Griechenland: Die europäische Hängepartie geht weiter

Seite 2: Wenn Luxemburg seine Truppen gen Osten in Bewegung setzt…

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Der Grundsatz "Pacta sunt servanda" mag früher einmal gegolten haben. Heute gilt er nicht mehr. Auch dies ein Charakteristikum des Umgangs demokratischer Staaten miteinander. Wenn eine internationale Vereinbarung gerade nicht in den Kram passt, wird sie missachtet. Da kann ja nichts passieren. Niemand hat damit gerechnet, dass Luxemburg seine Truppen gen Osten in Bewegung setzen würde, als Deutschland den Stabilitätspakt verletzte.

Es zeigt sich ein für das Spätstadium der entwickelten Demokratien typisches Verhalten: Man verabschiedet die fabelhaftesten Gesetze, schließt die spektakulärsten Verträge und fasst die ausgefeiltesten Beschlüsse - aber wenn die erst einmal gefasst sind, hält sich keiner daran.

Der in den Medien breit dargestellte, spektakuläre Akt des Beschließens und vielleicht auch noch in diversen Talkshows ausgiebig bekakelte Akt des Verkündens ist Sinn der Veranstaltung, nicht die Einhaltung dessen, was da beschlossen wurde.

Wenn die Beschlüsse dann ein paar Monate später nicht eingehalten werden, interessiert das kaum noch jemanden. Ansonsten geht die politische Kaste immer stärker davon aus, dass sie selbst über dem Gesetz und auch über der Verfassung steht.

Schon als der Euro eingeführt wurde, warnten Wirtschaftswissenschaftler eindringlich vor den Gefahren einer Einheitswährung für eine so große und vor allem so heterogene Wirtschaftszone. Eine gemeinsame Währung ohne gemeinsame Wirtschafts-, Finanz-, Arbeits- und Sozialpolitik sei zum Scheitern verurteilt. Bei asynchronen Konjunkturzyklen stehe die Gemeinschaftswährung vor einer Zerreißprobe.

155 Wirtschaftsprofessoren verlangten in einem Manifest vom Februar 1998, die Währungsunion wegen der unzureichenden Konsolidierung der öffentlichen Haushalte um einige Jahre zu verschieben, weil der Stabilitätspakt nicht das Papier wert war, auf das er geschrieben war.

Eine nicht wirklich unabhängige Europäische Zentralbank, eine unsolide Haushaltspolitik von hochverschuldeten Mitgliedsländern sowie der steigende Bedarf an Finanzhilfen ärmerer Länder wie Italien, Spanien, Portugal, Irland und Griechenland auf Kosten der reicheren Länder wie Deutschland und Frankreich, müssten in der Zukunft zwangsläufig zu einer Geldmengenausweitung und einem schwachen Euro führen. Um die Maastrichter Stabilitätskriterien einzuhalten, hatten einige Länder ohnehin haushaltspolitisch getrickst.

Auch die großen Unterschiede zwischen den Volkswirtschaften in Europa sprachen gegen die rasche Einführung des Euros. Die Produktivitätsniveaus waren und sind noch immer sehr unterschiedlich und auch die Arbeitsmärkte, Steuer- und Sozialsysteme unterscheiden sich stark.

Mit dem Wegfall des Wechselkursmechanismus als Pufferinstrument mussten diese Unterschiede im Konkurrenzkampf um Investitionen an Bedeutung gewinnen und zu europaweitem Sozialabbau und zu Steuerdumping führen.

Die Göttinger Professorin für Wirtschaftspolitik, Renate Ohr, betonte: "Für die Vervollkommnung des einheitlichen Europäischen Binnenmarktes ist der vollständige Abbau nationaler Regulierungen und Diskriminierungen nicht-nationaler Anbieter sowie die Harmonisierung von Mehrwertsteuern, Verbrauchsteuern und Kfz-Steuern sehr viel wichtiger als die Einführung einer einheitlichen Währung."

Statt über all diese - wie sich inzwischen herausgestellt - völlig berechtigten Argumente wenigstens nachzudenken, beeilte sich die Bundesregierung und übrigens auch die Opposition, sich gefühlstriefend zum Euro zu "bekennen".

Das ist ein in entwickelten Demokratien viel geübter Brauch: Kaum werden berechtigte Zweifel an dubiosen politischen Entscheidungen laut, bekennt man sich mit geschwollener Brust dazu. Solche "Bekenntnisse" sind ja stets bei politischen Repräsentanten höchst beliebt, haben sie doch den Charakter nibelungenhafter Treueschwüre und schwülstiger Verbundenheit mit dem Objekt des Bekennens.

Immer wieder wurde auch die Forderung nach einer europäischen Wirtschaftsregierung laut. Sie allein könne eine gemeinsame Fiskal- und eine aktive Konjunkturpolitik in der EU möglich machen. Die Begründung leuchtet ein: Wenn die Euro-Staaten alle eine gemeinsame Wirtschafts-, Sozial und Finanzpolitik verfolgen, besteht für Europa und den Euro keine Gefahr. Tun sie es aber nicht, driften die Länder weit auseinander, und der Euro als Gemeinschaftswährung gerät unvermeidlich in Gefahr. Diese Gefahr besteht spätestens seit 2010 - eigentlich von Anfang an -, und daran hat sich nichts geändert. Die Gefahr besteht so lange, wie der Euro besteht. Er ist ein schwerer Geburtsfehler.

Allerdings sind auch die Vorstellungen über eine gemeinsame Wirtschaftsregierung weltfremd und ziemlich naiv. Die EU kann selbst keine Steuern erheben und verfügt auch nicht über genügend Eigenmittel für eine aktive Konjunkturpolitik. Konjunkturpolitik ist Sache der einzelnen Staaten, und die können sich nur freiwillig miteinander koordinieren.

Das gilt auch für die Lohnpolitik, da Tarifregelungen national begrenzt sind, und erst recht für die Arbeits- und Sozialpolitik. Bis auch nur eine lockere Koordination der Politiken von 19 heterogenen Staaten gelingt, vergehen Jahre, wenn nicht Jahrzehnte.

Vor und nach der Euro-Einführung kam es immer wieder zu Verstößen der Mitgliedstaaten gegen diese Regelungen. Die Angaben über die Vertragsverletzungen schwanken. Manche sprechen davon, die Regelungen seien gut hundert Mal gebrochen worden, andere sprechen von 68 Mal.

Welche Zahl genau stimmt, ist auch ziemlich egal. Entscheidend ist: Die europäischen Politiker haben ein fabelhaftes Werk von Stabilitätsregeln ausgedacht und eingeführt und diese Regeln bei der ersten besten Gelegenheit entweder missachtet oder gebrochen und dann immer wieder und immer wieder gebrochen, und zwar viele Male.

Griechenland konnte den Euro überhaupt nur mit Hilfe von schamlos gefälschten Statistiken einführen, und zahlreiche Mitgliedstaaten, darunter auch Deutschland und Frankreich, verstießen mehrfach gegen den Stabilitäts- und Wachstumspakt.

Belgien bekam den Euro überhaupt nur, weil die EU-Kommission ihren Sitz in Brüssel hat und es ganz schlecht ausgesehen hätte, wenn ausgerechnet dort der Euro nicht eingeführt worden wäre. Kosmetik ist in den Mediendemokratien stets wichtiger als verantwortungsvolle Politik. Heute ist mehr darüber bekannt, mit welchen schäbigen Tricks viele Politiker bei der Einführung des Euro gearbeitet haben. Aus politischen Gründen bekamen einige Länder den Euro, die dafür überhaupt nicht reif waren - und das kostet die Bevölkerungen heute Milliardenbeträge.

Aus einst geheimen Dokumenten geht hervor, dass Italien niemals hätte in die Währungsunion aufgenommen werden dürfen. Aber Helmut Kohl wollte unbedingt beweisen, dass auch das geeinte Deutschland europäisch ausgerichtet sei und wischte alle Bedenken seiner Fachleute mit einer Handbewegung weg.

Die Bundesregierung war genauestens über die prekäre Haushaltslage Italiens im Bilde. Sie kann sich nicht damit herausreden, dass sie keine Kenntnis hatte und aufs Kreuz gelegt wurde. Sie wollte die Fakten nicht zur Kenntnis nehmen. Sie wusste, dass Italien mit frisierten Zahlen trickste.

Die "Wucht der Geschichte" (Helmut Kohl) schlägt wuchtig zurück

Es war ihr völlig egal, dass dies die Bevölkerung gigantische Geldsummen kosten würde. Und dies wiederum ist eine Konstante demokratischer Politik: Ob ihr Handeln der Bevölkerung nützt oder schadet, ist den Politikern gleichgültig. Es macht ihnen überhaupt nichts aus, der Bevölkerung Schaden zuzufügen.

Helmut Kohl spürte die "Wucht der Geschichte". Und was schert ihn da das doofe Volk, wenn der Mann im Begriff steht, Weltgeschichte zu schreiben? In der Politik demokratisch gewählter Repräsentanten kommt das Volk nur als Geldquelle und als Stimmviech vor, aber ganz gewiss nicht als Souverän.

Man muss sich das emotionslos vor Augen führen. In einer Vielzahl von großangelegten Sitzungen, internationalen Konferenzen und zahllosen Gipfeltreffen entwickeln tausende Politiker vieler europäischer Nationen mit gigantischem Aufwand ein Regelwerk, mit dem sie die neugeschaffene Gemeinschaftswährung für fast 335 Millionen Menschen in Europa vor Verfall und Zerstörung schützen wollen. Und kaum haben sie das getan und sich auch gehörig vor lauter Stolz auf diese großartige Leistung vor die Brust geklopft, da kommen dieselben Politiker daher und missachten diese Regeln oder brechen sie sogar: zwischen 68 und 100 Mal.