Griechenland: Wenn der Staat auch wegen des Sparzwangs der Troika versagt

Kontrolle eines Geflüchteten vor Abfahrt auf einer Fähre zum Festland. Bild: W. Aswestopoulos

Wie konnte Hussein K., der mutmaßliche Mörder von Maria in Freiburg, nach Deutschland kommen, obgleich er bereits wegen versuchten Raubmords verurteilt worden war?

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Der in Deutschland als Fall Maria L. bekannte Mord nach Vergewaltigung in Freiburg hat Spuren, die bis nach Griechenland reichen. Mehrfach wurde Griechenland ob in der Presse oder von offiziellen Vertretern Deutschlands Versagen vorgeworfen. Schließlich kann die diffus als die "besorgten Bürger" bezeichnete Gruppe, die vielerorts pauschal als rechtsextrem eingestuft wird, in Europa Kapital aus dem tragischen Tod von Maria L. schlagen.

Es scheint, als würden alle Ängste, die mit dem Aufkommen der Flüchtlinge zusammen hängen, erfüllt. Das, was sich jedoch von griechischer Seite aus wie ein roter Faden durch die gesamte Geschichte um den Mörder von Maria L. zieht, ist ein Mangel an finanziellen Möglichkeiten, sowie ein erschreckendes Desinteresse der übrigen EU am Flüchtlingsdrama in Griechenland.

Hussein K., der Afghane zweifelhaften Alters der, wie mittlerweile auch über Fingerabdruckabgleich zweifelsfrei feststeht, Maria L. in Freiburg ermordete, beschäftigte die griechische Kriminalpolizei zum ersten Mal im Mai 2013. Er lauerte in der Nacht von Samstag auf Sonntag den 26. Mai 2013 gegen 3:30 h der Geschichtsstudentin Spyridoula Chaidou in einer dunklen Ecke am Uferbereich der Gegend Moragia auf Korfu auf. Der Täter griff die Zwanzigjährige an und verlangte die Herausgabe von Geld. Dem Verlangen kam die von einem Barbesuch allein nach Hause zurückkehrende Chaidou nach. Hussein K. bemerkte, wie sich Scheinwerfer eines Autos näherten. Nach eigener Aussage wollte er verhindern, dass Hilfeschreie des Opfers ihn verraten würden. Schließlich packte er die Studentin und warf sie über das Straßengeländer. Sie klammerte sich kurzzeitig daran fest, wurde aber schließlich etwa zehn Meter hinab in die Tiefe geworfen.

Die Studentin überlebte mit zahlreichen Knochenbrüchen. Ärzte schreiben ihr Überleben der physischen Konstitution der seinerzeit durchtrainierten Sportlerin und Bergsteigerin zu. Die Studentin muss auch heute noch Operationen über sich ergehen lassen, die im Zusammenhang mit den erheblichen Verletzungen des Sturzes stehen. Der Täter wurde rasch gefasst. Er gab bei seiner Verhaftung zunächst ein Alter von 17 Jahren an, fiel somit unter den Schutz des Jugendstrafrechts. Zudem berief Hussein K. sich auf einen laufenden Asylantrag.

Seitens der Ermittlungsbehörden wurde die Altersangabe ernsthaft in Zweifel gezogen. Entsprechende Gutachten wurden beantragt, lagen jedoch offensichtlich bei der Verurteilung von Hussein K. im Frühjahr 2014 noch nicht vor. Der Grundsatz im Zweifel für den Angeklagten bewirkte für Hussein K. die Verurteilung nach dem Jugendstrafrecht mit einer Maximalstrafe von zehn Jahren Jugendgefängnis für den versuchten Raubmord.

Im Jugendgefängnis von Volos bekam der Täter eine Schulausbildung. Er fiel nicht durch Gewalttaten gegen Mitgefangene auf. Für Aufsehen hatten bei seiner Festnahme die Tätowierungen auf seinem Körper gesorgt. Ein riesiges Keltenkreuz, Erkennungssymbol der rechtsextremen Szene auf dem Rücken, und ein Hakenkreuz auf dem Oberarm. Dieser offensichtliche Widerspruch zur ethnischen Abstammung des Täters beschäftigte die Presse in jener Zeit. Für eine tiefenpsychologische Analyse oder eine individuelle Betreuung fehlte dem Staat dagegen das Geld. Umso mehr findet die kriminologische und psychologische Analyse von Hussein K. in Deutschland, so wie sie in den deutschen Medien thematisiert wird, in den griechischen Medien Beachtung.

Wäre Hussein K. in Griechenland als Erwachsener verurteilt worden, dann hätte dies eine erheblich drakonischere Strafe für ihn bedeutet. Denn ein zur gleichen Zeit verurteilter Pakistaner, der auf der Insel Paros ein minderjähriges Mädchen nach einer Vergewaltigung fast zu Tode geprügelt hatte, musste - obwohl auch er sich zunächst als Minderjähriger ausgab - eine Strafe von Lebenslänglich plus weiterer 25 Jahre Sicherheitsverwahrung hinnehmen. Bei ihm gelang es den Ermittlern rechtzeitig vor der Verurteilung, die Volljährigkeit des Täters zweifelsfrei zu belegen.

Wieso kam der Täter frei?

Als im Januar 2015 die erste Regierung von Alexis Tsipras das Zepter in Athen übernahm, kam es zu einem Konfrontationskurs mit den Gläubigern, der Kreditgebertroika. Auf Tsipras' Regierungsprogramm standen damals außer der Abschaffung der diktierten Austerität vor allem Menschenrechtsthemen. Die Zustände in griechischen Haftanstalten waren schon immer katastrophal. Knappe Finanzmittel hatten sie zu inhumanen Verwahranstalten verkommen lassen. Faktisch wurden dort täglich zahlreiche Menschenrechte verletzt.

Tsipras hatte daher den ausgewiesenen Menschenrechtsaktivisten und Juraprofessor Nikos Paraskevopoulos zum Justizminister berufen. Paraskevopoulos war bis dato kein SYRIZA-Mitglied. Er bestand als Menschenrechtler darauf, dass in den überfüllten Haftanstalten endlich humane Bedingungen herrschen müssten. In der Begründung seiner entsprechenden Gesetzesnovelle heißt es "das Hauptziel des vorliegenden Gesetzesplans ist es, die negativen Bedingungen und Umstände des Gefängniswesens zu entlasten und damit die notwendige Voraussetzung für eine Reform und Logik des Maßregelvollzugs zusammen mit den weiteren zu ergreifenden Maßnahmen zu schaffen".

Ein Neubau von Anstalten, um die bis zu dreifach überbelegten Zellen in den vorhandenen Haftanstalten zu entlasten, erschien angesichts der Staatsfinanzen aber auch der erforderlichen Bauzeiten vollkommen utopisch. Ergo wurden mit Hilfe des Gesetzes 4322/2016 vom 7. April 2016 Regeln für eine vorzeitige Entlassung aus der Haft für einen Großteil der Gefangenen geschaffen. Gleichzeitig wurden die Sicherheitsgefängnisse vom Typ Gamma, vergleichbar den Hochsicherheitstrakten deutscher Gefängnisse, abgeschafft.

Für Gewaltverbrecher galt, dass sie als gefährlich eingestuft wurden, wenn sie in der Haft gegen Mitgefangene oder Wärter körperliche Gewalt angewandt hatten oder aber wenn ihr Opfer minderjährig und aus dem persönlichen Umfeld war. Letzteres sollte Päderasten von der Freilassung ausschließen. Bis zum Geltungstag des Gesetzes ausgesprochene Zuchthausstrafen von bis zu fünf Jahren wurden nach Artikel 7 des Gesetzes überhaupt nicht mehr vollstreckt. Bereits einsitzende Kriminelle, deren Strafe in diesem Bereich lag, kamen sofort frei. Für Strafen bis einschließlich zehn Jahren Zuchthaus galt eine Mindestregel für die abzusitzende Haftzeit. Danach wurden auch diese Täter unter Meldeauflagen entlassen. Zu den üblichen Meldeauflagen gehört es, dass sich die auf Bewährung frei gelassenen Straftäter zweimal pro Monat in der für sie zuständigen Polizeibehörde einzufinden haben.

Bis Mitte Juni 2015 wurden über diese Regelung mehr als 2160 Straftäter freigelassen. Hussein K. kam erst später, am 31. Oktober 2015 frei. Sein Führungszeugnis in der Haftanstalt beschreibt einen kooperativen Häftling. Es steht in einem gewissen Gegensatz zu den Protokollen der Verhaftung, die Hussein K. als gefühlslosen Gewaltverbrecher beschreiben. Eine Betreuung der Freigelassenen durch Bewährungshelfer verbot sich allein schon wegen der Finanzlage Griechenlands.