Haifischbecken Internet: Wir Kinderfresser

Seite 2: Virtuelle Intimitäten

Häufig werden Spielräume im Netz zum Ausgangspunkt für Manipulation, wobei Vertrauen schmählich ausgenutzt wird. Ein zwölf Jahre alter Junge tappt beim Spielen von Fortnite in die Falle. Er wird während des Spiels von einem vermeintlich Gleichaltrigen angeschrieben; der Austausch wechselt nach einer Weile zum Messenger Snapchat. Der Unbekannte pocht auf eine "Mutprobe", bei der der Zwölfjährige Bilder von seinem Penis "im normalen und im erigierten Zustand" machen soll.

Der Gefragte schickt sie dem "neuen Freund", später sogar noch ein Video, auf dem er masturbiert. Zu seinem Schrecken landen die Bilder, das Masturbations-Video und ein Trommelfeuer erniedrigender Kommentare ("Schwule Nulpe", "Simons ekliges Coming-out") umgehend in einer WhatsApp-Gruppe mit "unzählige(n) Nummern", darunter Mitschülerinnen und Mitschüler.

Schulleitung und Polizei werden nach einigem Gekaspere eingeschaltet, der eigentliche Täter kann nicht dingfest gemacht werden. Mitmacher der WhatsApp-Gruppe, die sich durch Kommentare am Spießrutenlauf beteiligt haben, werden im konkreten Fall "schulisch sanktioniert", was immer das heißen mag. Der Geschädigte, um eine Erfahrung reicher, musste in psychologische Behandlung und wechselte am Ende die Schule. Er war "bis dato ein völlig normales Kind (…), integriert in die Klasse und im Sportverein".

Das sind nur zwei Beispiele von vielen aus dem "großen Haifischbecken". Das Netz übt eine bedenkliche Faszination auf die Gemüter Heranwachsender aus, und es macht Nicht-Mitspieler zu Außenseitern, Losern und Verdächtigen. Dabei kennt es weder Ländergrenzen noch Grenzen des geltenden Rechts, worauf Müller in ihrem Buch hinweist, die auch diese einfache Feststellung trifft:

Es ist nicht das Netz, das grausam ist. Es sind wir Menschen.


Silke Müller

Nur ein Klick zur Folterszene

Gefakte Instagram-Profile, "Tasteless Videos" mit anstößigen Inhalten, hämische Kommentare (O-Ton: "Du billige Bitch, wärst du doch nur schon im Bauch deiner Mutter verreckt"), notorisch wiederkehrende Hitler-Memes (gerne Bilder mit darübergelegtem Text), dutzend-, hundert-, tausendfach gelikte Trends und Challenges appellieren an den Nachahmungstrieb junger Leute und animieren Kinder zu unglaublichen Aktionen.

Die Grenzen zwischen harmlos, lustig, geschmacklos, grausam, eklig und menschenverachtend sind fließend; die Überfülle kompromittierender Szenen und Dialoge überfordert die kindliche Selbsteinschätzung, torpediert die psychischen, emotionalen und sozialen Kompetenzen der Heranwachsenden, stürzt normale Kinder in ein seelisches Chaos.

Dabei scheinen der Verrohung keine Grenzen gesetzt. Im Interview mit DAS! (NDR) schildert Müller Anfang Mai, wie gerade ein widerwärtiges Video die Runde macht, nämlich wie eine Babykatze in einen Mixer geworfen und zerstückelt wird. Schnell wird der Clip geteilt; erste Screenshots landen bei Twitter, weiter geht’s bei TikTok. Außer vom Video selber zeigt sich Müller vom Grad der Abstumpfung geschockt, den viele Kids ihrem Eindruck nach beim Ansehen solcher Inhalte an den Tag legen.

Szenenwechsel: Kids sitzen im Bus auf der Fahrt zur Schule. Durch den Bus geht ein blutrünstiges Video von der Kastration eines Mannes, über drei Minuten lang. Per Filesharing (Bluetooth/AirDrop) wird die Datei in Sekundenschnelle unter den Geräten übertragen, die Folterszene landet in Windeseile in den Geräte-Galerien und spielt sich auf Knopfdruck ab. "XY möchte dir ein Foto schicken", das reicht auf dem Display, um die Neugier zu wecken.

Man sieht den Korpus eines Mannes und die Arbeit des Skalpells. Die Kinder aus dem Schulbus klopfen morgens um 8:00 bei der Lehrerin an und fragen rücksichtsvoll: Frau Müller, haben Sie schon gefrühstückt? Vom Grauen gefesselt.

Geschäftsmodell Menschenverachtung

Für die Online-Imperien zählt das Gesetz der Aufmerksamkeitsökonomie; dahinter verbirgt sich eine milliardenschwere Geldmaschine, für die das Heer der Social-Media-Profile eine nicht abreißende Einnahmequelle sind.

Elf Millionen Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene besuchten im Schuljahr 2021/22 allgemeinbildende und berufliche Schulen in Deutschland (Müller, 187). Vom Aufbau einer digitalen Ethik im Netz sieht Silke Müller das Land weit entfernt, Empathie, Toleranz, Rücksicht und Respekt im Schwundzustand. Das System Schule eine "Blase" - hoffnungslos veraltet und überfordert.

Letztendlich greifen die sozialen Netzwerke vor diesem Hintergrund weitgehend ungehindert nach den kindlichen Seelen, kommerzialisieren deren Beziehungen und ramponieren die meist noch ungerichtete Identitätssuche, in dem Fall besonders rücksichtslos, weil es sich um Kinder und Jugendliche handelt, deren Charaktere noch ungefestigt sind. Sozialisation und Charakterbildung finden im Netz statt, sagt Müller.

Die Eltern geben sich oft ahnungslos; hinter den Fassaden kindlicher Selbstinszenierung endet daher so manche kindliche "Netz-Karriere" nicht nur im Schockzustand, sondern - hoffentlich – auch mit dem allmählichen Erwachen der elterlichen Einsicht in Kalamitäten, die auch 2023 noch allzu gern verdrängt werden.

Das Netz kann auf bitterböse Weise real sein. Hier liegt auch eine überfällige Hausaufgabe für die Politik.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Buchempfehlung (Amazon Affiliates) geladen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Amazon Affiliates) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.