Graues Überstehen

Bild: Joseph Redfield Nino/Pixabay

Kunst und Kultur unter Corona: Ja bitte! - oder kann das weg? - Nachdenken über Wirklichkeitssinn, Möglichkeitssinn und "Systemrelevanz"

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Eine futuristische Vision von Walter Molino aus dem Jahr 1962 zeigt Menschen, die einzeln in Kapseln unterwegs sind, abgeschirmt von allen anderen. Das Bild diente zur Illustration des Stadtverkehrs von "morgen" und erschien in der italienischen Wochenzeitung La Domenica del Corriere (Sonntagskurier) als Ausmalung der Zukunft. Eine Story, wie die Welt einmal aussehen würde.

Die Verkehrsteilnehmer der Phantasiestadt rollen in utopisch anmutenden Einpersonenfahrzeugen, deren Name angelehnt an einen bekannten Kleinstwagen der 1960er, das Minimobil BMW-Isetta: "Singoletta" heißt der Kabinenroller bei Walter Molino.

Die Bildsprache auch: Jeder für sich.

Da segeln wir hin im Singoletta

Ein Symbol für die Coronazeit? Da segeln wir hin im Singoletta. Na ja, mit etwas Phantasie. Bei Molino ging es eigentlich um den Straßenverkehr. Sein poetischer Realismus mag jedoch als Warnung dienen. Für uns, die Corona-Community, auf dem Weg ins Monadendasein. Familie, Arbeit, soziale Kontakte und Freizeit sind abgezirkelte Bereiche geworden, assistiert von einer Armada von Experten, allen voran die omnipräsente Klasse der Virologen.

Der TV-Konsum nimmt zu. Netflix feiert Quotensiege. Wir glotzen Serien. Wir stumpfen ab. Wir dürfen arbeiten und einkaufen. Amazon verkauft blöd wie noch nie: Alles muss raus. Angeliefert im Wohngefängnis. Die urbanen Räume schrumpfen derweil zusammen auf tristes Überleben: Läden und Discounter offen, aber überall schwinden die Bilder und Klänge, sterben die vielen kleinen und großen Alltagsüberschreitungen. Phantasieräume werden abgeriegelt.

Dies ist kein Diktum gegen Staatsräson und Maskenpflicht. Aber während Kunden wenigstens shoppen dürfen (und das brav sollen), sind längst ausgearbeitete Konzepte von Museen, Konzertsälen, Kinos und Theatern Makulatur. Mit welcher GENAUEN Begründung eigentlich?

Kultur als "Extrawurst"

NRW-Kultur- und Wissenschaftsministerin Isabel Pfeiffer-Poensgen (parteilos) beschwört die "Verlangsamung der Pandemie", sie müsse "an erster Stelle" stehen. Eine Agenda, die irgendwie keine ist. Das Ministerium mahnt die auf null gesetzte Kunstszene, "den gesellschaftlichen Konsens nicht zu verlassen". Soweit die Politik als Beschwörungsformel. Genügt das aber einer debattenerprobten Community gegenüber? Im Kulturausschuss des Landtages verkündet Pfeiffer-Poensgen mit ministerialem Pathos nach der Schließung von Theatern und Kultureinrichtungen:

Die Kultur muss aufpassen, dass sie nicht immer eine Extra-Wurst brät

NRW-Kultur- und Wissenschaftsministerin Pfeiffer-Poensgen

Hier klingt im Untergrund noch eine durch und durch bürgerlich-romantische Auffassung von Kultur als Elfenbeinturm durch. Kultur und Geistesleben sind vielleicht eine Zierde der Gesellschaft, aber in Krisenzeiten absolut entbehrlich. Künstlerinnen und Künstler beklagen derweil nicht nur finanzielle Härten, sondern formulieren auch geistige Monotonie und Zukunftsängste. Die in der Landeshauptstadt Düsseldorf lebende Sängerin Sabine Schneider arbeitet freiberuflich; in der Pandemie hat sie keine Engagements mehr und fühlt sich "systemirrelevant":

Keines der langfristig angebotenen Unterstützungsmodelle für Selbstständige ist auf die Situation der freiberuflichen Künstler ausgelegt. Aber schwerer wiegt der mentale Verlust, die Perspektivlosigkeit.

Sabine Schneider

Das Superheldentrio!

Die Standardparolen aus dem Munde von Schul- und Kulturverantwortlichen klingen im Moment seltsam ähnlich. Es sind Stereotype, die den Eindruck von Bürokratismus hinterlassen. Unsere Mentalität, fixiert auf das graue Überstehen. Was weiter zählt, Corona hin-Corona her, sind Zahlen, Kurven, Umsätze. Milliarden aus Steuergeldern fließen in Automobilindustrie oder den Flugverkehr. Sicher, es werden auch Maßnahmenpakete für die Kultur geschnürt. Für viele kommt das reichlich spät. Der Autor und Dramaturg Lars Popp findet in seiner Chronik der Coronatage:

Während die einen schon wieder Geschäfte machen, harren die anderen (…) in der Quarantäne der Abgehängten aus.

Autor und Dramaturg Lars Popp

Popp lakonisch: Das Superheldentrio "Ziviler Gehorsam", "Super-Gesundheitssystem" und "Globalisierungsgewinner" sind verlässlich, sie hätten uns wieder einmal "den Arsch gerettet".

Möglichkeitssinn? Wirklichkeitssinn!

Ziemlich Bedrückendes über den mentalen Zustand der Bevölkerung fördert eine repräsentative Umfrage der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg bereits Mitte des Jahres zutage, die Befragung zielt unter anderem auf die Mitmenschlichkeit ab: "Bei vielen Menschen zeigt sich die Einstellung, jeder ist sich selbst der Nächste", so Studienleiter Matthias Fifka. Von gewachsenem Zusammenhalt zwischen den Generationen könne keine Rede sein.

Wir rollen dahin im Singoletta?

Die Bühnen sind verwaist, die Museumstüren dicht und die Orchester spielen nicht. Für eine moderne Gesellschaft eine Katastrophe. Nicht nur, weil eine wunderbare Freizeitbeschäftigung fehlt. Sondern auch, weil der Gesellschaft der Raum fehlt, in dem sie sich selbst reflektiert. Der Corona-Kampf konzentriert sich auf Systemerhalt, auf die dazu dienlichen Subventionen und das Mantra eines Impfstoffs.

Ansonsten: Wenig Möglichkeitssinn am Horizont. Alternative Schulmodelle werden schlechtgeredet oder scheitern an verschleppter Vorsorge. Kunst- und Kulturschaffende beklagen einen Mangel an Diskussion, an Einbeziehung; lieber werde fraglos reglementiert. Die Direktorin des Stuttgarter Kunstmuseums beklagt, dass die Museen in der Krise den Freizeiteinrichtungen zugeordnet sind, gleichrangig zu Massagesalons und Fitnessstudios. Schulen sind offen - aber auch ein Museum nennt sie einen "Lern- und Bildungsort"

Es wird offenbar nachgebessert; die Bundesregierung legt bei den Coronahilfen in der Kultur nach. Bei Solo-Selbstständigen war bislang nur geklärt, dass Ausfälle aus dem November 2020 teilweise ersetzt werden. Bundeswirtschafts- und Bundesfinanzministerium haben sich aktuellen Meldungen zufolge nun auch auf weitergehende Hilfszahlungen für die Branche geeinigt. Signal für ein Umdenken?