Harte Worte

In Israel hat die Winograd-Kommission erklärt, was während des Libanon-Krieges schief lief: Alles

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Was während des 34 Tage dauernden Libanon-Krieges aus israelischer Sicht falsch gemacht wurde, ist kurz gesagt: Alles. Jedenfalls kommt der in der vergangenen Woche vorgestellte Abschlussbericht der Winograd-Kommission zu diesem Ergebnis, die bereits im Frühjahr vergangenen Jahres in einem Zwischenbericht (siehe Olmerts Winograd) Premierminister Ehud Olmert, sowie dem damaligen Verteidigungsminister Amir Peretz und Generalstabschef Dan Halutz für ihre Handlungen vor und während des Krieges die Note „mangelhaft“ ausgestellt hatte. Halutz war bereits davor zurück getreten; Peretz folgte ihm nach der Veröffentlichung des Zwischenberichts nach; nur Olmert weigert sich auch heute noch beharrlich, seinen Hut zu nehmen, und kann dabei darauf bauen, dass diejenigen, die ihn dazu zwingen könnten, sich gar nicht so sicher sind, ob sie das wirklich wollen: Zwar ist es theoretisch möglich, dass eine Koalition den Regierungschef austauscht, ohne dass zuvor Neuwahlen abgehalten werden, aber in der Praxis hat das schon seit den 50er Jahren nicht mehr geklappt – stets wurden am Ende dann doch die Wähler an die Urnen gerufen. Und das ist das Letzte, das die Arbeiterpartei, Olmerts größter Koalitionspartner, im Moment gebrauchen kann – denn ein Sieg des rechts-konservativen Lager wäre ziemlich wahrscheinlich. Und damit auch das Aus für die Friedensverhandlungen mit der Palästinensischen Autonomiebehörde im Westjordanland.

Mängel und Versäumnisse

Es ist eine harte Lektüre (hier eine Zusammenfassung): Zehntausende von Wörtern, jedes einzelne sorgsam gewählt von honorigen älteren Damen und Herren, zusammen gefügt zu Sätzen ohne jeglichen Unterhaltungswert, gedruckt auf 500 Seiten, die man in Pillenform pressen müsste, um den Leser noch schläfriger zu machen.

Und dennoch bereitet der Winograd-Bericht Politikern, Anwälten und Journalisten in diesen Tagen schlaflose Nächte, denn die technokratischen Zeilen verraten Schockierendes, wenn man in Israel lebt, und darauf vertrauen muss, dass die Armee dafür sorgt, dass das Land auch morgen früh noch da ist, wo es heute ist, und auch wenn man in einem der Nachbarländer lebt, und darauf vertrauen muss, dass es, wenn es Krieg gibt, auch auf der anderen Seite Leute gibt, die dafür sorgen, dass es nicht den Falschen trifft: Das Vertrauen ist fehl am Platze; in den Libanon-Krieg im Sommer 2006 sind Israels Regierung und Militär gezogen, ohne auch nur die Spur eines Planes zu haben. Dies ist die saloppe Zusammenfassung des Untersuchungsberichtes, den die nach ihrem Vorsitzenden Elijahu Winograd benannte Untersuchungskommission Mitte der vergangenen Woche vorgestellt hat.

Der Kernpunkt: Nachdem Kämpfer der Hisbollah im Juli 2006 mehrere israelische Soldaten in den Süd-Libanon entführt hatte, habe Israels Sicherheitskabinett kurzfristig de Entscheidung gefällt, militärische Schritte gegen die Hisbollah einzuleiten. Dieser Beschluss habe der Armee nur noch zwei Optionen offen gelassen: Zum einen ein „kurzer, schmerzvoller Schlag“ gegen die paramilitärische Organisation; zum anderen eine groß angelegte Offensive, mit dem Ziel, die Realität im Süd-Libanon grundlegend zu verändern.

Es wäre erforderlich gewesen, umgehend eine Entscheidung für die eine oder die andere Möglichkeit zu fällen, und zudem ein klares Kriegsziel zu formulieren. Eine solche Entscheidung sei allerdings erst Wochen nach dem Beginn des Krieges gefällt worden. Verantwortlich dafür seien „Mängel“ in den Entscheidungsprozessen und „Versäumnisse“ in der Kommunikation zwischen Regierung, deren Mitarbeitern, der Militärführung und den Hierarchien innerhalb der Armee. Und: Regierung und Generalstab hätten Vertrauen in die Fähigkeit der Luftwaffe gesetzt, kriegsentscheidend zu sein, dass nicht angebracht gewesen sei.

Wichtige militärische Erfolge der ersten Tage seien durch die Wochen lang andauernde Unsicherheit über die Art und das Ziel der Militärkampagne zunichte gemacht worden. Am Ende habe der Krieg ohne klaren Sieg (siehe Krieg ohne Ende) geendet, wodurch die strategische Position Israels und damit die Sicherheit des Staates in Zukunft gefährdet worden seien.

Wer hat Schuld?

Diese Frage beantwortet der Bericht nicht. Es sei nicht die Aufgabe der Kommission gewesen, Verantwortlichkeiten zu klären, sondern herauszufinden, was schief gelaufen ist, auf dass Politik und Sicherheitsapparat es künftig besser machen können, sagen Kommissionsmitglieder und geben damit eine Ansicht wieder, die innerhalb des Untersuchungsausschusses heftig umstritten war: Ein ganze Reihe seiner Mitglieder hatte gefordert, der Bericht solle Ross und Reiter nennen. Am Ende obsiegte jedoch der Wunsch der Kommission, möglichst unparteiisch wirken zu wollen, um dem Bericht nicht die Legitimation zu nehmen.

Der Zwischenbericht, den der Ausschuss im Frühjahr vergangenen Jahres vorgelegt hatte, und die vielen Lecks aus den Anhörungen der Kommission zeichnen ohnehin ein deutliches Bild: Zwei Männer ohne nennenswerte militärische Erfahrung und strategische Kenntnisse, der eine davon Premierminister, der andere Verteidigungsminister, trafen auf Anraten des Generalstabschefs die Entscheidung zu einer Militäroffensive gegen die Hisbollah. Der Zwischenbericht kam zu dem Urteil, dass Halutz (siehe Drei Napoleone) wissend, dass weder Olmert noch Peretz wussten, was sie da tun, die beiden hätte umfassend beraten und auf die Vor- und Nachteile der beiden zur Verfügung stehenden Optionen hätte hinweisen müssen.

Zum anderen hätten Premier- und Verteidigunsminister sich Rat von Dritten holen müssen. Beides ist nicht passiert: Halutz, einst Kommandeur der Luftwaffe, einer Eliteeinheit mit übergroßem Selbstbewusstsein, bewarb ausschließlich die Fähigkeiten und Möglichkeiten von Luftschlägen, wohl wissend, dass dafür zunächst einmal die Ziele bekannt sein müssen, was nicht der Fall war, weil die israelische Geheimdiensttätigkeit im Süd-Libanon wegen eines Kompetenzstreites zwischen dem Inlands- und dem Auslandsgeheimdienst seit Jahren brach lag.

Dies führte wiederum zu Flächenbombardements im Libanon mit mehreren tausend Opfern, und auch zu einem Wochen langen Raketenbeschuss Nord-Israels. Sowohl der Schluss- als auch der Zwischenbericht klammern die Opfer auf beiden Seiten aus, weil, so Kommissionmitglieder, deren Erwähnung wiederum Angriffspotential geliefert hätte: „Uns war wichtig, dass der Bericht für den größten Teil des politischen Spektrums akzeptabel ist, um die Umsetzung der Kernaussage nicht zu gefährden: Die Entscheidungsprozesse der Regierung und die Struktur des Militärs müssen dringend reformiert werden.“

Und jetzt?

Ob Olmert im Amt bleiben wird, ist noch unklar. Er selbst weigert sich und nimmt die gleiche Haltung ein, wie nach der Veröffentlichung des Zwischenberichts: Ja, er habe Fehler gemacht, gesteht er ein; fordert, er möge doch bitte die Chance bekommen, alles wieder gut zu machen; verweist darauf, dass er ja in den vergangenen eineinhalb Jahren schon vieles unternommen habe, um sicher zu stellen, dass im nächsten Krieg alles besser läuft.

Doch letzten Endes liegt die Entscheidung über seinen Verbleib im Amt nicht mehr in seinen Händen – es sind der jetztige Verteidigungsminister Ehud Barak und die Sozialdemokraten, die er anführt, die darüber entscheiden, wie und wann Premierminister Ehud Olmert zum Privatmann Ehud Olmert wird. Sicher scheint: Es wird vor dem Ende seiner regulären Amtszeit geschehen.

Dass die Arbeiterpartei, Olmerts größter Koalitionspartner und Mehrheitsbeschaffer, ihn nicht bereits jetzt schon absägt, wie es ihr Vorsitzender nach seiner Amtseinführung für die Zeit nach dem Schlussbericht angekündigt hatte, hat einen einfachen Grund: Sie hat Angst vor Neuwahlen, denn in denen würde mit großer Wahrscheinlichkeit eine rechts-konservative Koalition um den Hardliner Benjamin Netanjahu vom Likud-Block an die Macht kommen; die Verhandlungen (siehe Anfang vom Ende oder Ende vom Anfang?) mit der Palästinensischen Autonomiebehörde im Westjordanland über ein Statusabkommen (siehe Die Welt zu Gast in Annapolis), die bis Ende des Jahres abgeschlossen sein sollen, wären dann wohl Makulatur: Die Rechte lehnt die dafür notwendigen Siedlungsräumungen und Zugeständnisse in der Jerusalem-Frage kategorisch ab.

Allerdings: Der Druck auf Barak, Olmerts Partei Kadima zumindest dazu zu drängen, den Regierungschef ohne Neuwahlen auszutauschen, ist auch innerhalb der Partei sehr stark; die Medien und ein Großteil der Öffentlichkeit fordern das ohnehin: Denn dort befasst man sich nicht vor allem mit der Frage, welche Einheit wann was falsch gemacht hat, sondern wer daran schuld war, dass mehr als eine Million Menschen Wochen lang in Hotels oder Bunkern leben mussten, während es zu Hause Raketen regnete – man will die Köpfe der Verantwortlichen rollen sehen, und aller derer, die sie stützen gleich mit. „Olmert sagt, er verdiene die Chance, seine Fehler zu beseitigen“, kommentierte das israelische Armeeradio am Donnerstag:

Aber er sagt uns nicht, warum wir ihm jetzt vertrauen sollten, dass er das auch kann, und warum es ausgerechnet er, und nicht jemand anders sein sollte.

Und so ist die Befürchtung innerhalb der Arbeiterpartei groß, dass die Wähler beim nächsten Urnengang, ganz gleich wann er kommt, jeden abwatschen werden, der in Zukunft im selben Raum wie Olmert gesehen wird.

Nur: In der Parlamentsfraktion sieht man die Dinge pragmatischer. Um den Regierungschef im laufenden Spiel auszutauschen, müssten sich zunächst einmal alle Koalitionspartner, immerhin vier Parteien, auf einen Ersatzkandidaten einigen. Außenministerin Zipp Livni, die im Bericht sogar indirekt gelobt wird, weil sie mit Resolution 1701 (vgl. Skepsis über die Umsetzbarkeit) einen wichtigen diplomatischen Sieg errang, käme dafür in Frage, ziert sich im Moment aber noch, weil Olmert immer noch einige, wenn auch nicht mehr arg viel Hausmacht in der Partei hat, und sie sich wohl nicht sicher ist, ob sie damit nicht das Image der Königsmörderin erwerben würde. Zudem würde ein Scheitern des parlamentarischen Prozesses zu Neuwahlen und wahrscheinlich zum Ende des israelisch-palästinensischen Friedensprozesses führen, der von einem Mitglied der israelischen Delegation als ihr „Steckenpferd“ bezeichnet wird.

Dass das Prozedere im Parlament scheitern würde, ist nicht unwahrscheinlich, denn es hat es in sich: Zunächst einmal müsste der Premierminister zurück treten, was er ja nicht möchte; alternativ müssten sich die Koalitionspartner zunächst auf einen Kandidaten einigen und dann einen Mistrauensantrag einreichen. Diesem müsste das Parlament dann mit einer Mehrheit von 61 der 120 Stimmen zustimmen. In Anbetracht der derzeitigen Gemütslage auch innerhalb der Koalition wäre dies zwar theoretisch möglich, wenn die Arbeiterpartei die Koalition verließe, und die Opposition nahezu geschlossen für den Antrag stimmen würde.

Verlierer

Dann müsste Präsident Schimon Peres den im Antrag genannten Abgeordneten innerhalb von 48 Stunden mit einer Regierungsneubildung beauftragen, der oder die dafür dann insgesamt 42 Tage Zeit hätte. Am Ende müssen dann wiederum 61 Abgeordnete für die Regierung stimmen. Sollte dies nicht der Fall sein, würden am letzten Dienstag vor dem Ablauf von 90 Tagen Neuwahlen abgehalten werden.

In der Praxis hat dies jedoch noch nie funktioniert: Zwar gelang es einmal, 1990, Premierminister Jitzhak Schamir vom Likud-Block, der damals in einer großen Koalition mit der Arbeiterpartei regierte, das Misstrauen auszusprechen, doch der Versuch von Schimon Peres, damals Vorsitzender der Sozialdemokraten, eine neue Regierung zu bilden, schlug fehl. Am Ende schaffte es dann Schamir mit einer rechten Regierung ohne Neuwahlen zurück an die Macht.

Heutzutage wären zwingend Neuwahlen das Ergebnis eines Scheiterns des im Antrag genannten Kandidaten, wobei es wahrscheinlicher ist, dass der Misstrauensantrag an und für sich fehl schlägt, weil sich die Opposition zwar darin einig ist, dass Olmert weg soll, aber Streit über das Wie droht: Die Linke möchte einen Pferdwechsel im Rennen; die Rechte will Neuwahlen, für die sich das Parlament auflösen müsste, wenn der Premierminister dies nicht tut.

Verlierer dieses Tauziehens, dass bereits mit der Gründung der Winograd-Kommission im Herbst 2006, der ein heftiger Streit zwischen Regierung und Parlament voraus gegangen war, ist nicht nur das politische Tagesgeschäft, in dem wichtige Entscheidungen zu Sozial- und Außenpolitik anstehen, und dass nun wahrscheinlich über Wochen ruhen wird, sondern auch und vor allem die Opfer und deren Angehörige auf beiden Seiten.

Im Libanon wird kritisiert, dass die Kriegstoten nur am Rande erwähnt werden, und in Israel hatten sich viele der Betroffenen erhofft, dass der Bericht einen Beitrag zur Trauerarbeit leisten würde: „Ich hatte die Arbeit der Kommission als Aufarbeitung betrachtet, und natürlich habe ich mir gewünscht, dass die Verantwortlichen die Konsequenzen ziehen,“ sagt Aharon Avital, der als Reservist am Krieg teilnahm - „die Erkenntnis, dass wir mit miserabler Ausrüstung in ein Abenteuer geschickt wurden, ohne dass jemand einen Plan hatte, hat mich schockiert. Meiner Ansicht nach darf man die Schuldigen jetzt nicht auch noch die Beseitigung ihrer eigenen Fehler überlassen.“

Enttäuschung, die er nicht alleine empfindet: „Viele von uns hatten sich gewünscht, dass der Bericht uns dabei helfen würde, unsere Wunden zu schließen“, sagt Jigal Feldman, dessen Sohn in einer Offensive in den letzten Kriegstagen fiel, die im Nichts endete, weil Resolution 1701 den Krieg beendete, bevor ihr Ziel erreicht war. Er habe den Bericht gelesen, sagt er, in einer einzigen Nacht:

Ich habe mich in den vergangenen Monaten oft gefragt, ob dies ein gerechter Krieg war, ob dies ein notwendiger Krieg war, und ich wollte Antworten. Was ich gelesen habe, hat mir die Tränen in die Augen getrieben: Diese vielen Geschichten von Versagen und verantwortungslosem Handel machen mich fertig. Ich kann nicht akzeptieren, dass der Verantwortliche nun auch noch aus politischen Gründen davon kommen soll Diese nüchternen, emotionslosen Worte über Ereignisse, die das Leben von vielen Menschen zerstört haben, waren für mich die härteste Lektüre meines Lebens.