatsache, dass die Zahl der möglichen Erkrankungen mit jeder Überarbeitung der diagnostischen Manuale gestiegen ist und weiter steigt.
Martin Dornes
"Echte" und "unechte" Störungen
Hier handelt sich der Autor gleich zwei Probleme ein, die sich durchs ganze Buch und damit seine Argumentation für den Kapitalismus ziehen: Einerseits grenzt er die "echten" von den "gefühlten" oder "diagnostizierten" psychischen Störungen ab. In diesem Zusammenhang spricht er auch gerne von der "Realprävalenz", also wörtlich der "echten Häufigkeit" psychischer Störungen. Und diese wüssten eben allein die Epidemiologen.
Andererseits übersieht er, dass die von ihm wegen ihres wissenschaftlichen Vorgehens so gelobten Epidemiologen natürlich auch die Kriterien der diagnostischen Manuale verwenden. Was sollten sie auch sonst in der Breite erheben, wenn nicht die allgemein anerkannten Definitionen psychischer Störungen?
Gibt es immer mehr Störungsbilder?
Konkret führt Dornes hier aus, das amerikanische DSM von 1952 habe 106 Störungen umfasst, die Ausgabe von 1968 schon 188, die von 1980 265, die von 1994 297 und schließlich die neueste von 2013 400. Er übersieht hierbei aber, dass diese Zahlen davon abhängen, wie man zählt.
So führte Robert McCarron von der University of California in Davis zum Beispiel aus, zwischen der vierten und der fünften Ausgabe, also von 1994 bis 2013, sei die Anzahl der Störungen von 172 auf 152 gefallen. Der Psychiatrieprofessor Nassir Ghaemi zählte in der neuesten Fassung 265, der Psychiater James Morrison kam gar auf 155 bis 600. Wie kann das sein?
Leider herrscht keine Einigkeit darüber, was man als eigene Störung zählen sollte und was nicht. Ist eine milde neurokognitive Störung (Mild Neurocognitive Disorder, 2013 neu aufgenommen) etwas prinzipiell Anderes als eine starke neurokognitive Störung (Major Neurocognitive Disorder) - oder bloß eine Variante? Sollen einmalig auftretende depressive Episoden zusammen oder getrennt von der depressiven Störung gezählt werden?
Probleme der Epidemiologie
Wie dem auch sei - so oder so wird für Dornes kein Argument daraus: Wenn die Anzahl der Diagnosen steigt, weil Anzahl der Störungen steigt, dann sollten nämlich auch die epidemiologisch erhobenen Störungen steigen. Der Autor behauptet aber gerade, dass sie das nicht tun.
Später im Buch fällt ihm dieser Widerspruch auch auf. Das veranlasst ihn aber nicht zum Überdenken seiner Schlussfolgerung, sondern zu der rein spekulativen Behauptung, dann müsste die echte Häufigkeit psychischer Störungen eben abgenommen haben.
Korrekt wäre hier der Hinweis gewesen, dass die epidemiologischen Studien sowieso immer nur eine kleine Auswahl aller möglichen Störungen untersuchen. Bei der oben erwähnten mit den 40% waren es 27 der am häufigsten vorkommenden. Und das ist für eine einzelne Untersuchung schon recht viel! Dabei gilt freilich, dass eine Studie eine größere Häufigkeit ergeben kann, je mehr Störungen sie erfasst.
Dornes hätte hier mindestens zeigen müssen, dass der erhebliche Anstieg bei den Diagnosen durch die neu geschaffenen Störungen entsteht. Tatsächlich sind es aber eher "Klassiker" wie Depressionen, Angst-, Schlaf- oder Aufmerksamkeitsstörungen (30 Jahre Aufmerksamkeitsstörung ADHS), auf die die meisten Diagnosen fallen.
Psychologischer Essenzialismus
Das bildet auch schon den ersten großen Riss in Martin Dornes' argumentatorischem Gefüge: Die Ergebnisse epidemiologischer Studien hängen entscheidend davon ab, wie die entsprechenden Forscher messen. In der wiederholten Redeweise von der "Realprävalenz" äußert sich bei Dornes aber ein Essenzialismus, der dem Thema der psychischen Störungen überhaupt nicht gerecht wird.
Niemand weiß, was die "echten" und was die "unechten" Störungen sind. Alle paar Jahre kommen neue hinzu - sind die echt? - und verschwinden andere wieder - waren die unecht? Wie wir gesehen haben, sind sich Fachleute nicht einmal einig darüber, wie man deren Anzahl im Diagnosehandbuch zählen sollte. Dornes tut so, als handle es sich bei psychischen Störungen um Elemente des Periodensystems.
Da kommen zwar gelegentlich auch neue hinzu, die sind aber klar definiert - nämlich über ihre Protonenzahl. Sie verschwinden auch nicht einfach wieder von der Liste, wenn Experten das nach zehn bis fünfzehn Jahren am Konferenztisch entscheiden. Frei nach dem Motto: "Wir dachten immer, Eisen habe 26 Protonen, dabei war das Silber. Und nach neueren Überlegungen kommen wir zu dem Ergebnis, dass es Phosphor gar nicht gibt." Zu guter Letzt sind sie sich auch nicht uneins darüber, ob nun 50, 118 oder 300 verschiedene Elemente darauf abgebildet sind.
Tatsachen auf dem Kopf
Viel grundlegender ist aber das Missverständnis der Materie, das sich in Dornes Unterscheidung zwischen "echten" psychischen Störungen auf der einen Seite und "gefühlten" sowie "diagnostizierten" auf der anderen Seite äußert. Kann man etwa depressive Symptome nur "fühlen", ohne sie wirklich zu haben? Und wenn ein Arzt oder Psychotherapeut diese nach den Regeln des Fachs feststellt und eine depressive Störung diagnostiziert, ist die dann nicht "echt", sondern nur "diagnostiziert"?
Der Autor stellt tatsächlich im ganzen Buch die Tatsachen auf den Kopf, wo er davon ausgeht, wir bräuchten die epidemiologischen Untersuchungen zur Bestätigung der klinischen Diagnosen. Korrekt ist es gerade umgekehrt, dass Epidemiologen mit ihren Methoden versuchen, die Vorgänge eines klinischen Gesprächs näherungsweise so abzubilden und zu standardisieren, dass sie massenweise durchgeführt werden können - eben für repräsentative Erhebungen in ganzen Gesellschaften.
Diagnostisches Gespräch gilt als der Standard
Stellen wir uns einmal vor, eine Person bekommt vom Psychiater eine Angststörung diagnostiziert. Einen Tag später kommt zufällig die Hilfskraft eines Epidemiologen vorbei, liest den standardisierten Fragebogen vor, gibt die Ergebnisse in einen Computer ein und dieser berechnet das Ergebnis: keine Störung. Ist dann die Angststörung dieser Person nicht "echt", sondern nur "gefühlt" oder "diagnostiziert"? Natürlich nicht.
Tatsächlich haben Epidemiologen wie der bereits erwähnte Ronald Kessler oder der Dresdner Professor Hans-Ulrich Wittchen in jahrzehntelanger Grundlagenforschung überprüft, ob ihre standardisierten Fragebögen zu denselben Ergebnissen führen wie klinisch-diagnostische Interviews. Eine einschlägige Studie ergab, dass die Übereinstimmung für verschiedene Störungen zwischen 62% und 93% liegt.
Wenn man also zwischen "echten" und "unechten" Störungen unterscheiden wollte, dann wäre die Richtung gerade das Gegenteil von dem, was Dornes unterstellt: Die klinische Diagnose steht über dem epidemiologischen Fragebogen. Das ist auch nicht überraschend, da der Kliniker nicht nur viel besser ausgebildet ist als die Hilfskraft des Epidemiologen, sondern auch viel mehr Möglichkeiten hat, auf die konkrete Situation seines Patienten einzugehen.
Eigenarten der Stichprobenforschung
Zudem sind sich die Epidemiologen der Tatsachen bewusst, dass ihre Fragen von den Personen der Allgemeinbevölkerung missverstanden werden können und ihre Verfahren andere Fehlerquellen aufweisen. Dass sich die so Befragten oft an das Vorliegen bestimmter Symptome innerhalb der letzten zwölf Monate oder noch längerer Zeiträume erinnern sollen, garantiert auch nicht die sichersten Ergebnisse.
Dieser Punkt macht einen weiteren grundlegenden Unterschied zwischen Epidemiologie und klinischer Diagnostik deutlich, den Dornes nicht einmal erwähnt: Die Hilfskräfte der Epidemiologen kommen für ihre repräsentativen Erhebungen ungefragt, während psychologisch-psychiatrische Patienten, einmal von Zwangseinweisungen abgesehen, auf eigene Initiative zum Arzt oder Psychotherapeuten kommen. Das heißt, wer diesen Schritt unternimmt, der hat bereits ein Hilfsbedürfnis; bei wem angerufen oder geklingelt wird, hat vielleicht gar keins.
Das führt uns noch einmal zurück zu den 40%, nach Lesart von Dornes die "Realprävalenz" psychischer Störungen für einen Zwölfmonatszeitraum in einem europäischen Land. Dass der Autor auch andere Zahlen zitiert, weil andere Studien anders methodisch vorgegangen sind, steht dahin.