Griechenland: Die europäische Hängepartie geht weiter

Durch die Euro-Krise wird die Sicht auf die Realität vernebelt

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Die Griechenlandkrise spaltet Europa in zwei feindliche Lager. Es gibt nur noch die hässlichen Deutschen oder die faulen Griechen. Die einen sehen alle Verantwortung für das Euro-Desaster bei den europäischen Politikern mit Wolfgang Schäuble als Buhmann und Angela Merkel als Buhfrau. Die anderen geben alle Schuld den bösen Griechen mit Yanis Varoufakis und Alexis Tsipras als Buhmännern.

Da sich alle entweder auf die eine oder auf die andere Seite eingeschossen haben, vernebeln sie die Sicht auf die Realität. Sie erkennen nur die Pole "deutsche Vorherrschaft" oder "griechische Opfer", obwohl die wahren Zusammenhänge eindeutig und für jedermann leicht zu erkennen sind.

Es gibt einen deutlichen Unterschied zwischen der "Eurokrise" und anderen Großkrisen der Vergangenheit und der Gegenwart. Die früheren Krisen wie etwa die Kubakrise resultierten aus dem Antagonismus der Weltmächte, aus Grenzkonflikten mit anderen Staaten oder aus inneren Unruhen. Die Politiker bewältigten Probleme, die ihnen fremde oder feindliche Mächte bereitet hatten. Bei der Eurokrise hingegen sind die demokratisch gewählten Politiker selbst der Feind, der in stümperhafter Selbstherrlichkeit eine Missgeburt namens "Euro" zeugte und fortan dessen fatale Geburtsfehler in ideologisch verblendetem Überschwang und gegen jede Vernunft verteidigt.

Seit nunmehr mehr als zehn Jahren hasten die demokratisch gewählten Stümper von einem Gipfeltreffen zum nächsten und sind im Dauerstress damit beschäftigt, die von ihnen selbst verursachten und verantworteten Geburtsfehler mit denselben falschen Instrumenten zu reparieren, die schon bei der Einführung nicht funktionierten. Das ist so als wenn man den Autodieb zum Parkwächter beruft. Ausgerechnet der Bock wird Gärtner…

Frühere Krisen hatten damit zu tun, einen von feindlichen Mächten verursachten Schaden abzuwenden oder doch wenigstens abzumildern. In der seit über zehn Jahren herrschenden und zwangsläufig und vorhersehbar auch in den kommenden zehn Jahren andauernden Eurokrise ist die gleiche Politiker-Mischpoke, die das Elend überhaupt erst geschaffen hat, damit befasst, das Elend flickschusternd zu reparieren. Und das wird immer schwieriger, weil das Elend mit jedem neuen Hilfspaket nur noch größer wird. Was schon beim ersten und beim zweiten Hilfspaket scheiterte, kann auch beim dritten und übrigens auch beim vierten und fünften Hilfspaket nicht besser werden.

Politik im demokratischen Europa ist zur Reparatur der einzig und allein von den Politikern selbst verantworteten Fehler verkommen. Kaum jemand gestattet es sich, im geschäftigen Getriebe einmal innezuhalten und zu fragen: Warum haben wir überhaupt seit über zehn Jahren diesen Riesenschlamassel in Europa? Warum ist diese endlose Krise über uns gekommen?

Überall haben die politischen Repräsentanten die öffentliche Infrastruktur zu Grunde gerichtet. Es ist das zentrale Merkmal der entwickelten Demokratien, dass sie ihren eigenen Handlungsspielraum zerstört und ihre Gemeinwesen zu Grunde gerichtet haben. Und da fragt sich denn doch, ob das nicht ein viel zu hoher Preis ist, den die Völker für ein politisches System zahlen, das den Namen Demokratie sowieso schon längst nicht mehr verdient hat. Es mehren sich die Zweifel, ob die herrschenden Demokratien überhaupt noch handlungsfähig sind; denn die eigentliche Krise ist die Krise der repräsentativen Demokratie im Endstadium. Die strukturellen Schwächen dieses Ordnungssystems treten heute so krass hervor wie nie zuvor.

Eine erfolgreiche Krisenbewältigung würde einen radikalen Politikwandel erfordern. Den jedoch können auf Wahlerfolge und Machterhalt fixierte, kurzsichtig orientierte politische Parteien systembedingt kaum leisten. Sie fördern damit das rasche Anwachsen europaskeptischer und populistischer Parteien in fast allen Ländern.

Viele hoffen noch immer, dass Demokraten mit den Problemen einer Gesellschaft besser fertig werden als Diktatoren. Das läuft auf das Pfeifen im Walde und auf die vage Hoffnung hinaus, dass weiter gut gehen wird, was in der Vergangenheit schon nicht funktioniert hat. Es bliebe dann nur das Vertrauen, dass die demokratischen Institutionen und ihre Repräsentanten alle Probleme doch noch lösen können. Aber gerade dieses Vertrauen ist erschüttert. Denn es sind eben diese Repräsentanten, die alle Probleme selbst geschaffen haben, die sie nun nicht lösen können.

Europapolitik aus der Perspektive kleinkarierter Buchhaltergehilfen

Die Politik ist zur Getriebenen geworden. Was früher einmal "Politikgestaltung" hieß, bedeutet heute: Eine Krisensitzung jagt die nächste. Politische Lichtgestalten wie Robert Schuman, Jean Monet, Charles de Gaulle, Paul-Henri Spaak, Konrad Adenauer, Willy Brandt oder gar Helmut Kohl verbanden mit ihrer Europapolitik mitreißende Ideen. Im Vergleich mit ihnen wirken die Politiker, die heute Europapolitik machen, wie kleinkarierte Buchhaltergehilfen-Lehrlinge.

Früher gab es alle paar Jahre einmal einen Krisengipfel. Heute gibt es fast jede Woche mindestens drei. Kaum ist der vorbei und hat nichts Wichtiges gebracht, kommt der nächste und bringt auch nichts. Seit Monaten heißt es in der Griechenlandkrise: Am Montag ist der Tag der Entscheidung. Und am Montag hieß es: Nein, am Dienstag ist der Tag der Entscheidung. Und so ging es munter weiter: Mittwoch, Donnerstag, Freitag, Samstag. Sonntag. Und so ähnlich wird es auch in den kommenden zehn Jahren weiter gehen.

Der Handlungsspielraum der Politik ist auf ein Minimum geschrumpft. Sie kann gar nicht mehr gestalten, sie wird getrieben von den Katastrophen, die sich an allen Ecken und Enden auftun. Politik als proaktive, auf wohl durchdachten Konzepten beruhende und womöglich gar von Visionen geprägte Aktivität gibt es nicht mehr. Es gibt nur noch das hektische Gehampel von einer Krisensitzung zur nächsten Krisensitzung.

Krisen gehören im Endstadium der repräsentativen Demokratien zum politischen Alltag und sind einzig und allein das Werk der demokratischen Politik. Die demokratisch gewählten Repräsentanten haben die Krisen selbst herbeigeführt und hasten nun von Gipfel zu Gipfel, um unter dem Applaus der Medien Krisen aus der Welt zu schaffen, die ohne sie überhaupt nicht bestehen würden.

Es gibt immer noch Menschen, die ihnen für ihren unermüdlichen Einsatz Respekt entgegenbringen. Dabei hätten sie nichts als Verachtung verdient; denn sie sind es schließlich, die den Karren selbst an die Wand gefahren haben. Und da sie keine Lösungen parat haben, schaffen sie ständig neue Krisen und halten sich selbst so auch noch in Brot und Arbeit. Absurdes Theater ist im Vergleich dazu ein Ausbund an Vernünftigkeit und kühler Rationalität.

Durch ihr Handeln des kurzen Atems stiftet die demokratische Politik nicht nur einfachen Murks. Das wäre ja noch ganz rührend. Irren ist schließlich ja menschlich, Murksen auch. Sie fügt der Bevölkerung ganz gezielt, wohl überlegt und hinterhältig kalkuliert wirtschaftlichen Schaden in Milliardenhöhe zu. Sie hat schon jetzt ganze Länder und ihre Völker an den Rand des Ruins getrieben und wird sie wohl auch endgültig in den Ruin treiben, wenn niemand sie daran hindert.

Möglich, dass manche politischen Repräsentanten subjektiv immer noch glauben, sie seien Verfechter des Gemeinwohls und stünden in dessen Dienst. Objektiv schaden sie der Bevölkerung und nehmen keinerlei Rücksicht auf deren Interessen und Bedürfnisse. Sie wissen sehr genau, mit wessen Geldern sie den eigenen Nutzen mehren können. Sie sind Parasiten des Volks, das sie angeblich so prächtig repräsentieren und so rechtschaffen vertreten.

Als die Politiker den Euro einführten, wollten sie das gemeinsame Europa per Schnellschuss vorantreiben. Dabei schlugen sie alle wohl begründeten und längst bekannten währungspolitischen Einwände ignorant in den Wind. Die Einführung des Euro zeigt die grenzenlose Verantwortungslosigkeit der demokratischen Politiker und ihren erschreckenden Mangel an Sachverstand. Er charakterisiert auch hochrangige Politikvertreter bei wirtschaftspolitischen Problemstellungen und ist oft gepaart mit der Neigung, die Öffentlichkeit über die wahren Probleme hinwegzutäuschen, und überhaupt den Hang, Einsicht in ökonomische Zusammenhänge durch einfältiges, aber hoch emotionales Gefasel zu ersetzen.

Im Vertrag von Maastricht einigten sich die EU-Mitgliedstaaten 1992 auf "Konvergenzkriterien", die Staaten erfüllen mussten, um den Euro als Währung einzuführen. Sie umfassen im Einzelnen die Stabilität des Preisniveaus, der öffentlichen Haushalte, der Wechselkurse zu den übrigen EU-Ländern und des langfristigen Nominalzinssatzes.

Der Stabilitätspakt ist völlig wirkungslos, da er als Sanktionen lediglich Geldbußen vorsieht. Und die würden die Haushaltslage der betroffenen Staaten noch weiter verschlechtern. Es wäre ausgesprochen blöd, das zu tun. Und deshalb hat auch der Rat Verstöße gegen den Pakt wiederholt nicht geahndet. Das spricht zwar für den Rat, ändert aber nichts daran, dass der Pakt von Anfang an ein blinder Papiertiger war.

Man fragt sich manchmal, wie viele Gedanken Politiker auf Maßnahmen verschwenden, die sie beschließen: Da verletzt ein Staat Stabilitätsvereinbarungen, weil er sich in einer finanziellen Notsituation befindet. Ihm fehlt es an Geld. Und die Politiker sehen für diesen Fall Geldstrafen für den Staat vor, die nur dazu führen können, dass sich die Notsituation noch verschärft. Sind die denn völlig verblödet? Die Antwort lautet: ja.

Die innereuropäische Solidarität wird begrenzt durch die No-Bailout- oder Nichtbeistands-Klausel. Sie schließt es ausdrücklich aus, dass die EU als Ganze oder auch nur einzelne Mitgliedstaaten für die Schulden anderer Mitgliedstaaten haften (Artikel 125 AEU-Vertrag). Dadurch sollte verhindert werden, dass Mitgliedstaaten ihre Haushaltsautonomie nutzen, um sich auf Kosten anderer Mitgliedstaaten zu verschulden und dafür dann auch noch mit zusätzlichen Geldern belohnt werden. Der Grundsatz lautet: Jeder Staat trägt die alleinige Verantwortung für sein Defizit.

Auch dies blieb graue Theorie; denn kaum hatten die Staaten das beschlossen, taten sie das Gegenteil und spannten "Rettungsschirme" auf. Seit 2010 Kredite an Griechenland beschlossen wurden, die Euro-Staaten Bürgschaften füreinander übernahmen und weitere Kredite an Irland (2010), an Portugal (2011) und an Griechenland (2011) gezahlt worden waren, ist die Nichtbeistands-Klausel ausgehöhlt.

Ein Grundgedanke war die Unabhängigkeit aller nationalen Zentralbanken, um zu verhindern, dass die Regierungen der Mitgliedstaaten ihre Wirtschaftspolitik durch die Vermehrung der Geldmenge und damit durch Inflation finanzieren. Die Artikel 123 und 124 AEU-Vertrag verbieten daher jede Art von Kreditgewährung der Europäischen Zentralbank oder der nationalen Zentralbanken an die Mitgliedstaaten und jeden bevorrechtigten Zugriff öffentlich-rechtlicher Institutionen auf die Banken. Selbst der unmittelbare Erwerb von Staatsanleihen durch die Zentralbanken war ursprünglich verboten. Darüber hat sich die EZB indes längst hinweggesetzt.

Die Politik verteidigt den Euro mit allen Mitteln und ohne Rücksicht auf wirtschaftliche Realitäten. Das kann auf Dauer nicht gut gehen. Der Euro ist so konstruiert, dass jedes Mitgliedsland unbegrenzt Schulden machen darf. Der Maastricht-Vertrag formuliert zwar das genaue Gegenteil, aber wenn sich die Politik nicht daran hält, ist das gleichgültig.