Griechenland - zwischen 3. und 4. Hilfspaket

Seite 3: Gefahrenpotentiale, strukturelle Schwächen und wenig Hoffnung auf Abhilfe

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Inzwischen steht nicht nur das Schicksal Griechenlands auf dem Spiel, sondern im Falle des nach wie vor drohenden "Grexit" der Fortbestand der Eurozone und - zu Ende gedacht - sogar die Europäische Union. Auch die Wahrscheinlichkeit eines "Brexit" würde steigen. Überdies hätte ein Ausscheren Griechenlands Fernwirkungen auf die Südostflanke des NATO-Systems.

Angesichts dessen zeugt es nicht von staatsmännischem Denken, wenn deutscherseits nationale Wirtschafts- und Finanzinteressen zum alleinigen Maßstab für Entscheidungen historischen Ausmaßes gemacht wurden. Das sichert zwar die Deutungshoheit über den Stammtischen und wohlfeile Wählergunst. Es wird aber dem europäischen Friedensprojekt und dem Solidaritätsgedanken nicht gerecht.

Die Gefahr für das "Wohlstands- und Friedensprojekt Europa" ist beträchtlich. Wenn es scheitert, dann ist der Grund hierfür nicht Griechenland. Dazu ist dessen wirtschaftliche Bedeutung viel zu gering. Das griechische Bruttoinlandsprodukt beträgt gerade mal 1,2 % der europäischen Wirtschaftsleistung. Tsipras und Varoufakis sind somit nicht der Grund für die europäische Krise, sie sind nur deren Indikatoren.

Wenn das europäische Schiff ins Schlingern gerät, dann ist die Ursache in der politischen Schwäche des EU-Systems und seines Führungspersonals zu sehen. Letzteres ist durch die aktuellen Großprobleme (neben der Staatsschuldenkrise mehrerer Länder, die Gefahr eines britischen EU-Austritts, die Ukraine-Krise, die sinnvolle Positionierung zu Russland, das ungelöste Flüchtlingsproblem, die Orientierungslosigkeit in Energie- und Klimafragen, usw.) offensichtlich überfordert.

Lähmendes Mittelmaß à la Schulz, Juncker, Tusk, Draghi, Merkel, Hollande, Cameron, Schäuble, Gabriel bringt Europa schleichend an den Rand des Abgrunds. Die deutsche Kanzlerin lässt sich zwar gerne als mächtigste Frau der Welt feiern. Wenn aber in einer existenziellen Krise echte politische Führung nötig wäre, dann taucht sie ab und lässt ihren Pressesprecher verkünden, dass Griechenland seine Hausaufgaben machen soll. Bei besonderen Anlässen raunt sie bedeutungsschwanger: "Scheitert der Euro, dann scheitert Europa", ohne jedoch erkennbare Konsequenzen aus dieser Einsicht abzuleiten. Das ist zu wenig.

Die Griechenland-Krise hat gezeigt, dass es Europa nicht an Geld fehlt. Davon scheint reichlich vorhanden zu sein. Zu den aktuell ausgereichten Krediten für Griechenland sollen demnächst noch weitere gut 80 Milliarden Euro dazukommen. Was Europa dringend braucht, ist nicht Geld, sondern sind visionäre und tatkräftige Staatsmänner/frauen vom Format eines de Gaulle, Adenauer, Schumann, Spaak oder Brandt. Doch die kann man bekanntlich nicht von Bäumen pflücken.

Und wie weiter?

Natürlich würde ich mir wünschen, dass die von Syriza angekündigten Reformen schon weiter gediehen wären. Aber ich kann mir vorstellen, dass einer Regierung, die vom ersten Tag an voll durch die extrem schwierigen Verhandlungen mit der Troika (den "Institutionen") ausgelastet war, mildernde Umstände zuzubilligen sind.

Entgegen der herrschenden Stammtischmeinung ist es nicht einfach, in kürzester Zeit einen verlotterten Staat zu sanieren. Eine Verwaltung, die noch vom tief verankerten Widerstand gegen die osmanische Besatzung und von Korruption geprägt ist, auf mitteleuropäische Standards zu bringen, ist eine Lebensaufgabe. Möglicherweise müssen die Griechen erst zu einem neuen Staatsverständnis finden.

Steuern eintreiben, Kapitalabflüsse unterbinden, Reeder heranziehen, das klingt alles sehr einfach. Aber es setzt u.a. eine funktionierende Finanzverwaltung, ein Liegenschaftskataster und ordentliche Gesetze voraus. Wer ein bisschen Ahnung von Verwaltung hat, weiß, dass auch das Jahre dauern wird. Nebenbei: Die (wünschenswerte!) Besteuerung der griechischen Großreeder erfordert nichts weniger als eine Verfassungsänderung. Und das wiederum geht nicht ohne viel Überzeugungsarbeit und qualifizierte Mehrheiten in den Gesetzgebungsorganen.

Wie schwierig Steuerreformen sind, zeigt das zehnjährige vergebliche Bemühen der Merkel-Bundesregierungen. Selbst der Großredner Schäuble hat es nicht geschafft, die Reformbemühungen hierzulande entscheidend voranzubringen. Die vom Bundesverfassungsgericht geforderte Reform des Erbschaftssteuergesetzes ist über die Diskussionsphase nicht hinausgekommen. Mehr noch, Schäuble ist es nicht einmal gelungen, in Jahren sprudelnder Steuereinnahmen auch nur einen Cent der deutschen Staatsschulden von mehr als 2.000.000.000.000 € abzutragen. Aber "die Griechen" sollen ihre viel schwierigeren Aufgaben über Nacht machen. Wer so etwas fordert, zeigt, dass er entweder von Verwaltungswirklichkeit wenig Ahnung hat oder seinen politischen Gegner schlechtreden will.

Das alles ist natürlich kein Freibrief für Tsipras. Er muss sich gewaltig anstrengen und Vertrauen in die Reformierbarkeit seines Landes schaffen. Da war er wohl zu zögerlich. Aber es ist gewissenlos, ihn zu weiteren Einschnitten in die Sozialstandards seiner ohnehin bereits notleidenden Bevölkerung zu drängen. Ich habe in meiner eigenen griechischen Verwandtschaft erlebt, was es für bürgerliche Familien bedeutet, wenn das Familieneinkommen über Nacht um 40% schrumpft. Ich würde denen, die großmäulig von "Hausaufgaben machen" und "sparen" reden, mal zu einem Selbstversuch raten.

Der Immer wieder gehörte Hinweis, dass es in einigen baltischen oder osteuropäischen Staaten Menschen gibt, die mit noch weniger Geld auskommen müssen, mag richtig sein, aber er ist dennoch zynisch. Zu Ende gedacht bedeutet das nämlich, dass man die niedrigsten Sozialstandards der EU zum Maßstab für das Erstrebenswerte macht. Solches Denken verstößt gegen Fundamentalnormen des EU-Vertragsrechts. Ethisch (und christlich!) wäre es, wenn die reichen EU-Staaten von ihrem Reichtum so viel abgeben würden, dass den Schwachen und Elenden geholfen werden kann - sowohl in Griechenland als auch anderswo. Aber es ist so viel bequemer, von Versagen und Schuld zu sprechen als großherzig zu helfen.

Schuldenschnitt

Die Lösung kann nicht sein, dass zu den Krediten in Höhe von 320 Milliarden weitere 80 Milliarden nachgereicht werden. Das würde allein dazu führen, dass alte Schulden mit neuen Schulden bezahlt werden. Die Gelder würden bildlich gesprochen die Sonne Griechenlands ein paar Stunden sehen, um dann sogleich wieder in die Tresore deutscher, französischer und englischer Banken zurückzufließen.

Nötig ist vielmehr ein deutlicher Schuldenschnitt, wie Deutschland ihn nach dem Zweiten Weltkrieg in der Londoner Schuldenkonferenz von 1953 erhalten hat. Das wäre wirtschafts- und finanzpolitisch folgerichtig. Ich habe noch keinen Ökonomen gesehen, der meint, dass Griechenland die erdrückenden Staatsschulden jemals wird abtragen können. In anderen Worten: Die Rückzahlungsansprüche stehen auf dem Papier, sie sind jedoch weitgehend wertlos, Ramschniveau.

Gleichwohl will Merkel davon nichts wissen. Vielmehr sagt sie mit der Miene der sparsamen schwäbischen Hausfrau: "Ein nominaler Schuldenschnitt kommt für uns nicht infrage". Allenfalls ein Hinausschieben des Schuldendienstes sei denkbar. Vorsorglich hat sie nicht hinzugefügt "auf den Sankt-Nimmerleins-Tag". Der Grund für diese Zurückhaltung liegt auf der Hand. Es wäre das stille Eingeständnis des Scheiterns der insbesondere von ihr und Schäuble geförderten Rettungspolitik. Diesen Gesichtsverlust will man sich natürlich sparen.

Man kann es nicht oft genug wiederholen: Mit dieser Politik ist Mutti krachend an die Wand gefahren. Die 320 Milliarden sind futsch oder - etwas vornehmer ausgedrückt - sie sind perdu. Der deutsche Anteil daran beträgt satte 80 Milliarden.

Die Rettungspakete hatten überdies den grandiosen Nebeneffekt, dass Gläubiger der griechischen Staatsschulden heute nicht mehr die Banken und die privaten Spekulanten sind, sondern die europäischen Steuerzahler. Die Erstgenannten haben verständlicherweise ausgelassene Freudentänze aufgeführt. Der explodierende Dax war die passende Begleitmusik dazu. Die Letztgenannten, also wir, taten das, was wir immer tun. Wir fügten uns in dem Bewusstsein, dass es uns gut geht (O-Ton Merkel), in das Unvermeidliche und freuten uns, wenn die Kanzlerin treuherzig in die Kamera grinste und dazu die Hände zu ihrer unvergleichlichen Raute faltete.

Spekulationen

Wenngleich bei den Brüsseler Verhandlungen echte Solidarität mit den Menschen auf der Strecke blieb, so ist zumindest wieder etwas Zeit gewonnen - und sei es nur bis zum nächsten Notfall. Man muss kein Hellseher sein, um zu erkennen, dass das Elend der Griechen weitergehen wird und zwar in schlimmerer Form als bisher.

Große Staaten wie Spanien, Italien, Frankreich sind nach Experteneinschätzung noch längst nicht aus dem Schneider. Sollten diese Schwergewichte Hilfe brauchen, dann geht es um ganz andere Dimensionen der Hilfe. An die Sanierung der um die Aufnahme in die EU nachsuchenden Ukraine will ich gar nicht erst denken. Das könnte die EU tatsächlich überfordern.

Was ein irgendwann vielleicht unvermeidlicher griechischer Grexit für Europa und Deutschland bringen wird, kann nach meiner Beobachtung heute niemand seriös voraussagen. Aber vielleicht gibt es dann ein 4. Rettungspaket. Unser aller Kanzlerin wird es dann schon richten. Und ihre bewährte Raute machen.

Peter Vonnahme, Richter am Bayerischen Verwaltungsgerichtshof i.R., ehem. Mitglied im Bundesvorstand der Neuen Richtervereinigung