Hänsel und Gretel bei den Inkas

Erst gemästet, dann geopfert

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Eine Untersuchung der Haare von Mumien aus der Inkazeit ergab, dass Kinder ein Jahr vor ihrer rituellen Tötung deutlich besser ernährt wurden als vorher.

Das Team unter der Leitung von Dr. Andrew Wilson von der University of Bradford analysierte Haare von in den Anden gefundenen Eismumien. Die Ergebnisse erschienen letzte Woche in der Zeitschrift Proceedings of the National Academy of Sciences of the USA.

Eine der Mumien war die Leiche der mit fünfzehn Jahren verstorbenen "Doncella". Die etwa 500 Jahre alte Mumie wurde 1999 nahe dem Gipfel des Llullaillaco gefunden, einem 6.739 Meter hohen Vulkan im Grenzgebiet von Argentinien und Chile. Da sie nicht präpariert, sondern durch die Kälte und die trockene Luft mumifiziert wurden, waren die Leichen ausgesprochen gut erhalten. "Doncella" wird derzeit im argentinischen Salta ausgestellt.

Anders als Kollagen aus Knochen, dessen Untersuchung nur Durchschnittswerte liefert, lassen sich aus Haarproben Informationen zu verschiedenen Zeiträumen im Leben eines Menschen gewinnen. Grund dafür ist, dass Haare ständig und relativ schnell wachsen. Ein bestimmter Abschnitt eines Haares ist in dieser Hinsicht ein "Schnappschuss" aus dem Leben.

Der Llullaillaco

Durch die Analyse von stabilen Kohlenstoff- Wasserstoff- Stickstoff- und Sauerstoffisotopen fanden Wilson und sein Team heraus, dass sich die Kinder über einen sehr langen Zeitraum vorwiegend von Kartoffeln ernährten. Zwölf Monate vor dem Tod änderte sich die Ernährung plötzlich: Sie enthielt nun beträchtliche Anteile von Mais – der im Inkareich als Delikatesse galt – und Lamafleisch. Weil die Zusammensetzung der stabilen Isotope unter anderem von der Lebensumgebung abhängt, ließ sich auch ermitteln, dass die Kinder drei bis vier Monate vor ihrem Tod auf eine Reise antraten. In Frage kommt dabei eine Anreise aus Cuzco, der Hauptstadt des Inkareiches.

Zwar berichteten schon Übersetzer wie Felipe Guaman Poma de Ayala und Missionare wie Bernabé Cobo über "capacocha", allerdings gab es lange Zeit keine archäologischen Befunde, die solche Schilderungen ritueller Kindstötungen bestätigten. Weil dies ein Topos ist, der Feinden seit biblischen Zeiten gerne angehängt wird, um sie zu diskreditieren oder Eroberungen zu rechtfertigen, betrachteten viele Wissenschaftler die Existenz von Kinderopfern im Inkareich bis 1954 eher mit Skepsis.

Dann wurde auf dem Gipfel des El Plomo der mumifizierte Leichnam eines siebenjährigen Jungen gefunden. Der Fundort, das Lebensalter und die bei ihm gefundenen Gegenstände - darunter Gold- und Silberfiguren - deuteten auf einen Fall von "capachoa" hin. Allerdings schien der Junge erfroren zu sein. In den Schriften war dagegen davon die Rede, dass die Kinder vor der Tat teilweise betrunken gemacht und dann mit einer Schnur erwürgt oder durch einen Schlag auf den Kopf getötet worden seien.

1985 wurde auf dem Aconagua dann die Mumie eines Jungen entdeckt, bei dem ein Tod durch Ersticken zumindest denkbar war: Verursacht worden sein könnte dies durch seine Kleidung, die so eng geschnürt war, dass sie zu Rippenbrüchen führte. Zehn Jahre später fand der Archäologe Johan Reinhard auf dem Ampato die mumifizierte Leiche eines Mädchens aus der Inkazeit, die durch einen Schlag auf den Kopf starb.