Gnadenloser Leerlauf

Wie ein Milchgesicht das Karussell des medialen Spektakels antreibt

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Es gibt Menschen, die reden viel über den Niedergang des Journalismus. Andere tun etwas dafür - etwa die Münchner Boulevard-Zeitung TZ. „Aufstand gegen die Kinderschokolade!“ titelte das Blatt am 6. Dezember 2005 auf der ersten Seite in formatfüllender Überschrift. Im Text war zu lesen: „Entsetzen bei den Süßigkeiten-Fans! Das Gesicht, das über 30 Jahre lang von der Kinderschokolade lachte, ist durch einen neuen Buben ersetzt worden. Jetzt gehen Nostalgiker auf die Barrikaden: Zehntausende unterschrieben bereits Petitionen gegen das neue Gesicht.“ Im Inneren wird der Artikel auf der Seite drei fortgesetzt.

Wohlgemerkt, bei der Ursache für den „Aufstand“ und das „Entsetzen“, für den „riesigen Proteststurm“, für den Kampf auf den „Barrikaden“, handelt sich nicht um die Foltervorwürfe gegen die CIA, sondern um eine Tafel Schokolade, auf deren Verpackung nach dreißig Jahren das Bild eines Jungen durch das eines anderen ersetzt wird. „Es ist die (zart?-)bittere Wahrheit: Das Schokoladen-Gesicht - es ist weg, ausgetauscht! Das Konterfei des blauäugigen Buben, der seit 32 Jahren von der Kinderschokolade lachte, ist ersetzt worden durch das eines anderen...“, beginnt der Artikel auf Seite 3.

Die Wahrheit ist allerdings nicht zartbitter, sondern bizarr und ein weiteres Beispiel aus dem Tollhaus eines immer mehr auf sich selbst bezogenen Mediensystems, in dem Pseudo-Nachrichten über Pseudo-Ereignisse zirkulieren. Die TZ-Schlagzeile ist wahrlich ein Element jener „Gesellschaft des Spektakels“, die der französische Linksintellektuelle Guy Debord vor fünfzig Jahren aufs Korn nahm und die nun ihren Höhepunkt zuzustreben scheint.

Am Anfang dieser Mediengeschichte über Medien steht ein Medium - was sonst. 1973 wurde ein zehnjähriger Junge in München für ein Reklamefoto fotografiert und dieses Foto prangte mehr oder weniger unspektakulär und mehr oder weniger retuschiert auf der Verpackung einer Schokoladentafel.

Das Konterfei eines brav-angepassten Mittelklasse-Sprösslings hätte sein mediales Leben verdient unbemerkt ausgehaucht, wäre es nicht Gegenstand eines der unzähligen geschwätzigen Talk-Shows im Fernsehen gewesen. Diese jedoch veranlassten den mittlerweile 42-jährigen ehemaligen Schokoladen-Jungen zum „Outing“. Günter Euringer meinte, seine Biografie als das Gesicht der Kinderschokolade zu Papier und auf den Markt bringen zu müssen. Das Buch erscheint im Schweizer Giger-Verlag („Fitness für Katzen“) und hat laut Verlagswerbung für 17,50 Euro und auf 200 Seiten Folgendes zum Inhalt:

In humorvollen Geschichten schildert der Autor sein Leben hinter der Tafel, wie es weiterging nach dem legendären Fotoshooting, spannende Erlebnisse mit Promis und wie er eine schwere Krankheit überwunden hat und trotzdem sein Lächeln nie verlor. Ein Lachen, dass er heute am liebsten seinen Kindern schenkt.

Kevin, das neue Gesicht

Die Folge des Erscheinens der Biografie verursacht einen „Sturm“ im Blätter- und Senderwald, es berichten das SZ-Magazin, die Deutsche Welle, Stern TV und Brisant, BBC News, Spiegel Online, die Hessische Niedersächsische Allgemeine, der Kölner Stadtanzeiger und natürlich die TZ.

Soweit ist dies nun noch keine Ausnahme im Medienrummel, natürlich werden Boulevard-Themen - und seien sie noch so randständig - gerne von den Redaktionen aufgegriffen. Dass man die sprichwörtliche Sau allerdings auch dann noch durchs Dorf schleift, wenn das Tier längst das Zeitliche gesegnet hat und - um das Bild zu verlassen - der Nachrichtenwert gegen Null tendiert und nur noch als inszeniertes Spektakel zu begreifen ist, das ist in dieser Intensität schon verblüffend.

Die Inszenierung in der dritten Runde der medialen Ereignissimulation beginnt mit einer Website Weg mit Kevin, für die zwei Sachsen aus Chemnitz verantwortlich zeichnen und die sich dem Protest gegen das neue Konterfei auf der Schokolade verschrieben haben (der Schokoladen-Hersteller hatte inzwischen angekündigt, die Verpackung zu modernisieren): „Mit dieser Seite protestieren wir gegen das neue Gesicht auf der Kinder Schokolade von Ferrero.“ Damit ist ein Kulturkampf eröffnet, bei dem es um nichts Geringeres geht als um - Identität:

Aus vermutlich marketingtechnischen Gründen nimmt uns Ferrero das alt bekannte Gesicht der Kinder Schokolade. Als Kinder der Konsumgesellschaft fühlen wir uns mit diesem Gesicht aber in großem Maße verbunden. Ferrero ändert also nicht einfach nur eine Produktverpackung – Ferrero stiehlt uns einen Teil unserer Identität. Dagegen möchten wir uns im Rahmen unserer bescheidenen Möglichkeiten wenden. Die Seite gibt es, weil wir den Protest bündeln wollen, den wir auch in unserem Bekanntenkreis gespürt haben.

Text auf der sächsischen Schokoladen-Junkie-Website

An dieser Stelle stellt sich allerdings die Frage, ob es sich hier um eine Art Metakritik der Gesellschaft des Spektakels handelt, die sozusagen spielerisch den Feind mit seinen eigenen Waffen schlägt, mit anderen Worten: um Verarschung. Das Mediensystem mit gefälschten Meldungen zu kontaminieren und zuzumüllen hat sich ja eine sogenannte „Fake“-Bewegung zur Sache gemacht. Andererseits könnte die fortschreitende Infantilisierung der Gesellschaft auch solche Identitäts-Geschädigten hervorbringen, die ihre Lebenszeit gerne mit Schokolade-Verpackungen vergeuden.

Wie auch immer, dem Mediensystem ist’s allemal eine Meldung wert. Über den web-seitigen „Protest-Sturm“, der am 29. November online geht, berichtet am 1. Dezember die Internet-Zeitung, sechs Tage später „Bild-Online“ - und natürlich die TZ mit ihrer Schlagzeile. Auf der Internet-Site des Giga-Verlages heißt es gar:

Deutschland (!) ist gegen das neue Bild von der Kinderschokolade und will Günter wieder zurück! Es wurde eine Unterschriftenkampagne gestartet, wo bereits 50'000 Personen unterschrieben haben.

Freilich, überprüft hat diese 50.000 „Unterschriften“ keiner, es gibt sie ja auch gar nicht, sondern nur ein Feld auf der Schokoladen-Junkie-Website, auf der man Namen und Email-Adresse eingeben kann. Dies kann allerdings auch durch ein Programm geschehen. Zwar bestätigte die Schokoladen-Firma den Eingang von „Unterschriften“ per Email, aber überprüft, etwa ob sich die Namen nach der 500sten Nummer wiederholen, hat man diese nicht.

Auf einer derart dünnen Basis ungeprüften Basis einen Artikel zu veröffentlichen oder gar wie TZ eine Schlagzeile auf der Titelseite daraus zu machen, zeugt nicht unbedingt von journalistischer Sorgfaltspflicht. Dass wie bei dem TZ-Beispiel zudem völlig die Kategorien und Begriffe auf den Kopf gestellt und entleert werden, dass - man muss es noch einmal wiederholen, es handelt sich um die Verpackung einer Schokolade! - das Banalste zum Wichtigen, das Nebensächliche zum Hauptsächlichen, das Unbedeutende zum Bedeutenden erhoben wird, dass die Sprache völlig grotesk und verzerrt Begriffe wie „Proteststurm“ und „Aufstand“ in diesem Zusammenhang benutzt, zeugt wiederum von einer Tendenz zur Entstrukturierung und zur „Virtualisierung“ von Welt. Diese besteht dann zunehmend aus Inszenierungen, aus Pseudo-Ereignissen, aus Konstruktionen von Wirklichkeit und der aufklärerische Impetus der Presse, geboren aus dem bürgerlichen Emanzipationsgedanken und dem Glauben an die rationale Durchdringung von Welt, geht vollends vor die Hunde.

Wenn es egal ist, ob auf den Titelseiten der Zeitungen der Zustand der politischen Verhältnisse oder Boulevardthemen der untersten Kategorie zu lesen sind, wenn zwischen dem Aufstand im Gaza-Streifen und dem „Aufstand gegen die Kinderschokolade“ kein Unterschied mehr gemacht wird, dann ist dies nicht mehr nur eine Kapriole des Boulevardjournalismus, sondern die Abdankung eines wie rudimentär auch noch vorhandenen journalistischen Ethos und Selbstverständnisses. Dann bleibt nur noch der gnadenlose Leerlauf eines selbstreferenziellen medialen Systems, in dem man sich die Schatten- und Spiegelbilder gegenseitig zuschiebt und sich inzestuös aufeinander bezieht: Die Netzzeitung auf das Internet, Bild auf die Netzzeitung, TZ auf Bild, das Fernsehen auf die TZ und wieder von vorn - der Kreislauf des Spektakels ist geschlossen.