Hat Carl Schmitt doch recht?

Ein streitbarer Abgesang auf das Völkerrecht

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"Pfeifen aufs Völkerrecht" — so kommentierte die taz (12.8.2013) die Siedlungsbaupolitik Israels. Israel wird regelmäßig zur Zielschiebe derer, die die Fahnen des Völkerrechts schwenken: Nicht nur die üblichen Verdächtigen wie Amnesty International, sondern auch die Europäische Union und die Vereinten Nationen gehören in den Kreis der Israelkritiker. Angesichts der jüngsten Gewaltanschläge durch jüdische Siedler hat sich auch die deutsche Bundesregierung als "besorgt" geäußert. Nicht nur die Siedlungspolitik wird kritisiert, sondern vor allem das militärische Vorgehen Israels gegen die Palästinenser wird heftig kritisiert: Israel wird der Bruch des Völkerrechts vorgeworfen und UN-Resolutionen verfasst, die Israel kritisieren und ermahnen.

Dieser Beitrag versucht, grundsätzlicher über das Völkerrecht und seine hehren ethischen Prinzipien nachzudenken. Ich möchte die Grundlagen der ethischen Völkerrechtsprinzipien hinterfragen. Dies führt letztlich zu einem Abgesang des Völkerrechts und es wird die kritische Frage formuliert: Hat also Carl Schmitt, der wohl prominenteste Kritiker des Völkerrechts, doch recht?

Wir haben uns daran gewöhnt, soziale Phänomene mit Ordnungsvorstellungen zu verbinden. Wir suchen nach Akteuren, Systemen, Strukturen, Institutionen und Ideen. Wir haben uns Vorstellungen ausgedacht, die eingebettet sind, die einen Kontext haben und in einem abgesteckten Rahmen funktionieren. Die Suche der Sozialwissenschaftler war die Suche nach der (guten) Ordnung und nach Gesetzen, um Gesellschaften erklären und Vorhersagen treffen zu können.

Dies gilt auch für Phänomene wie Gewalt und Krieg. Vor allem bei diesen beiden Phänomenen, die Gesellschaften existenziell bedrohenden, wurde die Suche nach Rationalität und Ordnung stets intensiviert. Bei diesen Phänomenen schien die Antwort regelmäßig in der Bereichsethik innerhalb des Fachbereichs Praktische Ethik gefunden zu sein, d.h. durch die Formulierung von ethischen Kriterien zur Regulierung des Krieges. Das prominenteste Beispiel ist die Lehre des "Gerechten Krieges", dessen ethische Kriterien auch in das Völkerrecht Einzug gefunden haben.

Dieser Debattenbeitrag beschäftigt sich vor allem mit dem ius-in-bello-Bestandteil des "Gerechten Krieges", der die Art und Weise der legitimen Kriegführung regeln möchte. Das zentrale ius-in-bello-Kriterium ist die strikte Unterscheidung zwischen legitimen und illegitimen Angriffszielen, zwischen Kombattanten und Nicht-Kombattanten.

Der Gerechte Krieg und die Rechtfertigung der Gewalt

Dabei nimmt der Debattenbeitrag eine streitbare Position als Ausgangslage: Die ethischen Kriterien des "Gerechten Krieges" stehen auch nicht-staatlichen Gewaltakteuren als Instrumentarium der Gewaltrechtfertigung zu Verfügung. Das bedeutet, dass Organisationen wie die "Irish Republican Army" (IRA) oder der "African National Congress" (ANC) sich auf ethische Selbstbeschränkungen des eigenen Gewalthandelns im Sinne des "Gerechten Krieges" berufen. Ihre Gewaltkampagnen richten sich gegen die Legalität der Staaten, die sie mit Gewalt bekämpfen. Nicht-staatliche Akteure betten ihre Gewalthandlungen in eine Strategie der legitimitätssuchenden Selbstverständigung ein (Baumann 2013). Damit ist eine Rechtfertigungsstrategie gemeint, die darauf abzielt, moralische Legitimität für das eigene Gewalthandeln zu erreichen.

Die denkbarbare Übertragbarkeit des "Gerechten Krieges" auf die Gewaltrechtfertigungen von nicht-staatlichen Akteuren wurde von Michael Walzer herausgearbeitet. Nach Walzer können sich auch nicht-staatliche Akteure in der Gewaltausübung auf den "Gerechten Krieg" beziehen. Walzer illustriert die Relevanz des "Gerechten Krieges" am Beispiel eines IRA-Bombenanschlages in Coventry. Der Bombenanschlag scheiterte, da die Bombe zu früh explodiert war und dadurch fünf unschuldige Zivilsten ums Leben kamen. Dadurch war die ethische Selbstbegrenzung des Gewalthandelns nicht mehr gegeben und daher in der katholischen Gemeinschaft auch nicht länger mehr kommunizierbar. Die Gewaltaktion war moralisch nicht zu rechtfertigen:

No one in the IRA (as it was then) thought this a victory for the cause; the men immediately involved were horrified. The campaign had been carefully planned, according to a recent historian, so as to avoid the killing of innocent bystanders.

Walzer [1977] 2000: 199

Walzer beschreibt anhand zahlreicher Beispiele, wie sich die ethischen Rechtfertigungsstrategien unterschiedlicher nichtstaatlicher Kriegsakteure ähneln. Allen gemeinsam ist die ethische Unterscheidung zwischen Kombattanten und Nicht-Kombattanten. Diese ethische Unterscheidung ist das wichtigste ethische und moralische Kriterium.

Die zentrale These des vorliegenden Beitrages lautet: Die ius-in-bello-Kategorie des "Gerechten Krieg" ist sehr flexibel und dadurch offen für breite Interpretationen. Es sind die moralphilosophischen Überlegungen und Logiken, die diese Flexibilität ausnutzen zu wissen und zum entscheidenden ethischen Türöffner werden, sodass letztlich auch die Tötung Unschuldiger moralisch legitimiert werden kann. Die moralphilosophische Herangehensweise zerstört damit auch alle Ordnungshoffnungen. Der Verweis auf ethische Rechtfertigungskriterien führt nicht zur effektiven Reglementierung von Gewalt sondern zur Entgrenzung.

Auf den Punkt gebracht, bedeutet diese These: "Carl Schmitt hat doch recht." Carl Schmitt ist der prominenteste Kritiker des "Gerechten Krieges" und auch des Völkerrechtes. Schmitts ungeschminkte Kritik führt uns vor Augen, wie relational, relativ und damit offen für viele Interpretationsmöglichkeiten die Kriterien des "Gerechten Krieges" sind:

Es gibt, wie wir hörten, wenig ganz gerechte Kriege. Wie steht es nun mit dem teilweise gerechten Krieg? Wer soll alle diese endlosen und verwickelten Tatfragen und Schuldfragen beantworten, noch dazu bei Koalitionskriegen und in einem Zeitalter der geheimen Kabinettspolitik? Wie soll sich ein gewissenhafter Beurteiler, der nicht zufällig der Beichtvater aller wichtigen Mitspieler ist, über die Staatsgeheimnisse und Arcana beider kriegführenden Seiten unterrichten, Arcana, ohne die es noch niemals eine große Politik gegeben hat?

Schmitt 1950: 127

In diesem Beitrag werden vor allem die IRA und die Hamas als Fallbeispiele analysiert. Beide Organisationen bieten Tötungslogiken an, die auf die Strategie der legitimitätssuchenden Selbstverständigung bezogen sind (Baumann 2013). Die zentrale Erkenntnis des Beitrages besteht darin, dass moralphilosophische Analysen von Gewalt und deren Legitimität nicht zum "Gewaltbegrenzer" wird, indem etwa moralische Maßstäbe die Gewaltausübung einschränken, sondern - im krassen Gegenteil - liefern moralphilosophische Analysen gerade die Bedingungen für die Entgrenzung des Gewalthandelns. Deshalb endet dieser Beitrag auch in einem Abgesang auf das Völkerrecht, da das Völkerrecht seine Eigenschaft als effektiver Gewaltbegrenzer nicht erfüllen kann.

Bombenkinder: Paul Maxwell und der Hamaskindergarten

Eines der aussagekräftigsten Beispiele zur Analyse der IRA-Tötungslogik ist der tödliche Anschlag auf Lord Mountbatten und dessen Begleitumstände. Am 27. August 1979 wurde der 79-jährige Lord Mountbatten durch eine IRA-Bombe auf seinem Boot getötet. Mountbatten war ein Cousin der britischen Königin und der letzte Governor-General von Indien. Dies machte ihn zu einem legitimen Ziel für die IRA, da die königliche Familie im Sinne der legitimitätssuchenden Selbstverständigung eine Institution des verfeindeten britischen Staates darstellte.

Es sind vor allem zwei Begleitumstände, die den Anschlag auf Mountbatten zum idealen Beispiel für die Analyse dieses Beitrages machen. Erstens kamen zusammen mit Mountbatten seine Begleiterin Doreen Knatchbull (Baroness Brabourne), sein 14-jähriger Enkel Nicholas Knatchbull und der 15-jährige Bootsjunge Paul Maxwell ums Leben.

Der getötete 15-jährige Bootsjunge Paul Maxwell ist das Bombenkind der IRA. Seine Tötung ist der wichtigste Begleitumstand des Mountbatten-Beispiels, denn seine Tötung wirft ein schlechtes Licht auf die ius-in-bello-Dimension als IRA-Rechtfertigungselement. Während Mountbatten in der Tötungslogik der IRA zum legitimen Angriffsziel wurde, war dies bei dem Bootsjungen Paul Maxwell keineswegs der Fall. Dessen Tod konnte die IRA nicht rechtfertigen, da der Bootsjunge nicht zur feindlichen Institution "königliche Familie" gehörte. Nach der ethischen Bombenlogik der IRA darf es keine "Paul Maxwells" geben.

Einer der wenigen Unterschiede zur Hamas besteht darin, dass die IRA keinen eigenen Kindergarten hat, obwohl in der nordirischen Stadt Newry ein Kinderspielplatz nach dem ehemaligen IRA-Mitglied Raymond McCreesh benannt wurde. Im Jahr 2007 wurde ein Online-Video verbreitet, das im "Al-Aqsa TV" ausgestrahlt worden war. Es trug den Titel "Hamas Kindergarten Graduation Ceremony". In diesem Video werden Kleinkinder gezeigt, die Hamas-Uniformen und Maschinengewehre tragen. Einige tragen sogar Sturmhauben und für Selbstmordattentäter typischer Westen. Die Kinder marschierten in Reih und Glied und schreien gemeinsam Slogans: "Jihad! Allah Akbar!"

Die Hamas hat in der Vergangenheit immer wieder von der palästinensischen Bevölkerung "zivile Unterstützung" für Hamas-Mitglieder eingefordert, die von der Polizei, Armee und Geheimdienst gesucht werden (vgl. Levitt 2006: 97). Im August 2003 rief Hamas-Führer Abdel Aziz al-Rantissi die Bevölkerung dazu auf, den "Hamas-Flüchtlingen" zu helfen: "Protecting the fighters and to offer them support in part of our religion, is part of the holy war" (zitiert in: Ebd.: 97).

Die palästinensische Form der modernen Kinderarbeit hat einige Facetten: Die Hamas hat einen eigenen Kindergarten, verwendet Kinder als menschliche Schutzschilde und zögert nicht, Raketen auf israelische Kindergärten abzufeuern.

Alan Dershowitz, ein pro-israelischer Publizist und Harvard-Professor für Rechtswissenschaften, setzt sich seit Jahrzehnten intensiv mit der Tötungslogik der Hamas und der militärischen Reaktion der israelischen Armee auseinander. Dershowitz' Analyse zeigt, wie das Tunnelsystem der Hamas verwendet wird, um Angriffe auf zivile israelische Einrichtungen durchzuführen. Denn für die israelische Armee ist das Tunnelsystem nur schwer durchschaubar und Luftangriffe sind nur wenig effektiv. Die Hamas-Tunnelstrategie wird sehr geschickt mit der "Tote-Baby-Strategie" (Dershowitz) verknüpft.

Because Hamas fires its rockets and digs its tunnels from densely populated civilian areas […] the inevitable result is that a significant number of Palestinian civilians are killed. Hamas encourages this result, because it knows the media will focus more on the photographs of dead babies than on the cause of their death: namely, the decision by Hamas to use these babies and other civilians as human shields.

Alan Dershowitz

Als Folge reagiert die mediale Weltöffentlichkeit mit Empörung gegen Israel und internationale Organisationen wie die UNO und die EU fassen Beschlüsse, die Israels Handlungen kritisieren. Dadurch fühlt sich die Hamas in ihrer Strategie bestärkt und wiederholt die "Tote-Baby-Strategie", ruft aber zwischendurch kürzere Waffenstillstände aus, um sich neu zu bewaffnen. Dershowitz warnt eindringlich vor der globalen Nachahmungsgefahr der Hamas-Strategie:

If it works for Hamas, why shouldn't other terrorist groups, like ISIS and Boko Haram, adapt this strategy to their nefarious goals, as Hezbollah has already done?

Alan Dershowitz

Die erfolgreiche Hamas-Kinderarbeit kann also als moralisches Vorbild für ISIS und Boko Haram und andere dienen.

Welche Erkenntnisse ergeben sich darüber hinaus aus den Fallbeispielen Paul Maxwell und dem Hamaskindergarten? Die Bombenkinder der IRA und der Hamas könnten auf den ersten Blick in die gleiche ethische Bombenlogik eingeordnet werden. Der zweite Blick führt jedoch in einen "düsteren" moralphilosophischen Abgrund: Kann man noch einen Schritt weitergehen und damit eine Logik des Tötens Unschuldiger begründen? Hierzu kann man einen moralphilosophischen "Trick" anwenden: der Verweis auf den Kollateralschaden.

Kollateralschaden und bedingungslose Bombenethik: die Logik des Tötens Unschuldiger

In der Formulierung des Leipziger Philosophen Georg Meggle enthält die klassische Software des "Gerechten Krieges" einen äußerst gefährlichen Chip, den sich sowohl Gewaltbefürworter als auch die grundsätzlichen Kritiker von Gewalt gleichermaßen zunutze machen können. Dieser Chip ist der Verweis auf den Kollateralschaden:

Ein Kollateralschaden ist ein Schaden - und zwar einer, der im Unterschied zu dem eigentlichen (herbeizuführenden beabsichtigten) Ziel der Handlung, die den Schaden herbeigeführt hat, nicht beabsichtigt war.

Meggle 2004

Dadurch werden moralphilosophisch begründete Entgrenzungsbedingungen für Gewalthandlungen geschaffen, die außerhalb jeglicher ethischer Selbstbeschränkungen stehen, denn die Tötung von Zivilpersonen als Kollateralschaden ist dann entschuldbar, wenn diese nicht direktes Ziel der Gewalt waren.

Moralphilosophisch wird hier zwischen starker und nicht starker Zurechenbarkeit unterschieden. Ein entstandener Schaden oder eine Tötung ist dem Gewaltakteur dann stark zurechenbar, wenn er entweder wusste, dass seine Tat diese Folgen haben wird, oder diese billigend in Kauf nahm. Ein Kollateralschaden ist dem Gewaltakteur dann schwach zurechenbar, wenn der entstandene Schaden zwar prinzipiell voraussehbar, aber nicht das eigentliche Ziel der Gewalthandlung war. Der Kollateralschaden ist jedoch dem Gewaltakteur stark zurechenbar, wenn sich Gewalt direkt und wissentlich gegen Unschuldige richtet.

Übertragen wir in einem nächsten Schritt diese Differenzierung auf die Tötungslogik der IRA und der Hamas. Dadurch kann im Folgenden die These begründet werden, dass die Moralphilosophie durch den Chip "Kollateralschaden" der IRA und der Hamas eine Rechtfertigungssoftware für eine bedingungslose Bombenethik zur Verfügung stellt. Zu dieser These gelangt man, wenn man von der ethischen Differenzierung zwischen verschiedenen Terrorismusformen ausgeht, die die Moralphilosophen Georg Meggle und Igor Primoratz herausgearbeitet haben.

Primoratz stimmt der Forderung von Meggle zu, dass eine moralphilosophisch begründete Differenzierung zwischen zwei Arten von "Terrorismus" (T-Akten) getroffen treffen müsse (Primoratz 2009: 245): zwischen starken und schwachen T-Akten. Um der Debatte über die normative Aufladung des Terrorismusbegriffs zu entgehen, verwendet Meggle anstatt der Bezeichnung "terroristischer Akt" den Begriff "T-Akt." Aus Terrorismus wurde schlicht "T" (Unser Terrorismus-Tabu).

Die Qualifizierungen "schwach" oder "stark" hängen davon ab, gegen wen sich die Gewalt richtet. Beim schwachen T-Akt richtet sich die Gewalt gegen Unterdrücker - und nur gegen diese -, während sich die Gewalt beim starken T-Akt gegen unschuldige Dritte wendet (Meggle 2005). Meggle warnt davor, dass eine mangelnde analytische Differenzierung zur Gefahr führen kann, dass aus der Rechtfertigung von schwachen T-Akten auch eine unreflektierte Rechtfertigung von starken T-Akten abgeleitet werden könne.

Starke T-Akte sollten jedoch nicht mit schwachen T-Akten gleichgesetzt werden; und vor allem sollten die moralphilosophischen Rechtfertigungshintergründe streng voneinander abgegrenzt werden. Wird diese moralphilosophische Differenzierung nicht gemacht, dann kann daraus die Rationalität und Legitimität der Tötung von Unschuldigen, z.B. von Kindern, ableiten: Lässt sich Humanität aber wirklich mithilfe von Kindermord in die Welt bomben? Diese kritische Fragen kann man auch der IRA stellen, indem man auf das Beispiel Paul Maxwell zurückkommt: War die Tötung des Kindes Paul Maxwell ein Kollateralschaden?

Wie herausgearbeitet, waren die beiden Jungen in der Tötungslogik der IRA Kollateralschäden, die im irischen Freiheitskampf entstanden sind. Kann man jedoch in der Tötungslogik noch einen Schritt weiter gehen und fragen, ob damit auch im Nordirlandkonflikt Unschuldige getötet wurden, um Leben zu retten? Hat also die IRA viele "Paul Maxwells" für die Befreiung des irischen Volkes getötet?

Aus dieser Fülle an Fragen wird offensichtlich, wie einfach die moralphilosophisch begründete Aushebelung der ius-in-bello-Dimension zur Legitimation von eigentlich moralisch verwerflichen Gewaltaktionen ist. Damit bestätigen also die Überlegungen im Einzelfall Mountbatten die zentrale moralphilosophische These dieses Beitrages: Die ius-in-bello-Kategorie des "Gerechten Krieg" ist sehr flexibel und dadurch offen für breite Interpretationen, sodass auch die Tötung von Paul Maxwells, ob stark oder schwach zurechenbar, legitimiert werden kann.

Daraus wird auch deutlich, dass die theoretischen Gewaltbeschränkungen des "Gerechten Krieges" moralphilosophisch ausgehebelt werden können. Der "Gerechte Krieg" ist also kein effektiver Gewaltbegrenzer. Moralisches Denken macht aus der Denkfigur "Gerechter Krieg" eine handlungsethische Beliebigkeit. Dadurch führen moralphilosophische Begründungen die Strategien und Anstrengungen der Selbstrechtfertigung ad absurdum - und macht letztlich die bewusste Tötung von "Paul Maxwells" und Bomben auf Kindergärten moralisch legitim.

Entgrenzung durch Moralphilosophie: der Ω-Fall als Endziel der bedingungslosen Bombenethik

Die handlungsethische Beliebigkeit der Kriegsethik wird dann zur bedingungslosen Bombenethik, wenn sich die Moralphilosophie eines weiteren Tricks bedient, nämlich den Bezug zum Ω-Fall. Der Bezug auf den Ω-Fall erlaubt es, dass auch die starke Zurechenbarkeit der Tötung von "Paul Maxwells" moralisch legitimiert werden kann.

Der Verweis auf den Ω-Fall steht für die äußerste Rechtfertigungsstrategie gewaltsamen Handelns. Der Ω-Fall ist der extremste moralische Notfall. Es handelt sich hierbei um konstruierte Entscheidungssituationen, denn Moralphilosophie oder Ethik funktionieren nicht zuletzt als Konstruktion von moralischen Notfällen und von Ausnahmebedingungen.

Lothar Fritze stellt die Frage, welche Bedingungen für moralisch erlaubtes Unrecht gegeben sein müssen. Sind also Ausnahmebedingungen denkbar, unter denen eine Verletzung des Verbots, Unschuldige zu töten, moralisch gerechtfertigt sein kann? Ethische Kompromissbildungen sind fester Bestandteil der menschlichen Moralpraxis, selbst Fundamentalnormen dürfen nach dieser Moralpraxis unter Ausnahmebedingungen verletzt werden (Fritze 2004: 2). Bezogen auf ihre denkbaren Konsequenzen ist die extremste Ausnahmebedingung der äußerste moralische Notfall. Dieser wurde von Meggle als Ω-Fall definiert:

Ω, das ist der absolute Ausnahmefall, die ultimative Katastrophe, die für uns so unvorstellbar schlimm ist, dass wir zu ihrer Verhinderung wirklich alles zu tun bereit wären, selbst dazu, alle - ja, wirklich alle - moralischen Restriktionen über Bord zu werfen.

Meggle 2010

Ω-Fälle stellen scheinbar universell geltende ethische Normen vor ihre schwierigsten Herausforderungen. Auf der praktischen Ebene hat sich Michael L. Gross anhand des palästinensischen Fallbeispiels mit der Frage des ethischen Ausnahmefalles auseinandergesetzt (Gross 2005). Als analytischen Anstoß verwendete er die Aussage von Mohamed Dahlan, Kommandeur der palästinensischen Sicherheitskräfte in Gaza im Jahr 2002, in der dieser den Terror gegen die israelische Zivilbevölkerung legitimierte.

Dahlan warnte Israel davor, dass Angriffe auf Zivilisten mit der gleichen Antwort beantwortet würden (Gross 2005: 556). Nach Gross zielt der palästinensische Terrorismus gegen die israelische Zivilbevölkerung darauf ab, die israelische Kriegsmoral zu brechen, um damit Druck auf die israelische Regierung auszuüben (ebd.: 557). Gross sieht den Ausnahmezustand in der asymmetrischen Situation zwischen Israel und Palästina. Die Palästinenser sind der israelischen Seite militärisch unterlegen und rechtfertigen den Einsatz von Terror gegen die israelische Zivilbevölkerung als Ω-Fall (ebd.).

Gleichzeitig übt Gross jedoch deutliche Kritik an der Denkfigur des Ausnahmefalles, da sie für die politische Praxis von Kriegsentscheidungen nur wenig brauchbar sei (ebd.: 573). Er bezieht sich in dieser Kritik in erster Linie auf die völkerrechtliche Praxis oder die völkerrechtliche Bewertung von Kriegshandlungen und Gewaltaktionen (ebd.: 574). Aus dem völkerrechtlich verankerten Verteidigungsrecht könne man, so Gross, nicht ohne weiteres auf den absoluten Ausnahmefall schließen, um damit im Sinne des Ω-Falles die Tötung von Zivilisten zu legitimieren (ebd.).

Doch auch Gross' Verweis auf das völkerrechtlich verankerte Verteidigungsrecht schafft keine moralische Klarheit. Denn wer ist Verteidiger und wer ist Angreifer? Warum kann sich Israel nicht auf das Recht auf Selbstverteidigung berufen?

Konklusionen: Was bleibt vom Völkerrecht als Gewaltbegrenzer übrig?

Dieser Beitrag macht deutlich, dass die Bereichsethik der Moralphilosophie es möglich macht, dass sogar Kindermord moralisch gerechtfertigt werden kann. Die ethische Beliebigkeit der Kriterien des "Gerechter Krieg" funktioniert bis hin zum Ω-Fall. Und an diesem Punkt ist alles erlaubt. Auch das Völkerrecht verliert dann seine Autorität als Gewaltbegrenzer, wenn man sich die Frage stellt, wer darüber entscheidet, was internationales Recht ist und was nicht? An diesem Punkt können wir erneut Carl Schmitt ins Spiel bringen:

Hier, im Völkerrecht wie im innerstaatlichen Recht, erhob sich gegenüber der endlosen Rechthaberei, wie sie in den Behauptungen einer justa causa liegt, die einfache Frage: Wer entscheidet?, das große: Quis judicabit? Innerstaatlich wie zwischenstaatlich konnte das nur der Souverän sein. Aber im zwischenstaatlichen Recht der Souveräne gibt es keine höchste und letzte richterliche Instanz über den beiden Parteien, denn hier gilt der Grundsatz der Gleichheit der Souveräne.

Schmitt 1950: 128. Kursiv im Original

Denkt man diese Fragen zu Ende, dann können die möglichen Antworten sehr weitgehende Konsequenzen nach sich ziehen. Wenn die Hamas ihre eigenen Kindergärten dazu nutzt, um Raketen auf Israel abzufeuern, ist es dann nicht legitim, dass Israel genau diese Kindergärten bombardiert? Wer entscheidet darüber, dass das Vorgehen von Israel völkerrechtswidrig "sei"?

Diese Frage stellte sich z.B. der Journalist Tuvia Tenebom während seiner Israelreise. Tuvia erinnert die Mitglieder des UN-Sicherheitsrates, die Israel regelmäßig kritisieren und die Fahne des Völkerrechts hochhalten, an die Ethik ihrer eigenen Kriegführung im Zweiten Weltkrieg:

Wenn man nur tief und lang genug darüber nachdenkt und sich dahin treiben lässt, wohin einen die eigenen Augen und Überlegungen führen, dann landet man bei den Sitzen des UN-Sicherheitsrats in New York […]. Die Repräsentanten der Siegermächte des Zweiten Weltkriegs, also jener Leute, die Bomben aus schnellfliegenden Flugzeugen auf die dunklen Schlafzimmer schlafender Zivilisten abwarfen, sind genau dieselben, die dem Rest von uns sagen, was in Konfliktgebieten rechtlich zulässig ist und was nicht, und verlangen, dass wir uns ihren Befehlen beugen.

Tenenbom 2014: 406

Ich stimme der Analyse von Tuvia zu. In der internationalen Politik entscheiden immer noch die Sieger über Recht und Unrecht, vor allem wenn es um völkerrechtliche Überlegungen geht. In der Sprache von Carl Schmitt bedeutet dies:

Denn was helfen die schönsten Anforderungen an die justa causa, wenn die Macht, die einen ungerechten Krieg führt und nicht ex justa causa streitet, trotzdem nach anerkanntem Völkerrecht in gleicher Weise Beute und sogar Prisen machen darf wie der Gegner, der den in der Sache gerechten Krieg führt?

Schmitt: 1950: 133

Aber darf man dem UN-Sicherheitstrat — den "Hütern" des Völkerrechts — wirklich widersprechen?

An diesem Punkt kommt jede Ethik an ihre eigenen Grenzen und muss ihr letztes moralisches Aufgebot bieten, nämlich Gott selbst ins Spiel bringen. Hierzu wurde in der vielfältigen Social-Media-Welt vor einigen Monaten unten stehendes Bild zirkuliert, das die moralische Tötungslogik aus einer militärischen Sicht auf den Punkt bringt. Und wer kann dieser Logik schon widersprechen — schließlich ist Gott mit im Spiel? Oder soll man sogar in Gottes Namen internationales Recht beachten (müssen)?

Was bleibt also übrige von den hehren ethischen Maximen des Völkerrechts? Darf man sich diesen Maximen in der konkreten Kriegsführung widersetzen?

Auf diese Frage kann es nur eine "polemisch-ernste" Antwort geben, die den allgemeinen Relativismus, der in diesem Beitrag durchschimmert, wiederspiegelt: je nach Standpunkt und je nachdem, ob man sich der Konsequenzen bewusst ist oder ob man mit den Konsequenzen leben oder sterben kann.

Dr. Marcel M. Baumann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Internationale Politik an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau. Im Jahr 2003 erschien seine Monographie: "Schlechthin böse? Tötungslogik und moralische Legitimität von Terrorismus" (VS Springer).

Literaturverzeichnis

  • Fritze, Lothar (2004): Die Tötung Unschuldiger. Ein Dogma auf dem Prüfstand. Berlin & New York: Walter de Gruyter.
  • Gross, Michael L. (2005): Killing Civilians Intentionally: Double Effect, Reprisal, and Necessity in the Middle East. In: Political Science Quarterly, 120, S. 555-579.
  • Levitt, Matthew (2006): Hamas: politics, charity, and terrorism on the service of jihad. Washington, D.C.: The Washington Institute for Near East Policy.
  • Meggle, George (2004): "Kollateralschäden?" Vortrag im Rahmen des Philosophischen Kolloquium an der Universität Duisburg-Essen am 12.4.2004.
  • Meggle, Georg (2005): Kritischer Kommentar zu: Ted Honderich: Gibt es ein Recht auf Terrorismus? In: Orsi, Guiseppe et al. Hrsg. Nationale Interessen und internationale Politik. Frankfurt am Main: Peter Lang, S. 137-140.
  • Meggle, Georg (2010): Unser Terrorismus-Tabu. In: Telepolis, 27.12.2010.
  • Primoratz, Igor (2009): Terrorism: Two Philosophical Accounts. In: Fehige, Christoph et al. Hrsg. Handeln mit Bedeutung und Handeln mit Gewalt. Philosophische Aufsätze für Georg Meggle. Paderborn: Mentis, S. 239-252.
  • Schmitt, Carl (1950): Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum. Berlin: Duncker & Humblot.
  • Tenebom, Tuvia (2014): Allein unter Juden. Berlin: Suhrkamp.