Gesichter der Armut
Das globale Phänomen der neuen Armut trifft besonders auch das wiedervereinigte Deutschland. Mit Armut verbunden ist häufig Obdachlosigkeit.
Viele Odachlose kommen aus den neuen Bundesländern, aber auch aus den ehemaligen Gus-Staaten. Die Hamburger Behörden sind ohnmächtig, die Bürger ebenso. Hilfe zur Selbsthilfe gibt nur in den seltensten Fällen.
Obgleich Bürgermeister Ole von Beust das Bild von Hamburg als wachsende Metropole vermarktet, steigt parallel dazu die soziale Armut in der Stadt. Flanieren Touristen vom Hauptbahnhof die schicke Mönckebergstraße hinunter zum Rathaus, so kann der Blick beim Einkaufsbummel nur unschwer an den Obdachlosen am Straßenrand und den Geschäftseingängen vorbeihuschen. Mittlerweile leben obdachlose Menschen in Kleingruppen auch in der Innenstadt. Der Neonlichtglanz in den Schaufenstern ist überschattet von Gesichtern, aus denen tiefe Armut spricht. Die Hamburger Behörde für Soziales schätzt die Zahl der Obdachlosen im Stadtstaat auf 4000 bis 5000 Menschen. Doch seit langem ist Obdachlosigkeit in der Bundesrepublik kein regionales Phänomen mehr. Allein in der Bundesrepublik leben 410.000 Menschen ohne Wohnung auf der Straße.
Arm trotz Arbeit: Das Leben der Straßenmagazinverkäufer
Fred Jaschner ist hoch konzentriert und wissend, als er die Besucher im Hinz&Kunzt- Redaktionshaus, welches das größte, deutsche Straßenmagazin für Obdachlose herausgibt, das heute ein Gemeinnütziger Verein ist und zu 75 Prozent von der evangelischen Diakonie getragen wird, am Sonntag in der Altstädter Twiete in der Nähe des Hauptbahnhofes empfängt. Hinz & Kunzt ist eines von inzwischen dreißig Straßenmagazinen in Deutschland, das zu Beginn der neunziger Jahre nach dem Vorbild des Londoner Straßenmagazins The Big Issue John Birds konzipiert wurde, wobei das Konzept Birds auch für Straßenmagazine in Australien, Japan, Namibia und Südafrika kopiert wurde.
Seit dreieinhalb Jahren organisiert Jaschner als Betroffener den „etwas anderen Stadtrundgang“ und zeigt Hamburger Bürgern die Schlaf- und Betreuungsplätze sowie Auffangstellen der Obdachlosen. Fred Jaschner, 43 Jahre alt, ist einer von ihnen. 13 Jahre hat er auf der Straße gelebt. Seit 6 Jahren verkauft er das Straßenmagazin Hinz&Kunzt, das 1993 mit einer Auflage von 5000 Ausgaben startete und nun monatlich mit 70.000 Exemplaren auf dem Markt erscheint. Fred Jaschner hat es geschafft. Heute ist er von der Straße weg. Stolz verkündet er den Besuchern, dass er keine staatliche Hilfe in Anspruch zu nehmen braucht, da er vom Straßenverkauf leben kann. Wenn auch nicht richtig, so ist er aber im Unterschied zu vielen anderen Obdachlosen kein Hartz IV-Empfänger. Die Besucher staunen bei seinem Kurzbericht über seine Vita. Doch das Staunen bleibt im Halse stecken, als er erzählt, dass er monatlich rund 200 Euro mit dem Straßenverkauf einnimmt und sich davon nur ein kleines Zimmer zur Untermiete leisten kann. Für die Krankenkasse reicht der Verdienst nicht aus. „Am besten ist es, gar nicht erst krank zu werden. Aber ich habe ja kein Alkoholproblem und mein Tabak wird gesponsert“, erklärt er souverän.
Obgleich Fred Jaschner bei seinem Vortrag über das Leben in der Obdachlosigkeit kompetent wie ein Seminarleiter auftritt, haben die Armut, die Unterversorgung, das Alleinsein und die jahrelange Schutzlosigkeit, nur in einem Schlafsack gehüllt die Nächte draußen zu verbringen, ohne Schutz der Privatsphäre Spuren in seinem Gesicht hinterlassen. Die Wangenknochen ragen weit hervor, die Gesichtshälften und Mundpartien wirken durch die Not, die wenig Anlass zur Freude gibt, eingefallen. Seine Hautfarbe ist blass und fahl. Unter den Augen zeichnen sich blau-rote, breitbandige Augenringe ab. Er ist durch das Leben auf der Straße zwar gezeichnet, aber nicht gebrochen. Vielleicht liegt es an der warmen Atmosphäre im Redaktionshaus, in dem einige ehemalige Obdachlose eine feste Arbeit gefunden haben und nun hinter dem Tresen stehen und Kaffee oder Wasser an ihre Kollegen ausgeben. „Doch, obgleich das Redaktionshaus fast wie ein Zuhause für täglich 50 bis 100 Verkäufer ist, sollen sie sich hier nicht lange aufhalten“, sagt die Pressesprecherin von Hinz & Kunzt Sybille Arendt. Wenn die Obdachlosen den kostenlosen Kaffee getrunken, ihre Zeitungen eingekauft haben, können sie sich noch duschen und bekommen auch frische Kleidung. Mittags bringt die Hamburger Tafel die Lebensmittelspenden aus den Bäckereien. Doch dann sollen die Leute an ihre Verkaufsplätze gehen, die sie über den Eintrag in Listen im Redaktionshaus für sich gemietet haben. Denn jeder Verkaufsplatz ist nur einmal besetzt und wird auch regelmäßig von den Mitarbeitern im Hinz & Kunzt-Haus kontrolliert.
So gestaltet sich auch der terminreiche Alltag von Fred Jaschner, so dass ihm wenig Zeit bleibt, über seine wirtschaftliche und psychologische Misere nachzudenken. Für den Stadtrundgang ist er bestens vorbereitet. Sein Vortrag ist dicht und informationsreich, als würde er einen Volkshochschulkurs geben. Über seine Arbeit spricht er sachlich und vermittelt unterschwellig seine Authentizität als Hinz & Kunzt-Verkäufer. Er erzählt, dass manche Verkäufer nur 50 Zeitungen verkaufen, andere hingegen zwischen 300 und 400 und wieder andere bis zu 1000 Exemplaren im Monat. „Die Top-Verkäufer stehen dann aber auch sieben Tage die Woche 12 bis 15 Stunden draußen. Mein Verkauf beläuft sich im Schnitt im Monat auf 220 Zeitungen. In der Regel geben die Kunden 2 bis 3€, an Weihnachen sogar bis zu 20€.“ Hier im Redaktionshaus, in dem er morgens bei einer Tasse heißen Kaffee seine Zeitung für 75 Cent das Exemplar einkauft, um sie dann für 1€60 das Stück mit 80 Cent Reingewinn zu verkaufen, hat er eine neue Identität gefunden. Hier findet er Ansprache, Hilfe, Unterstützung und Geselligkeit beim Skat- oder Sokker-Spiel. Er kommt von ganz unten und hat es bereits bis hierhin geschafft, sein Leben wieder selbst in die Hand zu nehmen.
„Ich kümmerte mich um gar nichts mehr“
Die Straße wurde zu seiner Zuflucht, als seine Frau und seine Kinder bei einem Autounfall ums Leben kamen, und er als einziger überlebte. „Ich habe mich in mich zurückgezogen und kümmerte mich um gar nichts mehr.“ Lange versuchte er, das Trauma in Gesprächen mit Freunden und Verwandten zu verarbeiten. Doch neben Mitleid schöpfte er daraus kaum Trost und neuen Lebensmut und verließ seine Heimat in der Nähe von Halle. Dann kam die Straße. Die Behörde schätzt, dass in Hamburg bis zu 1.500 Obdachlose wegen persönlicher Schicksalschläge, psychischer und materieller Not direkt auf der Straße leben. Weitere Gründe für Obdachlosigkeit in Deutschland sind nach Ansicht der Hamburger Behörde für Soziales die Massenarbeitslosigkeit, die zunehmende Verschuldung und kaum vorhandener, preiswerter Wohnraum. Bis zu 3000 Personen schlafen in Hamburg in kostenlosen Not- und Wohnunterkünften der Stadt. „Auf der Straße lebende Menschen gehören zu einer Personengruppe, über die wenig fundiertes Wissen vorhanden ist“, erklärt die Senatorin für Soziales und Familie Birgit Schnieber-Jastram. Eigentlich gibt es die auf der Straße lebenden Menschen offiziell gar nicht mehr, weil ihr Name in keiner Behördenstatistik geführt wird. Nur im Pass steht noch der Name sowie die Stadt, in der sie sich aufhalten, jedoch mit dem Zusatz ofW (ohne festen Wohnsitz).
Einsamkeit macht krank und süchtig
Die Pressesprecherin der Hinz & Kunzt-Redaktion Sybille Arendt begegnet täglich den Menschen, die hier im Vorraum für eine Stunde Wärme, Sicherheit und schützende Hilfe im Haus suchen. „Ist man erst mal aus der Gesellschaft ausgestiegen, bleibt man für den Rest seines Lebens ein Außenseiter. Die Menschen müssen täglich die Einsamkeit ertragen. Es gibt kaum Glück. Sie haben keine Freunde, keine Privatsphäre. Viele trinken, um ihren Schmerz nicht zu spüren. Die Depression, das viele Trinken, macht ein bisschen verrückt und bricht etwas in der Seele der Menschen“, erklärt sie.
Zudem ist das Leben auf der Straße ein Leben ohne Rechte. Hierbei gehen nicht nur die Bürgerrechte verloren wie beispielsweise das Wahlrecht, da die Behörden die Wahlunterlagen an keine Adresse mehr schicken können. Es sind auch die Grundrechte beim Leben auf der Straße nicht erfüllt und permanent gefährdet wie der Schutz des Eigentums, das Recht auf Unversehrtheit, der Schutz der Würde des Menschen, die freie Entfaltung der Persönlichkeit, die Gleichheit vor dem Gesetz, die Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit. Denn für die Polizei, die die öffentlichen Räume schützt, ist es häufig ein Problem, wenn Plätze, Treffpunkte, Bahnhöfe immer mehr zu privaten Verkaufs-Räumen werden. Trotz gegenteiliger Gerichtsurteile, die Bettelverbote an öffentlichen Plätzen für nichtig erklären, sind Obdachlose kaum geduldet. Im Kreis der Rechtlosen angelangt, verlieren die Menschen auch noch ihre Identität. Und die kostenlosen Auffangstellen in Hamburg können die Not kaum lindern und bieten in den seltensten Fällen Hilfe zur Selbsthilfe.
Hamburger Tagesaufenthaltsstätten bieten selten Hilfe zur Selbsthilfe
Die Hamburger Innenstadt bietet einige Einrichtungen, die kostenlose Hilfe für Obdachlose anbieten. So gibt es in der Nähe der Mönckebergstraße den Stützpunkt, der von der Caritas und von Geschäftsleuten aus der Hamburger Innenstadt geführt und finanziert wird, in dem Obdachlose kostenlos eines von 60 Schließfächern tagsüber bekommen können, um ihr weniges Hab und Gut dort aufzubewahren.
Herz As ist eines der acht Hamburger Tagesaufenthaltsstätten für Obdachlose, die von 12 bis 18 Uhr die Möglichkeit zum Duschen, Wäschewaschen und Mittagessen bietet. Jedoch können hier täglich nur rund 150 Personen betreut werden, wobei der Andrang immer größer ist. Herz As bietet auch eine Postadresse, an die Post verschickt werden kann, und an die die Behörden die Schecks für die Hartz IV-Gelder schicken können. Zweimal die Woche können Obdachlose hier auch ohne Krankenversicherung über die mobile Hilfe kostenlos ärztlich betreut werden. Doch die wenigsten nehmen diese Hilfe auch in Anspruch und sind durch das ungesunde Leben auf der Straße entweder rückfällig oder können nicht ganz von ihrer Krankheit genesen. Im Gebäude über dem Herz As ein paar Stockwerke höher liegt die Münze, in der man sich um psychisch Kranke kümmert. Hier können jedoch nur bis zu 15 Personen aufgenommen werden.
Nicht weit vom Herz As entfernt ist das 'Drog in', das in einem ehemaligen Wüstenrothaus untergebracht ist. Es hat sieben Tage die Woche von 8 Uhr früh bis 5 Uhr morgens geöffnet und empfängt täglich bis zu 1000 erwachsene und jugendliche Drogensüchtige, wovon 25 Prozent obdachlos sind. Hier können Drogensüchtige mit sauberem Besteck, unter ärztlicher Aufsicht ihre Drogen innerhalb von 20 Minuten konsumieren. Mit dem sauberen Besteck soll die Ansteckungsgefahr für Aids verringert werden. Gleichzeitig können die Süchtigen im 'Drog in' auch soziale Beratung und eine warme Mahlzeit für 1-2€ erhalten. Die Hamburger Polizei überwacht das 'Drog in' täglich, da es ein bekannter Tummelplatz für Dealer ist. Manche der Süchtigen probieren von der Droge wegzukommen und machen ein Methadon-Programm mit. Das Methadon wirkt im Körper innerhalb von 30 Minuten und schließt die Rezeptoren, so dass das Suchtgefühl ausbleibt. Es hält 28 Stunden an und der Körper hat in der Zeit kein Verlangen mehr nach der Droge. Statistisch liegt jedoch die Rückfallquote nach einer Methadon-Behandlung bei 95 Prozent, da die ehemals Drogenabhängigen immer wieder die alten Bekanntenkreise aufsuchen und dann wieder zum Fixen animiert werden.
Nirgendwo geduldet
Es ist 22 Uhr 30. Die Lichter gehen in der Mönckebergstraße aus. Vor dem Eingang des C&A-Hauses bauen fünf Personen ihr Nachtlager auf. Horst macht bereits seit 20 Jahren Platte und verkauft seit zehn Jahren das Hinz & Kunzt-Straßenmagazin, womit er einer der ältesten Verkäufer bei Hinz & Kunzt ist. Mühsam schlüpft er in seinen Schlafsack. Neben ihm liegt sein siebenjähriger Rüde Schorsch mit schwarzem Fell. Das Hinlegen fällt Horst zur Zeit schwer, da er durch einen Sturz sein Bein nicht mehr bewegen kann und „immer diesen stechenden Schmerz im Miniskus verspürt“. Aber ein Krankenhausaufenthalt kommt für ihn nicht infrage. Gegenüber von Horst hat Uwe, 35 Jahre alt, eine aufblasbare Isomatte hingelegt. Seine Hündin Aischa, ein deutscher Schäferhundmischling, hat ihren eigenen Schlafsack. Jetzt im Herbst kommt über den Schlafsack noch eine Decke, um sich bereits gegen die sinkenden Bodentemperaturen in der Nacht und die Feuchtigkeit zu schützen. Uwe wollte eigentlich nur eine Woche lang Platte machen und ist dann in der Mönckebergstraße bei Horst hängen geblieben. Manchmal sind sie nur 5 bis 6 Leute in ihrem Zuhause, dem Eingang des C&A-Modehauses. Und manchmal sind sie sogar bis zu 16 Personen, die hier nächtigen.
Uwe zündet den Gaskocher an und stellt einen Topf mit einer Suppe darauf. Sie muss für alle reichen, da der Tagesverdienst heute mager war. Gerade mal zehn Euro hat Uwe, der auch für Horst sorgt, da er wegen seines Beines keine Zeitungen verkaufen kann, mit dem Straßenverkauf eingenommen. „Das muss für uns, für den Hund und zum Rauchen reichen. Wenn ich mit Hinz & Kunzt mehr einnehme, gibt es abends dann auch mal Fleisch und Gemüse“, erzählt Uwe. Heute abend fühlen sie sich in der Runde nicht einsam, denn sie kennen sich alle untereinander seit Jahren und fühlen sich wie in einer Familie. „Wir vertrauen uns. Wenn ich meinen Kumpel mit 50€ zum Einkaufen losschicke, weiß ich, dass er danach wieder kommt. Manchmal passiert es, dass ein Kumpel, den wir nicht so gut kennen, mit nur 1 € von uns durchbrennt“, so Uwe. Die Fünfergruppe bespricht, wie es den anderen Obdachlosen in der Stadt ergeht. Momentan macht ihnen in der Stadt eine Bettlermafia zu schaffen, die mit Hundewelpen und mit Rollstühlen in der Stadt auftaucht und bettelt. „Abends sehen wir, wie sie auf dem Kiez, im Stadtteil Sankt Pauli, von skrupellosen Männern abgezockt werden. Das ist eine organisierte Bettelmafia aus dem Ausland, die uns den Verkauf schwer macht“.
Hier vor dem C&A-Eingang können Uwe, Horst und seine Kumpels bis 6h30 am Morgen bleiben. Dann müssen sie ihre Schlafsäcke einrollen, zum Stützpunkt bringen und den Eingang gefegt und gesäubert haben, denn sonst werden sie von der Kaufhausgeschäftsleitung nicht mehr geduldet.
Inzwischen ist es 11 Uhr. Horst sitzt auf der Bank in der Mönckebergstraße vor dem Eingang des C&A-Hauses, zu seinen Füßen neben der Krücke liegt Schorsch und passt auf, wer vorbeigeht. Eine, in einen rosa Pelz gekleidete Frau mit ihrem Pekinesen, einem ursprünglich chinesischen Palasthund, der sogar der Sage nach Buddha auf seinem Weg begleitet haben soll, flaniert an Ihnen vorbei und Schorch schlägt an. Horst legt beruhigend seine Hand auf Schorchs Fell, ist aber froh, dass er sich nachts auf ihn verlassen kann und zündet sich eine Zigarillo an. Gekleidet ist er in eine schwarze Lederjacke, Jeans und Cowboystiefel. Auf dem Kopf trägt er eine echte Elbsegler-Mütze, wie sie die Matrosen im Hamburger Hafen tragen. Horst hat sie bei C&A günstig bekommen. „Im Hutgeschäft hätte sie 65€ gekostet“, betont er. In der Kleidung wirkt Horst wie ein pensionierter Matrose. Sein Gesicht, hervorgehoben durch einen grauen Bart, ist gepflegt. Im Gespräch funkeln seine Augen friedlich und freundlich. „Ich trage gerne eine Seemannsmütze, die gefällt mir am besten. Bei zu starker Sonne trage ich auch einen Cowboyhut, der in meinem Reisekoffer hinter der Bank verpackt ist. Wenn die anderen arbeiten und verkaufen, habe ich mit Schorch keine Langeweile. Einige Leute gehen vorbei und lächeln, wenn sie uns mit den Hunden sehen. Ich kenne noch den Vater von Schorch, ein schwarz-weißer Rüde. Schorch hat vier weiße Pfoten und sein Bauch ist auch weiß“.
Horst muss wegen des Schmerzes im Bein oft die Zähne zusammenbeißen. Aber daran ist er gewöhnt. So überstand er auch ohne Alkohol die Trennung von seinem früheren Leben. Bis zu seiner Scheidung hat er in Bergedorf in der Nähe von Hamburg als Maurer gearbeitet und mit seinem Verdienst seine Frau und seine zwei Kinder, ein Mädchen und einen Jungen, versorgt. Mit 67 Jahren kann er nicht in seinen alten Beruf zurück. „Ich bin zufrieden mit meinem Leben und denke nicht zurück. Meine Kinder sind heute groß; der Junge ist 36 Jahre alt, das Mädchen 37 Jahre. Beide sind verheiratet. Wenn wir uns zufällig auf der Mönckebergstraße begegnen, ist es gut. Doch ich lasse beide in Ruhe. Sie sind heute verheiratet. Ich will ihr Leben nicht stören. Ich bleibe hier auf der Bank in der Mönckebergstraße sitzen“, sagt Horst und blickt zu Uwe, der ihm gegenüber steht und nun seinen Verkaufsplatz neben dem C&A-Schaufenster eingenommen hat.
„Ich trinke, um nicht zu fühlen, was die Leute, die an uns vorbei gehen, denken“
In Uwes Leben hat es härtere Brüche gegeben. Aischa bekam er, als sein Kollege mit 25 Jahren durch einen Gehirnschlag nach einer Schlägerei in der Süderstraße, mitten in einem neuen Industrieviertel, in dem nachts ein Straßenstrich ist, starb. Uwe hatte drei Monate lang eine eigene Wohnung. Doch sie brannte Weihnachten wegen einer funktionsuntüchtigen Nachtspeicherheizung ab. Seither hat er keine neue Wohnung mehr bekommen, da er in der Schufa steht und noch Mietschulden hat. Uwe ist ein Außenseiterkind aus Stade und blieb es. Mit 6 Jahren kam er ins Heim. Mit 14 Jahren in den Jugendknast wegen Einbrüchen in Geschäfte und Kioske. Danach probierte er Drogen, Tabletten und Alkohol. Als sein Vater 1991 starb, hing er an der Nadel. Seit 23 Monaten ist er clean. Aus dem Drogenkonsum ausgestiegen ist er über ein Methadon-Programm im Knast. Dann traf er seine Freundin, die ihm half ein neues Leben zu beginnen. Doch im Nacken sitzen ihm noch Straftaten, zwei Diebstähle mit Körperverletzung, die er durchzustehen hat.
Auch er hat als Hinz & Kunzt-Verkäufer eine zweite Chance bekommen. Heute sucht er nach ehrlichen Freunden, die auch ihm mal helfen, wenn er in Not ist. Sein Geld verdient er nur noch auf ehrliche Weise. „Jetzt muss ich erst mal drei Zeitungen verkaufen, dann kann ich mir ein Würstchen leisten.“ Hier steht er täglich von 9h bis 14h30. Dann geht er zu Hinz & Kunzt zurück, um den Verkaufsplatz auch für den Nachmittag zu sichern. Während der Arbeit trinkt er keinen Schluck Alkohol. Erst danach genehmigt er sich einen Schluck aus der Bierflasche und Aischa springt zu ihm auf die Bank und leckt ihm das Gesicht ab.
Dass die Passanten das Leben der Obdachlosen auf der Straße manchmal wie aus der Zooperspektive betrachten, daran hat er sich gewöhnt. „Ich trinke, um nicht zu fühlen, was die Leute, die an uns vorbeigehen, denken. Ich trinke aber auch, um meine Vergangenheit nicht zu spüren.“
Viele Obdachlose kommen aus Polen und sind in Deutschland allein und vergessen
Die Menschen, die abends allein vor Geschäftseingängen mit fünf Plastiktüten neben sich wie eine Mauer aufgebaut sitzen, die Kapuze über das Gesicht gezogen, werden kaum beachtet. Keiner weiß, woher sie kommen und wohin sie gehen. Manche kommen aus den ehemaligen Gus-Staaten, viele darunter aus Polen. Das verbindende Element mit den anderen Obdachlosen, ohne Dach über dem Kopf zu sein. Und es trifft Männer wie Frauen gleichermaßen. In Hamburg sind 23% der Obdachlosen Frauen.
Anna Piechot steht mit ihrer Gruppe auf der Reeperbahn und schnorrt. Nicht weit von der bekannten Hamburger Reeperbahn-Kneipe die Ritze, im Hinterhaus neben den Mülltonnen, über den ehemaligen Trainingsräumen des Tigers, des polnischen Boxers Dariusz Michalczewski, der seine Karriere als Straßenboxer begann, haben sie in einer Art Kellernische, vor deren Eingang Bierkästen aufgetürmt sind und ein alter verrosteter Kühlschrank steht, ihre Schlafsäcke auf Sperrholzkisten über dem Betonboden ausgebreitet. Von der Straße dröhnt aus einem vorbeifahrenden Auto die Titelmusik des Tigers. Von der kleinen Wellblechüberdachung in der Nische tropft der Regen erst auf den Kühlschrank, dann auf die Treppe und von da auf die leeren Bierkästen, bis die Nässe unmittelbar in den Stoff der Schlafsäcke einzieht. Doch Anna Piechot, 31 Jahre, die mit ihrem Mann Majna Zbigniew (34 Jahre) lieber draußen übernachtet, als in einer sozialen Wohneinrichtung der Stadt voneinander getrennt zu werden, da die Schlafräume für Männer und Frauen dort separat sind, sieht dies als die bessere Alternative. Obgleich sie zu fünft in der Gruppe sind, bezieht sie allein Sozialhilfe, 345€, monatlich. Das Geld teilt sie mit ihrem polnischen Ehemann Majna Zbigniew, der vor 14 Jahren ohne Aufenthaltsgenehmigung nach Deutschland gekommen ist. Auch für Anna Piechot hatte das Leben bisher wenig Sonnenseiten. 10 Jahre war sie heroinabhängig und ist dann über eine Therapie davon losgekommen. Nun ist sie clean, findet aber keine Arbeit, da sie keine Ausbildung hat. Für sie bleibt mit 31 Jahren, im besten Alter, nur die Straße und das bisschen Schnorren, der einzige Zuverdienst für die Gruppe, um zu überleben.
Das Arbeitsparadies Deutschland ist nur ein Traum
Anna Piechot erzählt, dass sie eigentlich nur eine Vierergruppe sind, denn Thomas (43 Jahre) aus Stettin sitzt beinahe regungslos auf der Straße, da er es nicht mehr bis zum Schlafversteck schafft. Sein Mund blutet vom vielen Hinfallen; sprechen und sich um sich kümmern kann er auch nicht mehr, da er vom harten Alkohol ganz weit weg und wie betäubt ist. Hilfe gibt es für ihn auch keine. Einmal war er zur Behandlung im Krankenhaus. „Da er jedoch keine Krankenversicherung hat, ist er weggelaufen und hat zudem seine Schuhe im Krankenzimmer vergessen“, sagt Anna Piechot. Ein paar Jugendliche ziehen vorbei und rufen „Scheiß Ausländer!“. Wieder andere Jugendliche rufen „lasst Euch das Ausfragen von den Journalisten nicht gefallen!“. Doch hin und wieder ist die Solidarität der Passanten auch beachtlich. „Sie bringen uns Decken und sogar eine Leine für unseren Hund Sarah. Ein Punker hat uns sogar ein Halsband geschenkt.“
Anna Piechot erzählt weiter, dass sie mit dem Schnorren manchmal 2,5€, und an besseren Tagen wie am Anfang des Monats, wenn die Leute vom neuen Lohn noch Geld übrig haben, auch bis zu 70€ verdienen. Wenn etwas Geld vom Schnorren übrigbleibt, schickt Miradowo, ein weiteres Mitglied der Gruppe, der aus einem Dorf in der Nähe von Danzig stammt, zu Weihnachten und zum Geburtstag etwas Geld zu seinen Kindern nach Polen, damit sie sich davon Schokolade kaufen können. Miradowo hofft auf eine Schwarzarbeit, damit er arbeiten kann. Doch beim letzten Job als Maurer vor vier Monaten hatte er einen schlechten Chef, der kein Gehalt an seine Leute ausbezahlte. Miradowo trinkt, damit er nicht nachdenken muss. Denn wenn er nicht trinkt, denkt er ständig an seine Familie in Polen und kann den Trennungsschmerz nicht ertragen.
Miradowo war auch in Polen bitterarm und fand keine Arbeit. Eines Tages nahm er einfach einen Autobus und fuhr nach Deutschland, das Land, von dem alle Polen sagen, es sei das Paradies, weil man hier Arbeit und ein gutes Leben finden könnte. Doch für Miradowo blieb es nur ein Traum. „Irgendwann treffen sich alle Obdachlosen auf der Straße auf der Reeperbahn und bleiben hier hängen,“ sagt Anna Piechot. „Die Geschäftsleute sehen nicht gern, wenn wir vor ihrem Laden stehen und schnorren, da sie Angst haben, dass wir ihnen ihre Kunden vergraulen. Und die Leute auf der Straße reden nicht gern mit uns, da sie Angst haben sich anzustecken. Viele von uns haben Tuberkulose und Läuse. Und ziehen wir uns in unsere Schlafstelle im Hinterhof zurück, beschweren sich die Nachbarn über uns, weil ihnen der Anblick unseres Zuhauses im Freien nicht gefällt. Häufig spritzen sie Wasser auf unsere Schlafsäcke, damit wir uns eine andere Schlafnische suchen.“