Groß, größer, New York

Eine subjektiver Bericht über Kunst und Netzkultur in der inoffiziellen Welthauptstadt der Kultur.

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Die Ankunft am Terminal 9 des John F. Kennedy Airports in New York verriet bereits etwas vom impliziten Klassen- und Rassensystem in den USA. Außer American-Airlines-Flügen aus London kommen hier vor allem Inlandsflüge aus Miami und Flüge aus Lateinamerika an. Lange Schlangen vor den Passkontrollschaltern, knapp dahinter, am Zoll, wird beinahe jede/r zeitraubend durchsucht. Die Korridore sind schier endlos und anstatt der sonst auf Flughäfen dominanten IT-Werbung gibt es hier nur nackte, grauweiße Wände. Endlich draußen, schlagen einem die Geräusche und Gerüche der Stadt um Nasen und Ohren: überzuckerte Donuts, gehaltloser Kaffee, Salsa aus Kofferradios, rauschende Funkgeräte, Latinos in tiefhängenden, überweiten Hosen und braungelockte Senoritas mit dunkelrotem Lippenstift, die ihre Kinder in breitbereifte Jeeps packen: alles ist irgendwie breiter, stämmiger, PS-stärker, stimmungsschwangerer als auf dem alten Kontinent. Dann, im Taxi, die erste Begegnung mit dem Mann, der dieser Stadt in den letzten Jahren seinen Stempel aufgedrückt hat, ohne ihre Vitalität völlig ersticken zu können. Eine offizielle Bekanntmachung als Aufkleber am Taxi-Innenfenster: "Alle Fahrten vom JFK-Airport nach Manhatten kosten 30 Dollar. Nicht eingeschlossen sind Brücken- und Tunnelgebühren sowie Trinkgelder. Gezeichnet: Rudolph W. Giuliani".

Striktes Reglement gilt auch für die berühmten Yellow Cabs

Die Medienaktivistin Deedee Halleck brachte die Gefühlslage vieler New Yorker gegenüber ihrem Bürgermeister mit einer kleinen Anekdote auf den Punkt. "Als Giulianis Erkrankung an Prostatakrebs bekanntgegeben wurde", erzählt sie, "flüsterten sich viele hispanische und schwarze Frauen augenzwinkernd gegenseitig zu, 'Vodoo works'". Doch nicht nur die verschiedenen ethnischen Minderheiten, die unter Polizeibrutalität zu leiden haben, auch das Establishment in Form von Journalisten hat den autoritären Stadtregenten inzwischen satt. "Das Rathaus behandelt selbst die trivialsten Einzelheiten als Geheimnis, es ist unmöglich, Informationen zu bekommen," beschweren sich Journalisten der eigentlich konservativen New York Times und die Stadtzeitung Village Voice schreibt: "In einem anderen politischen System würde Giuliani überall in der Stadt große Portraits von sich aufhängen lassen".

Alte und neue Wahrzeichen: Die Werbung erreicht übermenschliche Formate

Unsichtbar aber spürbar macht sich der Einfluss der Nulltoleranz-Politik Giulianis überall bemerkbar. Bars und Clubs wurden geschlossen, Falschparker werden rigoros abgeschleppt, Alkoholverbote werden eingehalten, das Rauchen hat man sich schon lange abgewöhnt, Regeln und Verbote soweit das Auge blickt. Neben diesen bekannten Faktoren waren es vor allem wirtschaftliche Entwicklungen, die zur "Säuberung" Manhattans beigetragen haben. Es wird kaum noch erinnert, dass Manhattan bis in die Mitte der siebziger Jahre ein Zentrum für Herstellungsbetriebe war, für Kleidung, Elektronik und Konsumgüter, die meist in spezialisierten Klein- und Mittelbetrieben angefertigt wurden. Eine Mischung aus weltwirtschaftlichen Umständen und politischen Entscheidungen hat diese Industrien fast völlig verschwinden lassen. New York ist heute Zentrum für Finanzen, Werbung, Medien und Entertainment und es ist kaum noch vorstellbar, dass die Mehrheit der Manhattanites einmal nicht aus Büroangestellten bestand.

Der NASDAQ dominiert am Times Square

Seit Mitte der neunziger Jahre hat der Internetboom diesem Trend nocheinmal eine Spitze aufgesetzt. Dotcom-Werbungen dominieren das Straßenbild in allen Größenordnungen und Facetten. Am Times-Square, einst bekannt für seine Sex-Clubs, wird nun von einer Projektion des NASDAQ dominiert. Und selbst im abgelegenstem Winkel Harlems wirbt ein großes Plakat: "Internet access", hier lang, "125th Street", da lang.

Internetwerbung soweit das Auge blickt

Kunstfrühling 2000 in New York

Die Kombination von Zero Tolerance und der Neuerfindung des Wildwest-Kapitalismus auf dem Rücken des Dotcom-Goldrauschs bleibt auch nicht ohne Auswirkungen auf die Kunst. Zwei aufeinander bezogene Ausstellungen geben den Ton an im Kunstfrühling 2000 in New York. Im P.S.1 in Queens zeigte die Schau "Greater New York" Arbeiten von 140 in New York lebenden, überwiegend jungen Künstlern. Im Whitney-Museum zeigt die Whitney Biennale 2000 eine Leistungsschau amerikanischer Kunst der letzten beiden Jahre, wobei als amerikanischer Künstler definiert wird, wer aus den USA kommt oder in den USA lebt.

Es mag eine Zeichen für die intuitive Ablehnung sein, die großen Institutionen entgegengebracht wird, dass die Whitney-Biennale von den meisten Bekannten als "grauenhaft" bezeichnet wurde, während der P.S.1-Schau viel mehr Sympathie entgegengebracht wird. Dabei kann man diese Ausstellung in einer mit großem Aufwand adaptierte Schule in einem Industrieviertel, an der sich auch das Museum of Modern Arts (MOMA) beteiligt hat, nicht gerade als Off-Kunstszene bezeichnen. "Off" höchstens im Sinne von off-izieller Nachwuchskunst, die deshalb keineswegs kritischer, gehaltvoller, bissiger sein muss. Fast im Gegenteil, ein Strang, der sich durch viele der gezeigten Arbeiten zog, ohne dass eine besonders hervorhebenswert scheint, ist eine Art lieblicher Neo-Psychdelic. Wuchernde Pilze, übereinandergeschichtete Aquarien mit tropischen Fischen, Modelleisenbahn, "Installationen" mit Haushaltsobjekten, großflächige Pop-Art-Malerei in grellen Farben, winzige Comic-Kritzeleien, als Zeichnung oder animiert, all das gehört eigentlich zum festen Bestandteil der Kunst der letzten drei Jahrzehnte des 20.Jahrhunderts. Was daran bahnbrechend sein soll oder eine Aufbruchsstimmung vermitteln würde, wie der Pressetext der Kuratoren verkündet, ist rätselhaft. Man kann es sich gut vorstellen, wie diese Künstler, oft frisch von der Akademie, in ihren Ateliers sitzen und sich nette, kleine philosophische Spielereien in frischen Modefarben ausdenken, die sich anstandslos verkaufen lassen, da sie weder berühren, noch provozieren und einer selbstgenügsamen Unschuld fröhnen. Den neureichen Internetmillionären mag das gut ins Penthouse passen und selbst der erzkonservative Bürgermeister braucht sich dieser braven Kinder nicht zu schämen.

Dabei wird mal eher im Privaten gewühlt, mal eher mit den Ikonen der Warenwelt herumgespielt, wobei gerade letzteres als Armutszeugnis zurückschlägt. Was sich als "Auseinandersetzung mit Konsum, Warenfetischismus und der Sprache der Werbeästhetik" deklariert, fällt allzuoft hinter ebendiese Werbeästhetik zurück, die wie schon Warhol vor bald einem halbem Jahrzehnt erkannte, die eigentliche "amerikanische" Kunst ist. Computer fallen durch ihre völlige Abwesenheit auf, obwohl einige Computerkünstler wie Jordan Crandall auf der Teilnehmerliste zu finden sind. Doch gerechterweise muss hinzugefügt werden, dass ein Drittel der Ausstellung am letzten Tag nicht mehr zugänglich war.

Excite-ing oder einfach nur penetrant: Überlebensgroße Dotcom-Cowboys in Manhattan

Dazwischen gab es dann doch einige Ausnahmen, die zwar keine Regel bestätigen, aber immerhin dem streunenden Auge eine Ruhepause vergönnen. Merkwürdigerweise fallen in diese Kategorie zwei Künstler, die auch in der Whitney-Biennale prominent vertreten sind. Der eine, Paul Pfeiffer, hat mit seinen digitalen Video-Loops gar den Hauptpreis der Biennale, dotiert mit 100.000 US$, gewonnen. Im PS-1 zeigt er einen Basketball in Nahaufnahme, der endlos von einem Händepaar zum nächsten weitergereicht wird, auf einem kleinem Monitor, montiert auf einem einbeinigem Videostativ, so dass die Installation der Arbeit an einen Basketballkorb erinnert. Doch die lässige Ausführung der Arbeit in skulpturaler Hinsicht kann nicht ganz überzeugen. Die andere, Shirin Neshat, eine iranische in New York lebende Künstlerin, deren Arbeit fast identisch im Whitney-Museum zu sehen ist, benutzt zwei Leinwände zur filmischen Dekonstruktion einer iranischen Geschichte. Links die Männer, in weißen Hosen, rechts die Frauen in schwarzen Gewändern und Kopftuch, werden in einer Erzählung über die Motive Erotik und politisch-religiöse Indoktrination gegeneinander gestellt. Der "Zwischenschnitt", diese Errungenschaft der Filmsprache, wobei von einem Handlungsträger auf das jeweilige Gegenüber umgeschnitten wird, wurde hier wieder aufgelöst, d.h., dass auf jeder Leinwand autonom aber doch verbunden die synchronisierte Geschichte der Männer und Frauen zu sehen ist. Dieser einfache Kunstgriff verbunden mit der Schwarzweiss-Ästhetik des Films, bzw. der Videoinstallation und der emotional geladenen Thematik veranlasst viel Besucher, diesen Raum nicht bloß zu durchstreifen, sondern sich die Arbeit bis zum Ende anzusehen. Es scheint übrigens mehr als nur ein Gerücht zu sein, dass Shirin Neshat. bisher zu den wenigen Fixstartern der von Okwei Enwezor kuratierten documenta XI in Kassel 2002 zählen wird.

Whitney Biennale 2000

Die Miesmacherei vorab konnte nicht verhindern, dass die Whitney-Biennale von mir subjektiv als sehenswerte Ausstellung empfunden wurde. Wenn man grundsätzlich akzeptiert, dass eine solche nationale Leistungsschau verschiedenen Strömungen, Altersgruppen und Tendenzen Rechnung tragen muss, dann war die Whitney-Biennale 2000 zwar ein ziemlicher Brocken, mit einigen wirklich abscheulichen Kunstgestaltereien, doch die positiven Aspekte bildeten mehr als eine Ausnahme. Das klingt nun alles fürchterlich wertend, doch allein den 4.Stock zu bewältigen, war zumindest ein gehöriges Stück Arbeit. Dort befinden sich in einem Raum zwei Videoloops des Preisträgers Paul Pfeiffer, an gegenüberliegenden Wänden installiert. Auf sehr kleiner Projektionsfläche wird einmal ein spastisch zuckender Mann auf einer Couch gezeigt, gegenüber ein Basketballspieler in tänzelnden Vorwärts-Rückwärtsschritten. Es ist nicht ganz einsichtig, warum gerade diese Arbeit den ersten Preis gewonnen hat. Doch möglicherweise profitiert sie von der gelungenen Kombination mit den umliegenden Werken. An den Längsseiten desselben Raums befinden sich fotografische Arbeiten von Sharon Lockhart. Deren ästhetische Geschlossenheit und Ruhe, eine Reflexion über museale Kunstvermittlung, kontrastiert nicely mit Pfeiffers bewegten Bildern aus der Medien-Trash-Welt. Und aus dem Hintergrund machten sich das Donnern und Rauschen von Leandro Ehrlichs "Rain" bemerkbar, eine Installation, die schweren Gewitterregen hinter einem zu umrundendem Labyrinth aus Wänden und Fenstern niedergehen läßt, was sofort dieses Gefühl des zu-Hause-Eingesperrtseins-an-einem-verregnetem Wochenende erzeugt, wobei allerdings hier der Regen "zwischen" den Wänden eingesperrt ist.

Auf dem selben Stockwerk befanden sich dann auch die 9 kuratierten Netzkunstarbeiten, die erstmals in eine Whitney-Biennale aufgenommen wurden. Die Präsentation erfolgt in einer kinoähnlichen Situation, mit nur einem Computer, Sitzbänken und großer Projektion (im Untergeschoß gibt es auch individuelle Netzstationen). Das kann man zwar kritisieren, weil es im Widerspruch zur selbstklickenden Heimrezeption von Netzkunst steht, es hat aber auch seine Vorteile. Eine sehr kompetent wirkende, ältere Dame führte auf individuelle Anfragen durch die Arbeiten, so dass man schon mal einen großen Teil mitbekam, plus Erläuterungen, bevor man sich dann mit eigenen Anliegen an die kundige Führerin wenden konnte, die übrigens mit ihrer eigenen Meinung nicht zurückhielt. Den Beitrag von Fakeshop.com, einem Netzkollektiv, bezeichnete sie am gelungendsten, weil es am ehesten dem Charakter des Netzes entspricht. Wir stimmen zu. Aber Vorsicht, wenn Sie das zu Hause ausprobieren, denn Sie könnten einige Arbeit damit haben, diese vielen lästigen Fensterchen und Cookie-Meldungen wieder wegzuklicken.

Die Stimmung einer amerikanischen Großstadt vermochte wie kein anderer Doug Aitken mit seiner Videoinstallation Electric City einzufangen. Normalerweise erzeugt ein technischer Großaufwand von 8 Projektoren in einem verdunkeltem Raum bei mir jene bestimmte Art intuitiver Ablehnung gegenüber sündteuren Präsentationen, doch in diesem Fall erschien der Aufwand gerechtfertigt. Ein Protagonist zappelt in einer Mischung aus Breakdance und Bladerunner-Androide mit Kurzschlüssen in seinem elektronischem Nervensystem durch eine nächtliche Stadtkulisse. Dazu fiept und piept ein elektronischer Soundtrack, der sich gekonnt an der Grenze von elektronischem Minimalismus und Clubmusik-Intensität bewegt. Als eine Form von "Expanded Cinema" verteilen sich die Handlungsstränge dieser nichtlinearen Erzählung über alle Leinwände. Das ist fast schöner, als selbst dortgewesen zu sein.

Auch Dara Friedman spielt mitWahrnehmungs- und Konstruktionsprinzipien von Film/Video. In der Video-Arbeit Bim Bam zeigt die Projektion jeweils auf der oberen und unteren Leinwandhälfte abwechselnd zwei Leute, die sich gegenseitig die Türen voreinander zuschlagen. Ein ganzes Filmthema von Aggression, Abschied und Abschottung wird hier auf wenige Frames verdichtet. Zugegebenermaßen gehöre ich zu jener Sorte von Leuten, denen Kunst irgendwie besser gefällt, wenn sie zischt und summt und sich bewegt und von elektronischen oder digitalen Schaltkreisen angetrieben wird, weshalb mir gerade dieser Arbeiten als hervorhebenswert erschienen, doch einerseits gelobe ich, mich zu bessern und auch analogen Kunstwerken zuzuhören, wenn sie etwas zu sagen haben, und zum anderen verweist die starke Präsenz von Videoarbeiten auf einen nicht mehr ganz neuen Trend. Mehr als 30 Jahre seit der Markteinführung der tragbaren und bezahlbaren Portapack-Videokamera-Rekorderkombination hat es gedauert, bevor Videokunst ganz selbstverständlich Bestandteil großer Museumsausstellungen wurde. Die Frage ist nun, wie lange es dauert, bis Netzkunst ebenso selbstverständlich in Museen gezeigt und Galerien verkauft werden wird. Die Whitney-Biennale hat zumindest einen Anfang gemacht.

Galerien

Die Konzentration von Geld und künstlerisch-kultureller Vielschichtigkeit auf engem Raum in Manhattan begünstigt eine rege Galerienszene, deren Qualität weder in London noch Berlin oder gar dem aus der Mode gekommenen Köln derzeit ein Gegenstück findet. Immer die Vorhut zum nächsten Immobilienboom bildend, konzentriert sich das Galerienleben seit einigen Jahren in Chelsea, während Soho zum Modeviertel degeneriert ist. Von dem reichhaltigem Angebot stach besonders Gergory Green bei Feigen Contemporary hervor, der einen VW-Campingbus ausstellt, der auf Low-Tech-Basis mit allem ausgestattet ist, was für einen mobilen Radio- und Fernsehsender vonnöten ist. Gregory Green arbeitet zugleich an einem Billig-Satellitem, der es jedem ermöglichen soll, ein eigenes Kurzwellenprogramm weltweit auszustrahlen (Projekt "Gregnik" in Anlehnung an Sputnik). Die technologische Entwicklungsarbeit dahinter ist echt und kein Fake und vielleicht wird es den demokratischen Gregnik-Satelliten für die frequenzhungrigen Massen tatsächlich bald geben.

Gregory Greens Campingbus mit Low-Tech-Studio für Radio, TV und Internet

Während die Auseinandersetzung mit der Werbe- und Warenwelt im P.S.1 wenig zu überzeugen vermochte, gibt Richard Prince bei Barbara Gladstone tatsächlich Einblick in die zugleich glamouröse und abgründige Welt der wirklichen und Möchtegern-Stars. Die signierten Autogrammkarten von Medienstars werden scheinbar willkürlich mit eigenen Zeichnungen des Künstlers und ebenfalls signierten Fotos von Unbekannten kombiniert. Für eine auch gerade laufende Solo-Ausstellung der in Europa hinlänglich bekannten schweizer Videokünstlerin Pipilotti Rist blieb dann keine Zeit mehr.

High-Art in Harlem

Eine löbliche Ausnahme von der Konzentration der gerade angesagten Galerien in Chelsea bildet The Project, die Galerie des einzigen auf internationaler Ebene spielenden schwarzen Galeristen in New York, Christian Haye, der die 126Th Street in Harlem als Ort gewählt hat. The Project existiert zwar bereits seit zwei Jahren, hat aber seit Februar dieses Jahres neue, größere Räume. Als ehemaliger Schreiber für das englische Magazin Frieze ist Haye bestens connected und hat mit dem Whitney-Preisträger Paul Pfeiffer, den er exklusiv vertritt, ein heißes Eisen im Feuer. Derzeit präsentiert The Project eine Ausstellung mit und über Malerei. Diese rüttelt zwar nicht gerade an den Grundpfeilern der modernen Kunst, zeigt aber die selbe Grundhaltung wie Haye's Standortwahl: Ich pfeiff drauf, was ihr darüber denkt. Die drei präsentierten Künstler benutzen Malerei auf unkonventionelle Art und Weise in Reflexionen über die zeitgenössischen Möglichkeiten des Mediums. Peter Rostovsky setzt sich im oberen Stockwerk augenzwinkernd mit seiner Obsession für Caspar David Friedrich auseinander, während er im Erdgeschoss abstrakte Malereien präsentiert, die abfotografierten Special-Effect-Szenen aus SF-Klassikern nachgemalt sind. Julie Mehretu arbeitet auf mehrschichtigen, teilweise transparenten Bildhintergründen, mit Bleistift, Spray und Acryl. Diese Bilder, die einen Anflug von Kandinsky-updated haben, vermischen das Chaos von New Yorker Straßenszenen Eindrücken des Information-Overload. Glenn Brown ist Fotograf, der sich darauf spezialisiert hat, Ausschnitte aus Gemälden zu fotografieren, die wegen ihrer Verschwommenheit und der Ausschnittwahl ein Gefühl von Ambivalenz gegenüber dem Sujet hervorrufen - eine verwirrende Rätselhaftigkeit.

Trotz einiger neuer Geschäfte auf der 125sten Straße (Toys R Us, Old Navy Bademoden), dem Herz Harlems, erscheint die Gegend immer noch bitterarm und hat wenig vom Börsen-Wirtschaftsboom abbekommen. Ein Projekt wie The Project bringt andere Publikumsschichten nach Harlem und könnte einen Effekt urbaner Regeneration nach sich ziehen, wie ihn etwa Brixton in London erlebt hat, nicht obwohl sondern gerade weil es ein überwiegend von Schwarzen bewohntes Viertel ist.

Netzkultur New York

Eine Eigentümlichkeit der Netzszene ist es, dass man nicht unbedingt vor Ort sein muss, um mitzubekommen, was grob abläuft. Es gibt eine handvoll von Netzprojekten, die aus New York sind oder zumindest teilweise etwas mit New York zu tun haben, die Anfang oder Mitte der neunziger Jahre entstanden sind und die es, zur allgemeinen und eigenen Überraschung, trotz Kommerzialisierungswelle immer noch gibt. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit beschränkt sich der folgende Bericht auf Bekannte/s - Rhizom, The Thing und Nettime. Deshalb ist das folgende Kapitel eher als entspannter "Besuch bei Freunden" zu verstehen, mit updates zu letzten Entwicklungen und davon ausgehend, dass Rhizom, The Thing und Nettime nicht mehr neu vorgestellt werden müssen.

Mark Tribe, Gründer von Rhizom.org

Rhizome entsprang einer Idee des Amerikaners Mark Tribes, als er 1995 noch in Berlin bei einer Web-Design-Firma arbeitete. Er wollte ein Forum in Form einer Mailinglist schaffen, dessen Teilnehmer sich gezielt vor allem mit künstlerischen Aspekten beschäftigen, während die zur gleichen Zeit oder etwas früher gegründete Liste Nettime eher auf politisch-wirtschaftliche Aspekte eingeht. Auf einen guten Start als lebendige Diskussionsliste folgte eine Phase von Irrungen und Wirrungen. Mark Tribe gründete als kommerzielles Standbein das Unternehmen stockobjects.com, dessen Einkünfte die Existenz von Rhizome sichern helfen sollten. Das war zu einer Zeit, als in den USA der Glaube an eine unbeschränkte Aufwärtsbewegung alles Internetmäßigen noch vorherrschte und Investoren scheinbar leicht zu finden waren. Doch die Aufteilung auf ein kommerzielles und ein nichtkommerzielles Standbein ließ letzteres ins Hintertreffen geraten. Als dann auch noch bei stockobjects Sand ins Getriebe kam, gründete sich Rhizome.org als nichtkommerzielle Einheit wieder aus und seit einem Jahr arbeiten Tribe und Mitarbeiter wieder vollzeitlich an Rhizome. Sowohl die Liste als auch die zugehörige Website profitieren davon und Rhizome hat neue Sponsoren und Förderer gefunden. "Wärst du vor 6 Wochen gekommen", sagte Mark Tribe, "währen Alex Galloway und ich allein hier gesessen". Zum Zeitpunkt meines Besuchs wurde ich einem Mitarbeiterstab von fünf plus einer Adminsitratorin vorgestellt. Neue, visuelle Interfaces für das Rhizome-Textarchiv und eine Artbase entstanden und wuchsen in den letzten Wochen und Monaten.

Wolfgang Staehle empfängt seine ETOY-Aktie als Dank für die Rolle, die The Thing im Toywar spielte

The Thing ist das geistige Kind des schwäbischen Künstlers Wolfgang Staehle. Gegründet 1991, damals noch als Mailbox, war The Thing zunächst vor allem Medium eines intensiven Austauschs zwischen Künstler- und Schriftstellerfreunden. Als sich dann das Webzeitalter anzukündigen begann, wurde The Thing zum Host für eigene Web-Arbeiten und Arbeiten befreundeter Künstler. In der Subventionswüste der frühen Netzkunstjahre setzte The Thing auf eine wirtschaftlich gemischte Strategie und wurde zum ISP für ca. 300 Subskribienten, ein Teil davon kommerzieller Natur, für die auch Web-Hosting- und Beratungsdienste übernommen wurden. In der zweiten Hälfte der neunziger Jahre gab es einen größeren Relaunch mit der Einrichtung webbasierter Community-Funktionen, die den Teilnehmern eine Reihe netter Möglichkeiten gaben, die teils unter UNIX zwar gang und gäbe sind, aber WWW-mäßig nicht sehr verbreitet, wie etwa zu sehen, wer gerade online ist und diese/n dann anchatten zu können. Das wirtschaftliche Modell von The Thing hat sich kaum verändert und beruht immer noch größtenteils auf kommerziellen Einkünften, welche wiederum künstlerisch-kulturelle Ambitionen mitfinanzieren.

Dieser Umstand stimmt Wolfgang Staehle, der als Galeriekünstler bequem seinen Weg hätte machen können, manchmal mehr als nur ein wenig nachdenklich, rackert er sich doch hauptsächlich dafür ab, die Arbeiten anderer auf seinem Server zu präsentieren. Darüberhinaus leistet The Thing häufig Support für Aktionen, die zwar öffentlich wahrgenommen werden, während aber die stille Unterstützung von The Thing eher unter den Tisch zu fallen droht. Jahrelang gab The Thing Ricardo Dominguez und dessen Floodnet eine physische und virtuelle Heimstatt. In jüngster Zeit war The Thing Host für Toywar.com und leistete Hintergrundarbeit für script- und webgesteuerte Aktionen im Zuge der Etoy- vs.-Etoys Auseinandersetzung. Das bringt zwar Anerkennung in Insiderkreisen aber kein Geld. Kein Wunder, dass Staehle in jüngster Zeit wieder verstärkt als Solo-Künstler in Erscheinung tritt, wie zum Beispiel mit Empire 24-7 (gezeigt bei net_condition), doch gleichzeitig möchte er The Thing keinesfalls aufgeben und noch voll zur Blüte bringen. Die hier lose verstreuten Komplimente werden übrigens zurückgegeben. Wolfgang Staehle: "Ist ja schön, wie Telepolis sich entwickelt hat. Für mich ist das jetzt wie meine Tageszeitung"."

Auf kommerzielle Seitenpfade hat sich Nettime erst gar nicht eingelassen. Musste es auch nicht, denn eine reine Mailinglist kostet virtuell "nichts", außer einer Menge Arbeit. 1995 von Geert Lovink und Pit Schultz gegründet, wird die Liste heute hauptsächlich von Ted Byfield und Felix Stalder moderiert. Beide schreiben auch als freie Autoren für Telepolis, Byfield zuletzt regelmäßig mit Bitbucket. Obwohl sich die Teilnehmerzahl immer noch in engen Grenzen hält, hat Nettime den Netzdiskurs der letzten Jahre intensiv mitgestaltet und neben eigenen Publikationen Eingang in wer weiß wieviele Bücher, Magister- und Doktorarbeiten und netzkulturelle Studien gefunden. Bei einem Besuch in Ted Byfields Wohnung in der Gegend der Columbia University (uptown) blieben Arbeitsthemen außen vor, da man sowieso in permanentem Email-Kontakt ist und Byfield führte mich zu einem Rundgang zu einigen Absurditäten des nördlichen Manhatten, wie etwa der größten Kathedrale der Welt, in der sich christliche und neuzeitlich-amerikanische Motive auf wundervolle Weise mischen. Gehostet wird Nettime übrigens von, na, wer schon, The Thing.

Wie materialisiert sich eine Mailinglist? Auf der Kiste da unten läuft Nettime

Anti-Antiamerikanismus

Auch eine konservative Stadtregierung kann den New Yorkern das Leben nicht austreiben, ihnen allerdings einen Dämpfer aufsetzen. Es sollte eigentlich nicht notwendig sein, das zu sagen, doch immer wieder aufflackernder pauschaler Anti-Amerikanismus, u.a. im Forum dieses Magazins, macht es doch nötig: die Regierung der Vereinigten Staaten oder bestimmte Teile von ihr sollten nicht mit "den Amerikanern" verwechselt werden. "Die Amerikaner" sind weder blöde noch durch die Bank verrückte Aliens. Gerade auf lokaler Ebene ist das Leben von sozialen und von demokratischen Kämpfen gekennzeichnet, die mit demokratischen Mitteln ausgefochten werden. Und 90% der Dinge, die im Leben zählen, spielen sich auf lokaler Ebene ab. Ein "Feindbild Amerika" als neues Reich des Bösen, wie es manchmal aufzuflackern scheint, ist völlig fehl am Platz. Die Bevölkerung sollte nicht in Geiselhaft für ihre Regierung genommen werden. Im Großen und Ganzen ist Amerika weit liberaler als es angesichts mancher Regierungspolitiken scheint. Auch mitten in der Dotcom-Mania gibt es inhaltsvolle Netzprojekte, gute Kunst und facettenreiche Alltagspolitik. Es ist nicht alles Burger, Cola und Microsoft. Wer hätte auch was anderes geglaubt.