Hat Carl Schmitt doch recht?

Seite 4: Entgrenzung durch Moralphilosophie: der Ω-Fall als Endziel der bedingungslosen Bombenethik

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Die handlungsethische Beliebigkeit der Kriegsethik wird dann zur bedingungslosen Bombenethik, wenn sich die Moralphilosophie eines weiteren Tricks bedient, nämlich den Bezug zum Ω-Fall. Der Bezug auf den Ω-Fall erlaubt es, dass auch die starke Zurechenbarkeit der Tötung von "Paul Maxwells" moralisch legitimiert werden kann.

Der Verweis auf den Ω-Fall steht für die äußerste Rechtfertigungsstrategie gewaltsamen Handelns. Der Ω-Fall ist der extremste moralische Notfall. Es handelt sich hierbei um konstruierte Entscheidungssituationen, denn Moralphilosophie oder Ethik funktionieren nicht zuletzt als Konstruktion von moralischen Notfällen und von Ausnahmebedingungen.

Lothar Fritze stellt die Frage, welche Bedingungen für moralisch erlaubtes Unrecht gegeben sein müssen. Sind also Ausnahmebedingungen denkbar, unter denen eine Verletzung des Verbots, Unschuldige zu töten, moralisch gerechtfertigt sein kann? Ethische Kompromissbildungen sind fester Bestandteil der menschlichen Moralpraxis, selbst Fundamentalnormen dürfen nach dieser Moralpraxis unter Ausnahmebedingungen verletzt werden (Fritze 2004: 2). Bezogen auf ihre denkbaren Konsequenzen ist die extremste Ausnahmebedingung der äußerste moralische Notfall. Dieser wurde von Meggle als Ω-Fall definiert:

Ω, das ist der absolute Ausnahmefall, die ultimative Katastrophe, die für uns so unvorstellbar schlimm ist, dass wir zu ihrer Verhinderung wirklich alles zu tun bereit wären, selbst dazu, alle - ja, wirklich alle - moralischen Restriktionen über Bord zu werfen.

Meggle 2010

Ω-Fälle stellen scheinbar universell geltende ethische Normen vor ihre schwierigsten Herausforderungen. Auf der praktischen Ebene hat sich Michael L. Gross anhand des palästinensischen Fallbeispiels mit der Frage des ethischen Ausnahmefalles auseinandergesetzt (Gross 2005). Als analytischen Anstoß verwendete er die Aussage von Mohamed Dahlan, Kommandeur der palästinensischen Sicherheitskräfte in Gaza im Jahr 2002, in der dieser den Terror gegen die israelische Zivilbevölkerung legitimierte.

Dahlan warnte Israel davor, dass Angriffe auf Zivilisten mit der gleichen Antwort beantwortet würden (Gross 2005: 556). Nach Gross zielt der palästinensische Terrorismus gegen die israelische Zivilbevölkerung darauf ab, die israelische Kriegsmoral zu brechen, um damit Druck auf die israelische Regierung auszuüben (ebd.: 557). Gross sieht den Ausnahmezustand in der asymmetrischen Situation zwischen Israel und Palästina. Die Palästinenser sind der israelischen Seite militärisch unterlegen und rechtfertigen den Einsatz von Terror gegen die israelische Zivilbevölkerung als Ω-Fall (ebd.).

Gleichzeitig übt Gross jedoch deutliche Kritik an der Denkfigur des Ausnahmefalles, da sie für die politische Praxis von Kriegsentscheidungen nur wenig brauchbar sei (ebd.: 573). Er bezieht sich in dieser Kritik in erster Linie auf die völkerrechtliche Praxis oder die völkerrechtliche Bewertung von Kriegshandlungen und Gewaltaktionen (ebd.: 574). Aus dem völkerrechtlich verankerten Verteidigungsrecht könne man, so Gross, nicht ohne weiteres auf den absoluten Ausnahmefall schließen, um damit im Sinne des Ω-Falles die Tötung von Zivilisten zu legitimieren (ebd.).

Doch auch Gross' Verweis auf das völkerrechtlich verankerte Verteidigungsrecht schafft keine moralische Klarheit. Denn wer ist Verteidiger und wer ist Angreifer? Warum kann sich Israel nicht auf das Recht auf Selbstverteidigung berufen?