Gesellschaftskritik und psychische Gesundheit

Seite 4: Droht Gesundheitssystemen das Aus?

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Wenn wir jetzt die 40% epidemiologisch erhobenen psychischen Störungen so auffassen, wie sie in den Diagnosehandbüchern der Ärzte und Psychotherapeuten gemeint sind - nämlich als Ausdruck wesentlichen Leidens oder erheblicher Einschränkungen des Lebens - dann steht das Gesundheitssystem aller Länder vor einer Katastrophe: So viele Menschen können nämlich nirgendwo behandelt werden. Zum Glück müssen sie es aber auch gar nicht.

Noch einmal langsam: Die Hilfskräfte der Epidemiologen stellen repräsentativ ausgewählten Menschen fragen dazu, ob sie sich an diese oder jene Symptome erinnern. Die meisten dieser Personen wären von sich aus nie auf die Idee gekommen, deswegen zum Arzt oder Psychotherapeuten zu gehen. Viele kommen auch so gut mit ihrem Leben zurecht. Sie haben schlicht kein Hilfsbedürfnis.

Dass manche Menschen und leider häufiger gerade diejenigen, die am meisten Hilfe brauchen, sich aus eigenem Antrieb nicht dazu aufmachen, ist ein trauriger Aspekt des Behandlungsalltags. Wenn man hier weiter gehen wollte als die heutigen Bewusstseins- und Aufklärungskampagnen es tun, dann müsste man wohl alle Menschen zwangsweise einer Befragung unterziehen. Neben der Einschränkung der Freiheit geschähe das dann aber um den Preis zahlreicher falsch-positiver Fälle.

Niedrige Behandlungsrate

Auf welches Glatteis man sich begibt, wenn man der Redeweise von der "Realprävalenz" folgt, ergibt sich noch aus einer anderen Überlegung: Wie wir gesehen haben, sind psychische Störungen ihrer Definition nach erheblich, also nicht bloß ein Schnupfen. Wenn nun 40% der Allgemeinbevölkerung Jahr für Jahr solche erheblichen Probleme haben, warum entfallen dann etwa laut DAK Gesundheitsreport 2018 auf jeden Versicherten im Schnitt nur 2,5 Arbeitsunfähigkeitstage pro Jahr? Dass das aus anderem Blickwinkel recht viel ist, darauf komme ich gleich noch.

Bleiben wir aber bei noch einen Moment bei den Epidemiologen: Die stellen fest, dass psychische Störungen so häufig sind wie ein Schnupfen. Nun muss man wissen, dass deren Symptome in der Regel Wochen oder gar Monate vorliegen müssen, damit die Diagnosekriterien erfüllt sind. Warum fehlen die Menschen dann aber im Mittel nur 2,5 Tage im Jahr wegen psychischer Störungen am Arbeitsplatz?

Es passt also hinten und vorne nicht zu sagen: Die 40% sind die Realprävalenz, so häufig sind psychische Störungen wirklich, das ist die Antwort der harten Wissenschaft, solche Menschen leiden also jährlich erheblich oder sind wesentlich in ihrem Leben eingeschränkt - und doch fehlen sie kaum am Arbeitsplatz.

Nur 16% in Behandlung

Auch aus einer anderen Richtung kommt man zur selben Schlussfolgerung: Die epidemiologischen Studien erheben häufig mit, ob die Befragten professionelle Hilfe suchen. So hat beispielsweise der amerikanische Psychiatrieprofessor Randy Auerbach kürzlich mit Kollegen aus zahlreichen Ländern die psychische Gesundheit von Studierenden untersucht.

Im Ergebnis hatten rund 20% der Befragten mindestens eine psychische Störung innerhalb des letzten Jahres. Nur nebenbei, um Spekulationen über das Hochschulwesen vorzubeugen: Rund 83% dieser Personen hatten schon vor Studienantritt psychische Probleme gehabt.

Worauf ich hinaus will, ist der Befund, dass von den Studierenden mit den Problemen nur rund 16% professionelle Hilfe erhalten hatten. Nun muss man wissen, dass schon heute, also bei diesen 16%, die Wartezimmer für die psychologischen Sprechstunden überquellen - und das, obwohl viele Hochschulen hier in den letzten Jahren immer mehr Stellen geschaffen haben. Auch für psychologisch-psychiatrische Sprechstunden außerhalb der Bildungseinrichtungen gilt Ähnliches.

"Realprävalenz" nicht aussagekräftig

Genauso wenig wie die Hochschulen 20% der Studierenden psychologisch-psychiatrisch betreuen können, kann die Gesellschaft 40% der Gesamtbevölkerung behandeln. Zum Glück muss sie es aber auch nicht. Auch wenn leider nicht alle Hilfe bekommen, die sie brauchen, brauchen sie bei weitem nicht alle, die bei einem epidemiologischen Fragebogen ein positives Ergebnis bekommen.

Diese Studien messen also gerade nicht die "Realprävalenz" psychischer Störungen im klinisch relevanten Sinne. Zum Glück, denn sonst wäre unsere Gesellschaft schon längst zusammengebrochen! Es handelt sich schlicht um wissenschaftlich-standardisierte und quantifizierte Annäherungen an den klinischen Alltag, die vor allem einer Gruppe dienen: den Epidemiologen selbst und nicht den Ärzten, Psychotherapeuten oder Patienten. Für ein echtes Hilfsbedürfnis sind sie kein guter Indikator.

Fehlende empirische Grundlage

Dornes scheint sich dessen bewusst zu sein, wo er in seinem Buch andeutet, nicht alle der durch die Epidemiologen identifizierten Personen seien behandlungsbedürftig. Das stimmt zwar - warum redet er dann aber von der "Realprävalenz" psychischer Störungen? Und warum zieht er dann nicht den logisch zwingenden Schluss, dass die epidemiologischen Studien keine Aussagekraft für seine Verteidigung des Kapitalismus haben, wenn sie nicht das Hilfsbedürfnis der Menschen erheben?

Wenn der Autor sich nicht auf die epidemiologischen Studien stützten kann und wenn er den echten Diagnosezahlen misstraut, dann bleibt ihm schlicht keine empirische Basis für seinen Standpunkt. Das ist eine überraschend schwache Position für jemanden, der seine Diskussionsgegner, nämlich die sozialwissenschaftlichen Gesellschaftskritiker, für ihre angebliche Unkenntnis der Empirie geißelt.

Vorläufige Zusammenfassung

In diesem ersten Teil haben wir die Grundlagen diagnostischer Gespräche der Psychologen und Psychiater besprochen und mit der Arbeit von Epidemiologen verglichen. Dabei ergab sich, dass die Gültigkeit der individuellen Diagnose über derjenigen der Fragebogenstudien steht. Auch konnten häufige Relativierungen, mit denen der starke Anstieg psychiatrisch-psychologischer Diagnosen wegerklärt werden soll, widerlegt werden: Psychische Störungen sind weder ein Schnupfen noch eine andere Form von Rückenschmerzen.

Insbesondere verfangen Martin Dornes' Interpretationen der epidemiologischen Forschung nicht. Damit steht wieder die Frage im Raum, ob die wirtschaftlich-sozialen Verhältnisse nicht doch die psychische Gesundheit der Menschen beeinflussen. Darum wird es im zweiten Teil weiter gehen, in dem wir uns anschauen, wie die Patienten "mit den Füßen abstimmen". Dabei wird sich ergeben, dass die Deutschen noch nie so krank waren wie heute - jedenfalls im 21. Jahrhundert.

Dieser Artikel ist ebenfalls im Blog "Menschen-Bilder" des Autors erschienen.