Hat der Vatikan eine internationale Verschwörung initiiert, um sexuellen Missbrauch totzuschweigen?

Der britischen Zeitung "Observer" liegt nach eigenen Angaben ein explosives Dokument vor

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Dass sich der Vatikan nicht gerade durch eine freizügige Informationspolitik auszeichnet, ringt selbst den schärfsten Kritikern der katholischen Amtskirche nur noch ein müdes Lächeln ab. Sie kennen es nicht anders, und außerdem dürften die meisten strenggehüteten Geheimnisse zwar von beträchtlichem, aber eben doch nur noch historischem Interesse sein.

Bei einem Dokument, das angeblich aus dem Geheimarchiv des Vatikan stammt und am vergangenen Wochenende von der britischen Zeitung "The Observer" vorgestellt wurde, sieht die Sache allerdings anders aus. Denn wenn sich dieser Bericht als authentisch erweist, hat der Vatikan 1962 alle katholischen Bischöfe angewiesen, Fälle von sexuellem Missbrauch durch Priester zu vertuschen. Schlimmer noch: Nach Informationen der Zeitung existiert ein weiterer, von Kardinal Joseph Ratzinger unterschriebener Brief, der die unveränderte Gültigkeit dieser Aufforderung unterstreicht. Er soll im Mai 2001 abgeschickt worden sein.

Der "Observer" stützt seine Behauptungen auf ein Dokument mit dem Titel""Crimine solicitationies", das von dem texanischen Rechtsanwalt Daniel Shea publiziert wurde, der die Interessen von Missbrauchsopfern in den USA vertritt. Das Schriftstück trägt das Siegel Papst Johannes XXIII. und äußerst sich zu Fällen sexuellen Missbrauchs, die Beichtväter an ihren Schutzbefohlenen begehen, aber auch zu "schlimmsten Verbrechen" wie sexuellen Handlungen mit Jugendlichen und Tieren.

Die katholischen Bischöfe werden darin ausdrücklich aufgefordert, den angezeigten Fällen "auf die allergeheimste Weise" und "mit größtem Stillschweigen" nachzugehen. Sie sollen den betroffenen Opfern ein Schweigegelübde abnehmen und sich ansonsten auf die kircheninterne Strafgerichtsbarkeit verlassen. Wer sich nicht an diese Vorgaben hält, wird mit Exkommunikation bedroht. Für Daniel Shea bietet das Dokument wenig Interpretationsspielraum:

Diese Anweisungen sind an jeden Bischof rund um den Globus geschickt worden (...). Sie beweisen, dass die Kirche eine internationale Verschwörung initiiert hat, um sexuellen Missbrauch totzuschweigen.

Das Ganze sei schlicht und einfach "eine Anleitung zu Betrug und Täuschung".

Ein Sprecher der römisch-katholischen Kirche von England und Wales sieht das naturgemäß aus einer anderen Perspektive:

Dieses Dokument handelt nur von kircheninternen Disziplinarmaßnahmen, wenn ein Priester beschuldigt wird, die Beichte auszunutzen, um sexuelle Kontakte anzubahnen. Es verbietet den Opfern nicht, über die Verbrechen zu berichten. Die Vertraulichkeit zielt nur auf den Schutz der Angeklagten ab, wie das in Gerichtsverfahren heute üblich ist. Sie berücksichtigt auch die spezielle Natur der Geheimhaltung, die mit der Beichte an sich verbunden ist.

Reverend Thomas Doyle, der als Kaplan der US Air Force in Deutschland stationiert ist und sich ausführlich mit Fragen des Kirchenrechts befasst hat, wird vom "Observer" mit der Befürchtung zitiert, das aufgefundene Schriftstück könne "die Grundlage einer ununterbrochenen Politik gewesen sein, um Verbrechen des Klerus um jeden Preis zu vertuschen". Der Brief aus dem Jahr 2001 wäre dann nur eine logische Fortsetzung dieser Politik, so wie die Behörde des Kardinal Ratzinger in logischer und rechtlicher Hinsicht die Fortsetzung der mittelalterlichen Inquisition ist.

Ob der aktuelle Erklärungsnotstand im Vatikan für größere Aufregung sorgen wird, muss allerdings bezweifelt werden. Es ist schließlich nicht der erste und wird mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch nicht der letzte sein.