God's own Cybercountry

Das kommunistische Kerala als IT-Dorado

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Indien dieses formlose Konglomerat von Differenzen, von dem Winston Churchill (der übrigens Mahatma Gandhi als "halbnackten Fakir" bezeichnete) sagte, es sei nur ein "geografischer Ausdruck und so wenig ein Land wie der Äquator", erstaunt immer wieder durch seine doch relativ konsistente und überzeugende wirtschaftlich-politische Morphogenese. Kerala, 1957 zum ersten kommunistischen indischen Bundesstaat gewählt, nimmt in diesem Konglomerat noch einmal eine Sonderstellung ein.

Die Regierung hat in Kerala viel Positives bewirkt: Dank kluger Sozialprogramme erreichte Kerala eine rapide Senkung der Sterblichkeitsrate und eine Verbesserung der Lebensbedingungen - und das ohne großes Wirtschaftswachstum. Trotz des eher bescheidenden Wirtschaftswachstums war es also gelungen, die Einkommensarmut schneller zu senken als in anderen indischen Bundesstaaten, indem vor allem auf ein verbessertes Bildungs- und Gesundheitswesen sowie gerechte Landverteilung gesetzt wurde. Man kann behaupten, dass Kerala bis vor kurzem unter marktfeindlicher Politik gelitten hat, einer Politik, die einer nicht staatlich gelenkten markwirtschaftlichen Expansion misstraute. Neuerdings wird jedoch das Humankapital offensiv für eine der Markwirtschaft entsprechende Wirtschaftspolitik eingesetzt. Wie Amartya Sen in "Ökonomie für den Menschen" (Wider dem Neoliberalismus mit Aristoteles) ausführt, sei es wichtig, sich zu vergegenwärtigen, dass die Senkung der Einkommensarmut nicht das alleinige Motiv der Armutsbekämpfung sein sollte, da die Gefahr bestehe, dass der Begriff der Armut auf ein niedriges Einkommen verengt werde. Obwohl das Pro-Kopf-Einkommen der Afro-Amerikaner in den Vereinigten Staaten wesentlich niedriger ist als das der weißen Bevölkerung, sie also in bezug auf ihr Einkommen sehr viel reicher als die Menschen in Kerala sind, auch unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Lebenserhaltungskosten, ist dennoch die Lebenserwartung der Menschen in Kerala höher als die der schwarzen US-Amerikaner, was mit sozialen Einrichtungen und Sozialbeziehungen zusammenhängt. Kerala hat auch besondere Erfolge in der Verringerung der Geburtenrate, ein Umstand der sicher mit dem hohen Bildungsstand der Frauen zusammenhängt. Die Stärkung weiblicher Selbstbestimmung wurde in Kerala u.a. auch begünstigt durch eine höhere Anerkennung weiblicher Eigentumsrechte.

Die indische Linke setzt sich aus der in West Bengal, Kerala und in dem kleinen Nordoststaat Tripura regierenden Communist Party of India/Marxist (CPIM), der ursprünglichen Communist Party of India (CPI), dem All-India Forward Block (AIFB) und der Revolutionary Socialist Party (RSP) zusammen, abgesehen von der Splitterpartei Communist Party of India, Marxist-Leninist (CPI/ML). Im Rückblick lässt sich in den letzten zehn Jahren ein steter Rückgang der kommunistischen Linken konstatieren, sowohl stimmen- als sitzmäßig, obwohl die ökonomisch-gesellschaftlichen Grundstrukturen ein gutes Klima für eine progressive Linke bilden könnten. Ironischerweise verlieren die Kommunisten in den städtischen Arbeiterhochburgen.

Im großen indischen IT-Rennen promotet Kerala nun offensiv seine Rolle als IT-Supermacht, die sich vor allem die mit dem Netz einhergehenden Bildungsvorteile auf die Fahne schreibt. Ein Schritt, der nachvollziehbar ist aus der Tradition eines Bundesstaates, der es als erster in Indien geschafft hat, das Analphabetentum nahezu vollkommen abzuschaffen

In den nächsten neun Jahren sollen 60 Millionen Schüler und Studenten "tech-savvy", wenn nicht sogar zu Computerexperten werden. Eine von der Regierung eingesetzte Spezialeinheit soll die IT-Revolution vorantreiben und "God's own country" in "God's own Cybercountry" verwandeln. - Hoffnung für die etwa 3,8 Millionen Arbeitslosen?

Das Erziehungs- und Bildungssystem erfordert auf allen Ebenen entscheidende Umwandlungen. Wenn wir die Forderungen des Informationszeitalters erfüllen wollen, müssen wir ganz umdenken und die kommenden Generationen auf die Zukunft vorbereiten. Computer und das Internet sollen ein integraler Bestandteil des Lernprozesses werden", so der Masterplan der Regierung im offiziellen Kerala-Webportal

Im Politbüro gibt es jedoch nach wie vor substantielle Zweifel von marxistischer Seite, zum Beispiel von Sitaram Yechury, geäußert in einer Rede anlässlich des Kongresses IT-Kerala. Zu einem vorsichtigen Ja zu den neuen - zunächst als arbeiterfeindlich eingestuften - Technologien haben sich jedoch mittlerweile fast alle durchgerungen

Auch Nuklearwissenschaftler A.P.J. Kalam, schätzt Kerala als idealen Nährboden ein, um Computerfachleute zu züchten. Die Regierung hat versprochen, mehr als 6000 Computer zu stellen. Ein Kader von IT-Lehrern soll gebildet werden, selbst Schulen auf dem Land bekommen bis 2010 ein Computercenter, glaubt man Bildungsminister P. J. Joseph.

Immerhin hat Kerala heute schon eine Telefonanschlussdichte vorzuweisen, die doppelt so hoch ist wie der Landesdurchschnitt. Mehrere IT-Parks und Internetcafé schossen bereits aus dem Boden, in dem ansonsten u.a. der Pfeffer wächst, IT-Parks, die - wie beispielsweise der in Cochin - damit werben, dass Kerala der kosteneffektivste IT-Standort der Welt sei, ein Viertel so aufwendig wie bei ähnlichen Industriestandards in den USA und etwa die Hälfte so kostspielig wie vergleichbare Standorte wie Bangalore oder Chennai. Kochi, wirtschaftliche Hauptstadt des Staates wird eines der drei Zentren für den Ausbau der hochbitratigen, glasfaserbasierenden Seekabelkapazitäten Indiens, die das Rückgrat für die weltweite Kommunikation bilden sollen.

Ein dreiköpfiges IT-Expertenteam aus Kerala besuchte auch die diesjährige CeBIT und kam mit der für sie überraschenden und erfreulichen Neuigkeit zurück, dass ihr Staat in Deutschland als Badeparadies gilt. Und da es ja dann zum Surfparadies nur noch ein kleiner Schritt sein kann, wird anlässlich der CeBIT 2002 eine deutschsprachige Kerala-IT-Website eingerichtet.