Griechenland - zwischen 3. und 4. Hilfspaket

Seite 2: Ein unverzichtbarer Blick zurück

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Viele der gegen Griechenland erhobenen Vorwürfe sind berechtigt. Das Land hat lange über seine Verhältnisse gelebt, es hat irrsinnige Kredite aufgenommen. Oligarchen haben sich schamlos bereichert, Klientels wurden begünstigt. Steuerbetrug war an der Tagesordnung. Schuld an den heutigen Verwerfungen sind - sieht man von renditesüchtigen privaten Kreditgebern ab - die Griechen selbst. Niemand sonst.

Die entscheidende Frage ist jedoch, wer für die katastrophalen Fehlentwicklungen der letzten Jahrzehnte politisch verantwortlich ist. In den deutschen Medien wurde wenig differenziert. Vorwürfe richteten sich zumeist gegen "die Griechen" im Allgemeinen oder - nicht weniger schräg - gegen die neue Syriza-Regierung im Besonderen. Da letztere aber erst seit gut fünf Monaten im Amt ist, kann sie Kritik logischerweise nur sehr eingeschränkt treffen. Sie hat ein schweres Erbe übernommen und sollte allein schon deshalb etwas milder beurteilt werden.

Die Hauptschuldigen stehen fest: PASOK und Nea Dimokratia! Diese beiden Parteien haben das Land in unterschiedlichen Konstellationen und mit augenzwinkernder Unterstützung ihrer europäischen Schwesterparteien in den Abgrund gestürzt. Als das griechische Volk dies - leider viel zu spät - erkannt hat, übertrug es einer anderen Partei, der linksradikalen Syriza, die Macht.

Sinnvoll kann die Frage also nur lauten: Haben Tsipras, Varoufakis und Genossen in der kurzen Zeit ihrer Regierung Fehler gemacht und das Elend ihrer Landsleute verschlimmert?

Die von deutschen Kommentatoren immer wieder erhobenen Vorwürfe gegen Finanzminister Varoufakis wegen seines Benehmens und seines Arbeitsstils lasse ich außen vor, da ich nicht Zeuge der Brüsseler Verhandlungen war und mir diesbezüglich kein eigenes tragfähiges Bild machen kann. Der Hauptbelastungszeuge gegen Varoufakis ist Minister Schäuble. Wer aber diesen Besserwisser im TV erlebt hat, wie er mit herablassender Arroganz und eitler Selbstgefälligkeit über seinen wort- und weltgewandten griechischen Ministerkollegen hergezogen ist ("dümmlich, naiv"), wird ihm schwerlich professionelle Distanz zubilligen können. Ich halte Schäuble überdies wegen seiner eingeschränkten persönlichen Glaubwürdigkeit (Strafverfahren Spendenaffäre, Verdacht auf Meineid) als Gewährsmann für wenig tauglich.

Das hat jedoch die einheimische Journaille nicht davon abgehalten, Schäubles von erkennbarer Antipathie getragene Abwertungen seines Kollegen als Quell der reinen Wahrheit zu verbreiten. Nebenbei: Dem hämischen Zyniker Schäuble ist das miserable aktuelle Deutschlandbild in Griechenland und anderswo maßgeblich zu verdanken. Das ist nicht allein seiner Härte in der Sache geschuldet, sondern der unübersehbaren Geringschätzung eines in Not befindlichen Landes und seiner Vertreter.

Ob Varoufakis bei den Verhandlungen geschickt war oder ob er provoziert hat, ist für Außenstehende schwer zu beurteilen. Feststeht, dass er von der ersten Stunde an eine extrem schwierige Rolle innehatte. Infolge seines Rücktritts lohnt es sich heute nicht mehr, dieser Frage vertieft nachzugehen. Sein Nachfolger Euklides Tsakalotos ist offensichtlich geschmeidiger. Das Maßnahmenpaket, das er letzte Woche nach Brüssel geschickt hat, unterscheidet sich kaum von den harten Forderungen der EU, die das griechische Volk in einem Referendum mit 61 Prozent abgelehnt hat. Es darf vermutet werden, dass die griechische Regierung angesichts leerer Kassen, geschlossener Banken und verzweifelter Menschen keinen anderen Ausweg mehr sah als beizudrehen.

Alexis Tsipras ist im griechischen Drama zum tragischen Helden geworden. Er ist vor einem halben Jahr angetreten, um sein Land aus der europäischen Bevormundung zu befreien. Er kämpfte mit Charisma und Chuzpe für dieses Ziel, ging ein hohes Risiko ein, als er seinem Volk im Referendum die Ablehnung des europäischen Rettungspakets empfahl - und er gewann triumphal. Das stärkte sein Ansehen und seine Macht im Land beträchtlich. Deshalb ging er gestärkt und zuversichtlich in die nächste Verhandlungsrunde nach Brüssel. Er kämpfte hingebungsvoll - und verlor trotzdem auf der ganzen Linie. Er hatte gegen die strategische Übermacht der Geldgeber keine reelle Chance.

Seither sitzt er in einer Zwickmühle. Was immer er tut oder unterlässt, es ist falsch. Er kann seine Zustimmung nicht mehr verweigern, weil er beim Brüsseler Krisengipfel zuletzt zugestimmt hat. Noch weniger kann er die Annahme des Pakets empfehlen, weil es viel schlechter ist als das, was er vor Wochenfrist abgelehnt hat. Aus diesem Dilemma gibt es im Grunde nur zwei denkbare Auswege, eine nochmalige Volksabstimmung oder Neuwahlen. Aber beide Wege führen nicht zum Ziel. Sie beanspruchen viel zu viel Zeit, die er nicht hat. Beides würde unweigerlich Bankenpleite, Zahlungsunfähigkeit des Staates und den "Grexit" nach sich ziehen. Genau das wollte Alexis Tsipras aber vermeiden.