Griechenland: Nach dem Gedenktag ist "nichts mehr so, wie es war"

Regierungschef Tsipras Foto (Archiv:) Wassilis Aswestopoulos

Eine Bürgerrechtsanwältin wurde bei Tumulten von einem Phosphorgeschoss lebensgefährlich verletzt. Anarchisten bejubeln den "Treffer". Das Land ist geschockt

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Alljährlich zum 17. November finden in Griechenland Gedenkveranstaltungen zum gewaltsam niedergeschlagenen Studentenaufstand von 1973 statt. Dieses Jahr ließ das anfänglich gemeinsame Gedenken der Griechen an die Möglichkeit, einem Militärregime mit zivilem Ungehorsam Paroli zu bieten, ein in vieler Hinsicht zerrissenes Land zurück.

Eine bei den Demonstrationen von anarchistischen oder autonomen Demonstranten durch Beschuss mit einer nautischen Leuchtrakete schwer verletzte Rechtsanwältin ringt immer noch um ihr Leben.

Der 17. November und seine Geschichte

Am 17. November 1973 hatte das Militär mit Panzern das Athener Polytechnikum gestürmt. In und um die Hochschule herum wurden Studenten und Sympathisanten gejagt, festgenommen oder ermordet. Die damalige Militärjunta von Georgios Papadopoulos wurde am 25. November von seinem Obristenkollegen Dimitrios Ioannidis weggeputscht. Ioannidis selbst versuchte danach auf der seinerzeit vereinten Inselrepublik Zypern mit Wohlwollen der USA einen weiteren Putsch zu initiieren.

Er scheiterte. Die Türkei als dritte Schutzmacht neben Großbritannien und Griechenland besetzte im Sommer 1974 den Nordteil der bis heute geteilten Inselrepublik. Die Junta in Griechenland stürzte ob des Fiaskos. Mit der Rückkehr des von den Militärs als Retter gerufenen Konstantinos Karamanlis begann die Zeit der "Metapolitefsi". Karamanlis gründete die Nea Dimokratia und verbesserte sein in den Sechziger-Jahren als ultrakonservativer Wahlfälscher ramponiertes Image.

Der Nimbus der standhaften Aufständischen von 1973

Zahlreiche politische Karrieren von Teilnehmern an den Studentenunruhen fußten auf dem Nimbus, der die standhaften Aufständischen von 1973 bis heute umgibt. Der Großteil der damaligen Studenten bevorzugte jedoch ein anonymes Leben in der post-diktatorischen Demokratie. Die nach Festnahme der führenden Mitglieder aufgelöste, bewaffnete Stadtguerillatruppe "17. November" berief sich in ihrer Namensgebung auf den Studentenaufstand.

Das Motto des Studentenaufstands, "Brot, Bildung und Freiheit" wurde in den letzten Jahren der Krise vermehrt mit dem Zusatz "die Junta wurde 1973 nicht beendet" ergänzt. Viele Griechen sehen die Metapolitefsi als Fortsetzung einer staatlichen Repression.

Tsipras und das revolutionäre Image

Politisch begründete Premierminister Alexis Tsipras’ Regierungspartei einen großen Teil ihres revolutionären Images mit der demonstrativen Teilnahme an den jährlichen Gedenkveranstaltungen. Syriza sorgte jahrelang mit einem Netzwerk von Anwälten für juristische Hilfe von bei Ausschreitungen im Rahmen der Demonstrationen festgenommenen Personen.

Der alljährliche Demonstrationszug zum Gedenken beginnt an den Toren des an der Patision Avenue gelegenen Hauptgebäudes der Technischen Universität von Athen, führt über den Syntagma Platz und endet vor der amerikanischen Botschaft in der Königin Sofia Avenue.

Die blutbefleckte Fahne

Seit langem schon gibt es nicht nur einen Demonstrationszug, sondern mehrere. Die PASP, die Studentenorganisation der Pasok, hatte bei der Auflösung des landesweiten Studentenverbands den Vorsitz inne. Dies brachte sie in den Besitz der mit dem Blut der von den Panzern und Militärs verletzt und getöteten Studenten getränkten griechischen Flagge.

Die Pasp weigert sich, die Flagge, mit welcher die aufständischen Studenten ihren Patriotismus entgegen der widersprüchlichen Aussagen der Diktatoren belegten, an die Allgemeinheit zu übergeben.

Nach jahrelangen Streitereien führte dies dazu, dass nun niemand mehr gemeinsam mit der Pasp demonstrieren möchte. Die Flagge indes erscheint seit Jahren farbloser. Das hat einen einfachen Grund. Alljährlich sorgen die Pasp-Anhänger dafür, dass einer von ihnen mit der bis zur US-Amerikanischen Botschaft gezeigten Flagge anonym in der Menge verschwindet. Das Symbol soll nicht von "den anderen" gestohlen werden.

Vor wenigen Jahren warf ein namentlich nicht bekannter Pasp-Anhänger zuhause angekommen die Flagge zusammen mit seiner Wäsche in eine Ecke. Seine um Sauberkeit bemühte Mutter wusch die vermeintliche Schmutzwäsche mit Bleichmitteln, um die Flecken zu entfernen.

Die linken Gruppen

Ein zweiter Demonstrationszug ist den Kommunisten und ihren Anhängern und Sympathisanten zugeordnet. Die Kommunisten schützen ihre Demonstrationen mit eigenen Ordnungskräften und schließen Randalierer, welche sie als Provokateure der staatlichen Regression sehen, damit effektiv aus.

Letztere finden sich daher im Zug der mit den Kommunisten um die Vorherrschaft ringenden linken Gruppen und Parteien sowie der übrigen Gewerkschaften wieder. Dem letzten Demonstrationszug schließen sich auch autonome und anarchistische Gruppen an.

Geänderte Vorzeichen

Bei seinem Staatsbesuch in Griechenland, 1999, hatte der damalige US-Präsident Bill Clinton sich für die Militärjunta, die mit tatkräftiger CIA Hilfe 1967 installiert worden war, öffentlich entschuldigt. Der Besuch fand am 19. November 1999 statt, Tsipras gehörte seinerzeit zu den Demonstranten, die Clintons sofortige Festnahme und Verurteilung wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit forderten.

Tsipras Narrativ hat sich grundlegend geändert. Nun sieht er "gemeinsame Werte mit den USA", welche er vor wenigen Wochen bei seiner Visite in Washington gegenüber dem amtierenden US-Präsidenten Donald Trump beschwor. Nun betont er, dass Trump zwar auf den ersten Blick böse erscheine, aber nur das Gute im Sinn habe.

Bei einer traditionell gegenüber den USA kritischen Kundgebung ist solch eine Einstellung nicht hilfreich. Der Syriza-Demonstrationszug, knapp 100 Personen, ging daher dieses Jahr innerhalb eines Polizeicordons die Demonstrationsstrecke ab. Dabei wurden die hochrangigen Parteimitglieder von den Übrigen wüst beschimpft, bespuckt und beleidigt.

Premierminister Tsipras, der bis dato jedes Jahr in den zwei Gedenktagen vor dem 17. November einen Kranz an der Stelle des Martyriums der Studenten niedergelegt hatte, kam dieses Jahr erst gar nicht in Versuchung, es zu probieren.

Denn für zwei Tage hatte eine anarchistische Gruppierung kurzerhand das Polytechnikum besetzt und jegliche Parteien von den Feierlichkeiten ausgesperrt. Die Besetzung wurde mit Beteiligung anderer anarchistischer und autonomer Gruppen aber auch mit Präsenz linker Splitterparteien beendet.

Es kam zu einigen Kranzlegungen, wobei bis auf den Weltkriegsveteranen Manolis Glezos die große Politikprominenz ausblieb und Vertreter schickte. Bemerkenswert ist, dass der von Yanis Varoufakis gesandte Kranz umgehend in den Abfall befördert wurde. Tagelanger von Gewitter und Hagelschauern begleiteter Dauerregen hatte über die Dauer der Gedenktage in Mandras westlich von Athen zehn Todesopfer gefordert.

Die großen Menschenmassen, die in vergangenen Jahren demonstrierten, blieben daher aus. Schulklassen, die traditionell das Universitätsgelände zum Gedenktag besuchen, verzichteten darauf, nachdem die Besetzer am ersten Tag einige Klassen abgewiesen hatten.

Anarchisten stürmen das Verteidigungsministerium

Die anarchistische Gruppe Rouvikonas wählte ausgerechnet den 17. November für ihre jüngste aktivistische Aktion. Knapp 7.000 Polizisten waren in der Innenstadt Athens wegen des Gedenktages im Dienst. Offenbar hatten die etwas außerhalb stationierten Ordnungskräfte wenig Aufregung erwartet. Wie anders ist es zu erklären, dass ein Stoßtrupp von Rouvikonas ungestört in den nach der US-Amerikanischen Botschaft am besten geschützten Gebäudekomplex des Landes, das Verteidigungsministerium, stürmen konnte.

Die Anarchisten spazierten durch das Gelände, drangen bis zum Büro des Verteidigungsministers vor und warfen Flugblätter. Sie zogen ab, ohne dass einer der Wachpolizisten oder aber der ebenfalls anwesenden Militärpolizisten reagieren konnte. Später wurden einige der Rouvikonas Mitglieder bei der Demo in Athen gesichtet. Der im Ausland weilende Verteidigungsminister Panos Kammenos tobte und verlangte, dass verantwortliche Offiziere ihren Hut nehmen müssen.

Phosporgeschosse gegen Journalisten

Der 17. November endete mit Krawall. Das ist nicht ungewöhnlich, sondern gehört irgendwie auch zur Tradition. Nachdem der anarchistische Block des dritten Demonstrationszuges vom 17. November nicht auf die Provokationen der Schutzpolizisten reagiert hatte, griffen die Polizisten ohne Grund an, wie sämtliche anwesenden Journalisten umgehend an ihre Medien meldeten und über soziale Netzwerke teilten.

Über soziale Netzwerke erfuhren die Demonstranten auch, wo sich Journalisten, Kameraleute und Photographen von Medien aufhielten, die in der Vergangenheit viele Autonome buchstäblich "ans Messer lieferten". Die betreffenden Medien veröffentlichten das Konterfei der Betroffenen und machten sie somit zum Ziel rechtsextremer Gruppen sowie der Polizei.

Die Polizei schlug wahllos Demonstranten zusammen und die Stimmung heizte sich weiter auf. In der Notara Straße in Exarchia kam es daraufhin zum Eklat. Eine Gruppe Autonomer oder Anarchisten, die genaue Zuordnung ist nicht möglich, hatte sich mit Phosphorleuchtgeschossen versorgt. Diese dienen der Marine für Positionsangaben. Sie wurden statt in die Luft mittels einer selbstgebauten Vorrichtung horizontal gegen vermeintliche Gegner abgeschossen.

Der Schock

Die Geschosse prallten dabei teilweise von den Wänden der Häuser zurück und landeten bei denen, die sie abgeschossen hatten. Eines der Geschosse in der Notara Straße wurde in Richtung einer Gruppe von Pressefotografen abgefeuert. Diese sprangen zur Seite und das Geschoss bohrte sich ins Knie einer dort befindlichen Anwohnerin und Anwältin.

Das Bein der Frau brannte minutenlang, weil keiner der Anwesenden den brennenden Phosphor löschen konnte. Herbeigeeilte Polizisten traten sogar auf das Bein der entsetzliche Schreie ausstoßenden Frau. Auf die Idee, dass extrem heiße Geschoss, welches im Bein steckte, zu entfernen, kam niemand.

Die Anwältin ist keine Unbekannte. Die 55-jährige Natasa Tsoukala hat in Griechenland einen Namen als Bürgerrechtsanwältin. Sie lehrt zudem in Paris an der Hochschule Jura. In Griechenland hatte sie während der Pasok-Regierung zu Anfang der Krise Polizisten in Staatsbürgerrecht unterrichtet.

Aktuell ist sie Vizevorsitzende einer staatlichen Menschenrechtskommission. Dem Pressefotografenverband stand Tsoukala mehrere Jahre lang als Rechtsberaterin bei. Sie vertrat Anarchisten und Autonome vor Gericht. Sie gehörte zudem zu den Anwälten, die bei Demonstrationen freiwillig bereit stehen, um Polizeiübergriffe und unberechtigte Verhaftungen - in Hellas eher die Regel als die Ausnahme - zu verhindern.

Die Verletzung erwiesen sich als schwer. Am Sonntagabend sickerte aus dem Krankenhaus entgegen anderweitig kursierender Meldungen durch, dass Tsoukala noch einige Tage im künstlichen Koma gehalten wird. Sie leidet auch wegen des exzessiv eingesetzten Tränengases unter Atemproblemen und hohem Fieber. Die eitrige Wunde hat sich entzündet, ein Teil des Knochens wurde verbrannt, im Körper kursieren Reste von der Phosphorrakete.

Eine erste Notoperation in der Nacht zum Samstag dauerte sechs Stunden. Ein Implantat ersetze einen Teil der zerfetzten Beinarterie. Am Sonntag war ein weiterer Eingriff notwendig. Der Blutverlust durch die Verletzung war groß, der Blutdruck der Verletzten hat sich bis jetzt trotz Behandlung nicht normalisiert. Aktuell ist der Dienstag als Termin für ein mögliches Aufwecken aus dem künstlichen Koma im Gespräch. Die Lebensgefahr besteht weiterhin. Selbst bei optimalem Behandlungsverlauf sind Spätfolgen, vor allem am verletzten Bein sicher.

Die Verletzung und deren Umstände schockte die Griechen. Alle? Nein nicht alle.

Jubel über den "Treffer"

Ein Teil der anarchistischen und autonomen Szene feiert den "Treffer", weil Tsoukala wegen ihrer im Auftrag des Bürgerschutzministeriums durchgeführten Lehrtätigkeit als Verräterin gilt. Zudem rechnet ihr dieser Personenkreis übel an, dass sie bei den Fotografen - also auf der "falschen Seite" - stand. Rechtsradikale dagegen freuen sich, dass es "eine Linke erwischte". Die Spannungen innerhalb der autonomen und anarchistischen Szene haben zu internen Grabenkämpfen geführt. Denn ein weiterer Teil der Szene wendet sich mit Entsetzen ab.

Einheimische Medien beschrieben das Opfer mit Namensnennung und Foto je nachdem, mit welcher Seite sie sympathisieren. Auch innerhalb des Fotografenverbands gab es kontroverse Diskussionen darüber, ob eine öffentliche Verurteilung des Vorfalls, wie sie mit einer Mehrheit des Verwaltungsrats beschlossen wurde, berechtigt ist oder nicht. Ein Kollege warf ein, dass man ebenso die Verletzungen von Polizisten verurteilen müsse.

Berichterstattung und Gewaltexzesse

Zahlreiche Kollegen dagegen sahen den gezielten Angriff auf Fotojournalisten als Anlass dazu, über den Sinn der Berichterstattung über Krawalle zu diskutieren. Bislang herrschte die Meinung vor, dass die über Bildberichterstattung hergestellte Öffentlichkeit schlimmere Gewaltexzesse verhindern würde. Die Kammern der schreibenden Journalisten befinden sich dagegen in einer Diskussion darüber, wie sie gegen die journalistische Ausschlachtung von Opfern vorgehen können.

Nach dem diesjährigen Gedenken an die Geburtsstunde der "Metapolitefsis" ist nichts mehr so, wie es war. Der nächste Gedenktag, der 6. Dezember, an dem der Ermordung des fünfzehnjährigen Alexis Grigoropoulos im Jahr 2008 gedacht wird, steht in wenigen Tagen bevor.

2008 begann die Protestbewegung der Jugend mit dem Tod Grigoropoulos. Er starb durch einen vom Polizisten Vasilis Korkoneas horizontal auf eine Gruppe von Jugendlichen abgefeuerten Schuss. 2008 begann zudem der landesweite Aufstieg der Popularität von Alexis Tsipras, der sich zum politischen Fürsprecher der Jugend aufschwang.