Gute Theorie lamentiert nicht

Peter Sloterdijk positioniert sein "Sphären"-Projekt in Kontrast zu "Empire" und erläutert eine Ethik der Großzügigkeit

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"Der Denker auf der Bühne", so lautet der Titel eines seiner zahlreichen früheren Bücher. Damit war zwar sein schnauzbärtiger Philosophen-Kollege Friedrich Nietzsche gemeint, doch auch er selbst wäre damit nicht minder gut beschrieben. Peter Sloterdijk eroberte die Bühne der intellektuellen Öffentlichkeit im Sturm: Sein Erstling, die zweibändige "Kritik der zynischen Vernunft" (1983), wurde zum Kultbuch einer Generation. Für besonders heftige Debatten sorgte der mediengewandte Formulierungskünstler vor wenigen Jahren mit seiner Rede "Regeln für den Menschenpark", in der er nicht ganz unmissverständliche Vorschläge im Umgang mit der Gentechnik machte. Daneben hat der originelle Vielschreiber in den letzten Jahren an seiner "Sphärologie" gearbeitet, einem ambitionierten Theorieprojekt, mit dem er die uralte philosophische Frage "Was ist der Mensch?" neu zu stellen verspricht.

Prof. Peter Sloterdijk ist Rektor der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe und Professor an der Akademie der Bildenden Künste in Wien. Gemeinsam mit Rüdiger Safranski leitet er das "Philosophische Quartett" im ZDF. Das folgende Gespräch mit dem Autor fand in Wien statt.

Herr Sloterdijk, Sie haben mit Ihrem neuen Buch "Schäume" gerade Ihr dreibändiges Sphärenprojekt abgeschlossen. Werden diese 2500 Seiten Ihr Hauptwerk sein?

Peter Sloterdijk: Sicher wird die Trilogie in meiner Werkgeschichte ein Schwergewicht bleiben. Aber es ist sehr wahrscheinlich, dass sich die Gewichte noch einmal neu verteilen, weil ich nicht jemand bin, der für alle Zeiten einen fixierten Standpunkt ausarbeitet. Ich funktioniere eher wie ein Schriftsteller, der sich einen Denker ausdenkt, dem immer wieder andere Gedanken zustoßen. Darum ist das Buch teilweise in der ersten Person Plural geschrieben: Der Philosoph ist bei mir eine Kunstfigur, die in der Werkstatt des Schriftstellers erfunden wird.

Wird dadurch nicht die Autorität des Philosophen untergraben?

Peter Sloterdijk: Ich fände es eher problematisch, wenn ein Philosoph sich mit dem Autor seiner Schriften verwechselt. Sobald Philosophen versuchen, Autoritäten zu werden, verwandeln sie sich in das, was sie im 20. Jahrhundert nur allzu gern gewesen sind, nämlich Weltanschauungsliteraten. Als Ideologen und Führer in der Krise geben sie schädliche Emissionen an die Gesellschaft ab und produzieren trügerische Gewissheiten, mit denen sich die Menschen naiv und oft auch gewalttätig identifiziert haben. Wenn es einen philosophischen Lernprozess der letzten Jahrhunderthälfte gegeben hat, dann am ehesten wohl den, dass man mit dieser Art von Weltanschauungsemission nach Möglichkeit Schluss machen sollte.

Sie verwenden für Ihre Theorie besonders weiche Begriffe wie Blasen und Schäume. Machen Sie es Ihren Kritikern damit nicht allzu leicht?

Peter Sloterdijk: Kritiker wollen es gern leicht haben, ein netter Autor respektiert das. Unglücklicherweise gelingt es mir nicht immer, nett zu sein, daher verbinde ich mit der Wahl der Begriffe manchmal einen Charaktertest für den Leser. Wenn beispielsweise von Schäumen die Rede ist, liegt die Wortassoziation "Schaumschlägerei" doch schrecklich nahe. Ich beobachte die Rezensenten, ob sie der Versuchung durch die billigste Ideenmechanik widerstehen können. Gute Leser begreifen, dass es darauf ankommt, die Bilder wie Begriffe arbeiten zu lassen.

Theorie der Haushaltsvielfalt

Soziologen operierten zuletzt eher mit dem Begriff des Netzwerks, um die zeitgenössischen Gesellschaften zu beschreiben. Können Sie damit nichts anfangen?

Peter Sloterdijk: Sehr viel sogar. Ich zitiere zum Beispiel Bruno Latour, der den Vorschlag gemacht hat, den Begriff der Gesellschaft abzulösen durch den Begriff der Agentennetzwerke. Dieser Ausdruck steht für eine postsoziologische Reflexionsform, die große Vorteile bietet. Sie erlaubt, die einzelnen Knotenpunkte im Netz in ihrer relativen Autonomie gegenüber dem übrigen Netz viel besser zu respektieren, als wenn man mit einem von oben gesetzten Gesellschaftsbegriff beginnt.

Warum verwenden Sie dann aber doch die Schaum-Metaphorik?

Peter Sloterdijk: Ich möchte damit den anorektischen Charakter der Netzmetaphorik korrigieren. Wenn man von Netzen spricht, bedient man sich einer stark reduktiven Geometrie, also bloß ein- oder zweidimensionaler Formen. Mit dem Ausdruck "Schaum" bringt man dagegen von vorneherein dreidimensionale Gebilde ins Spiel. Während im Netzwerkmodell die einzelnen Punkte kein Volumen besitzen und daher nicht leben, öffnet das Bild vom Schaum den Ausblick auf eine Theorie der Haushaltsvielfalt. Ein Haushalt ist eine Erfolgsgestalt von Leben. Was ich suche, ist eine Theorie des Menschen als Wohnwesen und eine Theorie der Agglomeration solcher Wesen in ihren diversen Wohn- und Versammlungsformen.

Wie schätzen Sie selbst den Wert Ihres Buches ein?

Peter Sloterdijk: Es taugt etwas auf einer Skala, die es noch nicht gibt. Weil das Buch in seiner Art neu ist, lässt sich über seinen Wert nicht befinden. Es müsste schon kanonisch sein, um etwas wert zu sein, doch wenn es kanonisch wäre, hätte es keine innovative Kraft. Man kann nicht Wert und Neuheit gleichzeitig haben. Das manifestiert sich in der Entwertungsdynamik, die neue Ansätze umgibt. Sobald die Besitzer von älteren Theorieaktien merken, dass ein neuer Wert den Börsengang gewagt hat, stehen sie vor der Frage: Kaufen oder nicht kaufen? Wer bei den älteren Werten bleiben will, schätzt die neuen herunter.

Welches Zielpublikum visieren Sie mit Ihrer Theorie an?

Peter Sloterdijk: Das Sphärenprojekt wendet sich an Angehörige von Berufen, die aus ihrem eigenen Betrieb heraus Grundlagenreflexion entwickeln. Ich denke da vor allem an Architekten, Klimatologen, Soziologen oder Makrohistoriker, Anthropologen, Ärzte, Lehrer und Theologen. Meine Zuneigung gehört aber nicht so sehr den Berufsmenschen, sondern den freien Lesern, die man früher als Dilettanten bezeichnet hätte. Aufs Ganze gesehen wende ich mich an einen Kreis von Personen, die sich mit therapeutischen Fragen im allerweitesten Sinn befassen, denn in der Sache geht es in meinem Buch darum, metaphysische Probleme in immunologische Fragen umzuformulieren.

Aus meiner Sicht ist Philosophie heute nur noch als allgemeine Immunologie sinnvoll - diese will wissen, wie in der Endlichkeit Lebenserfolge gesichert werden können. Daher sind die Sphären insgesamt ein Buch für Leute, die mit Hilfe von Denken in Form kommen möchten.

Und wie wird die akademische Philosophie darauf reagieren?

Peter Sloterdijk: Ein Buch, das so heterodox ansetzt, ist vermutlich außerhalb der Reichweite von formierten philosophischen Standpunkten. Der klassische Philosophieprofessor ist in der Regel jemand, der mit seinem Bildungsprozess am Ende ist.

Steht es wirklich so schlecht um die klassische Philosophie?

Peter Sloterdijk: Philosophen sind zumeist Opfer falscher Spezialisierungen. Der zeitgenössische Philosophieprofessor lebt in der Versuchung, sich in seine Spezialdisziplin zu vergraben - und das heißt meistens, dass er die Verwandlung von Philosophie in Denksport weitertreibt. In den USA ist diese Metamorphose ins Unattraktive so gut wie vollständig vollzogen, mit Ausnahme von großen Einzelfiguren wie Richard Rorty.

Kristallpalast statt Empire

Wären Sie damit einverstanden, Ihre "Sphärologie" in die Nähe von "1000 Plateaus" von Deleuze und Guattari bzw. "Empire" von Hardt und Negri zu stellen?

Peter Sloterdijk: Diese Bücher ergäben einen schönen Abschnitt im Regal. Tatsächlich gehört mein Buch am ehesten in dieses Verwandtschaftssystem. Auf seine Weise ist es ja auch eine Theorie der geldverflüssigten Welt, darin steht es "Kapitalismus und Schizophrenie" von Deleuze und Guattari nahe. Im übrigen wird es zum Entsetzen meines Lektors, der mich angefleht hat, keinen vierten Band zu machen, einen aktuellen Anhang zu Sphären 3 geben, ein kleines Beiboot von 400 Seiten mit dem Titel "Im Weltinnenraum des Kapitals". Darin mache ich einen Gegenvorschlag zu Negri und Hardt.

Wie sieht der aus?

Peter Sloterdijk: Empire ist ein interessantes und radikales Buch, aber es baut auf einem irreführenden Begriff auf, weil die Rede von Empire genau den Unterschied verwischt, von dem die Autoren reden wollten. Wo die aktuelle Welt als Empire im Singular behandelt wird,verpasst man die Pointe, dass die aktuelle Kapital- und Komfortwelt eine hochgradig exklusive Struktur ist.

Ich nehme dagegen von Dostojewski das Bild des Kristallpalasts auf, mit dem er schon in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts die westliche Konsumwelt auf den Begriff gebracht hat. Man muss heute die "Aufzeichnungen aus dem Kellerloch" wiederlesen - das ist die Magna Charta der Globalisierungsgegnerschaft und des antimodernen Ressentiments. Man kommt von Dostojewskij sowohl zu Attac als auch zu den Islamisten. Der große Vorteil der Kristallpalastmetapher besteht darin, dass man schon am Namen das Entscheidende abliest: Hier hat man es mit einem Gebäude zu tun, das eine enorme Innen-Außen-Differenz aufrichtet.

Bei dem Ausdruck Empire geht dieser Akzent verloren, weil er suggeriert, alles sei bereits vom System erfasst. Das ist völlig falsch, die effektive Kapitalzone ist ein großer, aber streng exklusiver Raum - ich spreche frei nach Rilke vom Weltinnenraum des Kapitals. Wenn man genau hinsieht, erkennt man, dass Negri einen gnostischen Begriff von Systemgegnerschaft benutzt - er pflegt eine Mystik des Dagegenseins, die das Ganze als Gegner braucht -, so wie einst der Christ die Welt als Folie für Weltflucht brauchte. Ich lese das wie eine Totenmesse für den Linksradikalismus.

ie selbst verwenden in Ihrem Buch Begriffe wie "Wohlstandsblase" oder "Verwöhnungsgruppen". Ist das angesichts steigender Arbeitslosigkeit und gekürzter Sozialleistungen angebracht?

Peter Sloterdijk: Gute Theorie erkennt man daran, dass sie nicht lamentiert. Die Krise der Gegenwart erlaubt, unsere Wohlstandblase etwas mehr von außen zu sehen. Seit sich die Exklusionsdynamik intern etwas verschärft, werden auch die Inklusionen für die Theorie auffälliger.

Die Verwöhnungstheorie von Sphären 3 ist exakt datiert, sie reagiert auf die Krise des Therapie- und Bemutterungsstaats. In der aktuellen Wohlstandsdämmerung werden die Differenzen zwischen den Verwöhnungsklassen in der Population spürbar. Ich liefere also eine Krisentheorie - aber diese arbeitet nicht, wie der klassische Marxismus, eine Verelendungstendenz heraus. Sie nutzt eine Verwöhnungspause, um eine allgemeine Theorie des Humanluxus und der konstitutiven Verwöhnung zu entwickeln.

Ethik der Großzügigkeit

Wie weit wird es mit der Wohlstandsdämmerung noch kommen?

Peter Sloterdijk: Ich glaube nicht, dass es bei uns zu einem Rückbau des Sozialstaats nach US-amerikanischem Muster kommen wird. Dazu sind die Stellungen der Sozialdemokratie in Europa zu fest ausgebaut, zumindest auf dem Kontinent. Mit Sozialdemokratie meine ich allerdings weniger die gleichnamige Partei als die Struktur der Wohlfahrtspolitik überhaupt.

Wie ist das zu verstehen?

Peter Sloterdijk: Ich bin davon überzeugt, dass es keine nicht-sozialdemokratischen Parteien in kontinentaleuropäischen Parlamenten geben kann. Die CSU in ihrer bayerischen Ausprägung beispielsweise ist viel sozialdemokratischer als die Schröder-SPD auf Bundesebene.

Sozialdemokratie bezeichnet die Einsicht in die Dynamik der massenkaufkraftgetriebenen Wirtschaft - und diese liegt jeder Art von moderner Parteiendemokratie zugrunde. Seit dem Boom der 80er Jahre wissen die meisten auch, dass es ohne eine gewisse Massenfrivolität kein Wirtschaftswachstum geben kann. Daher haben sich die neueren Politiker allesamt auf die systemgemäße Kombination von Sekurität und Leichtsinn eingependelt.

Massenverarmung wäre schlechterdings nicht vermittelbar, vor allem nicht unter dem Gesichtspunkt der Kapitalinteressen, die man in systemkritischen Milieus noch immer absurderweise häufig mit konservativen Interessen identifiziert. Wie aber Karl Marx gezeigt hat, ist das Kapital die revolutionärste und anarchischste Agentur der modernen Gesellschaft. Das aktuelle Problem besteht eher darin, dass sich die Öffentlichkeit daran gewöhnt, ein unteres Segment aus der Gesamtversorgungsleistung des Staats auszunehmen...

...im Sinne einer Zweidrittelgesellschaft?

Peter Sloterdijk: Zunächst eher einer Neunzehntelgesellschaft oder, wenn es schlimm kommt, einer Vierfünftelgesellschaft. Ich zitiere in diesem Zusammenhang subversive Literatur wie den Armutsbericht der Bundesrepublik Deutschland, aus dem ziemlich erstaunliche Daten hervorgehen: Betrachtet man Armut als dynamisches Phänomen, so zeigen sich nur 1,7 Prozent der Population im Gesamtuntersuchungszeitraum als dauernd arm.

Was soll man mit diesem unteren Segment tun?

Peter Sloterdijk: Die traditionelle Linke hätte behauptet, dass unsere direkte Solidaritätsmoral ausreichen müsste, diejenigen mitzutragen, die vom systemischen Tropf abgehängt werden. Heute hat auch links niemand den Nerv zu sagen, dass man auf Formen direkter Solidarität zurückgreifen müsse. Und eben dies ist falsch, weil ohne eine Regeneration der direkten Solidaritäten die soziale Kohärenz im ganzen illusorisch wird. In diesem Sinn ist das Sphärenprojekt auch ein Versuch, die totale Sklerose der linken Diskurse zu therapieren.

Ist Ihre Sphärologie also ein linkes Projekt?

Peter Sloterdijk: In großen Teilen gewiss. Es wäre kurzschlüssig, meine Grenzüberschreitungen zwischen verschiedenen Disziplinen und Traditionen als Indikator für rechte Sympathien zu lesen. Das Sphärenprojekt untersucht, woher die Quellen der wirklichen Solidarisierung fließen. Ich möchte mit Hilfe der Atmosphärenanalyse eine Sprache der Teilhabe formulieren, die von der Linken zu unrecht den Traditionalisten oder den Rechten überlassen worden sind. Man wird auch auf der linken Seite die Ethik der Großzügigkeit lernen müssen.

Das Miteinander-Zusammenhängen-Können von Menschen, die nicht direkt Nachbarn sind, ist jedenfalls völlig neu zu beschreiben. Mit den ausgelaugten Vokabeln des Klassenkampfes, die seit 100 Jahren nicht mehr stimmen, lässt sich das unmöglich erreichen.

Vom Erwachen Europas

Das Zusammenhängen mit Fremden ist eine Frage, die sich auch im neuen Europa der 25 stellt. Vor zehn Jahren haben Sie ein Buch mit dem Titel "Falls Europa erwacht" veröffentlicht, aus dem erst kürzlich der österreichische Bundeskanzler zitierte. Ist Europa in der Zwischenzeit munter geworden?

Peter Sloterdijk: Ich weiß gar nicht, ob soziale Systeme schlafen können und ob Nationen aufwachfähige Kollektive sind. Aber es ist eine Tatsache, dass die Europäer nach dem Debakel von 1945 einer Lethargokratie zum Opfer gefallen sind. Durch all den hektischen Betrieb hindurch war fast überall die Lähmung an der Macht. Notwendig wäre jetzt, dass die Europäer von ihren Leistungen positivere Begriffe entwickeln. Sie sollten künftig von ihrem postheroischen und postimperialen Lebens- und Politikstil selbstbewusster reden. Es gibt Indizien dafür, dass eine neue europäische Selbstaffirmation einsetzt, die solchen Tendenzen Ausdruck gibt - in diesem Sinn kann man vielleicht von Erwachen sprechen.

Hat dieses mögliche Erwachen auch mit den aktuellen Alpträumen der USA im Irak zu tun?

Peter Sloterdijk: Gewiss. Die Bush-Ära hat jetzt schon eine irreversible historische Konsequenz. Unter ihr ist das Atlantische Bündnis der Ära des Kalten Kriegs endgültig zerfallen. Der Atlantik wird wieder als Grenzgewässer wahrgenommen und nicht mehr als das neue Mittelmeer. Europa hat zum ersten Mal seit langem wieder eine echte Westgrenze.

Und wie steht es - Stichwort EU-Erweiterung - mit der Grenze nach dem Osten hin?

Peter Sloterdijk: Ich denke allen Ernstes, dass mit der EU-Erweiterung am 2. Mai die Nachkriegszeit zu Ende gegangen ist. Der August 1914 und der Mai 2004 sind Eckdaten einer zusammenhängenden Geschichte. Europa füllt jetzt seine historisch gewachsenen Grenzen wieder aus. Es hat sein territoriales Optimum erreicht - weitere Ausdehnung wäre vermutlich fatal. Was vor uns liegt, sind mehrere Jahrzehnte konsequenter Transferleistungen zugunsten der neuen EU-Staaten. Das wird Spannungen bringen, natürlich, aber solche von sehr sinnvoller Art. Dass derartige Injektionen funktionieren können, hat man angesichts des spanischen oder irischen Wirtschaftswunders gesehen. Ob dasselbe mit 40 Millionen Polen und ihrer sehr zurückgebliebenen Volkswirtschaft auch gelingen wird, weiß niemand.

Wie sieht es mit einem EU-Beitritt der Türkei aus?

Peter Sloterdijk: Angesichts der eigensinnigen Aufholdynamik der neuen EU-Staaten beantwortet sich diese Frage von selbst. Im Brüssel der 25 wird man nie die nötige Einstimmigkeit in dieser Angelegenheit erzielen: Warum sollten die Polen, die Ungarn, die Tschechen, die Litauer eine hungrige und labile Türkei in die EU aufnehmen wollen, solange sie selbst jeden umverteilbaren Euro nötig haben? Aber selbst wenn die Türkei beitreten dürfte - was so gut wie ausgeschlossen ist -, würde sie als Mitglied zweiter Klasse dastehen, weil sie auf sehr lange Zeit nicht in den Genuss der Brüsseler Förderungen kommen könnte.

Was passiert, wenn der Integrationsprozess scheitert?

Peter Sloterdijk: Dann bekommen wir in ganz Europa lautstarke Benachteiligtenbewegungen nach Kärntner Modell: aggressive Regionalismen mit anti-europäischer Stoßrichtung. Wir haben an der ehemaligen DDR gesehen, wie sich sehr bald nach der Vereinigung eine ziemlich unappetitliche neonationalistische Szene artikulierte. Es ist zu erwarten, dass Ähnliches auch in den neuen Beitrittsländern passieren wird, sobald dort die Sortierung in Sieger und Verlierer vollzogen ist. Wahrscheinlich wird man in fünf Jahren europaweit permanent über diese wütenden Provinzler reden und sich nach den Tagen zurücksehnen, als man einen schneidigen Volksschauspieler wie Jörg Haider unheimlich fand.