Heimatminister Seehofer: Fachmann für die Zerstörung von regionaler Basis und Peripherie?

Seite 4: "Gesundheitsfonds": Arme Regionen noch ärmer

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"Heimat" definiert der Koalitionsvertrag neben "Kommunen" einerseits auch als "Lebensverhältnisse" andererseits. Dass und wie der Heimatminister in seiner Amtszeit als Gesundheitsminister die Kommunalsubstanz auf dem Umweg über Sozialreformen nachhaltig beschädigt hat, ist jetzt bekannt. Wie sieht es aber mit den "Lebensverhältnissen" aus? Hat Horst Seehofer als Gesundheitsminister im Kabinett Helmut Kohl oder später als Minister der Regierung Angela Merkel dazu beigetragen, dass die Abstände zwischen den Wachstumsregionen und den Abstiegsregionen noch größer oder wieder kleiner geworden sind?

Diese Frage soll hier nur für den Bereich der Gesetzlichen Krankenversicherung und der Sozialen Gesundheitsversorgung beantwortet werden - ein Wirtschaftsbereich mit immerhin etwa 145 Milliarden Euro Volumen im Jahr 2007, also zur Mitte der ersten Großkoalition von CDU/CSU/SPD. Auch die von dieser Koalition im Jahr 2007 von 16 auf 19 Prozent erhöhte Mehrwertsteuer hat sich zweifellos für die Regionen mit einkommensschwacher Bevölkerung deutlich belastender ausgewirkt als auf Regionen mit einkommensstarker Bevölkerung. Dies wird hier aber nur angemerkt, nicht weiter ausgeführt.

Schon das "Gesundheitsstrukturgesetz" mit seiner Konservierung der bundesweiten Ersatzkassen-Konzerne und mit seiner Zwangskonzentration der Regional-Kassen hatte eine Situation politisch legitimiert und fixiert, bei der den ländlichen Räumen und vor allem den strukturschwachen Regionen durch die Einheitsbeitragssätze der Kassen-Konzerne über die Jahre Milliarden von DM und später Euro entzogen wurden. Mit diesen enormen Summen wurde die wesentlich besser ausgebaute Gesundheitsversorgung in den Ballungsräumen und vor allem in den wachstumsstarken Regionen mit den Beitragsüberschüssen der deutlich schlechter ausgebauten Gesundheitsversorgung in den anderen Räumen alimentiert .

Auf diese Situation hatte der Deutsche Landkreistag bereits 1986 aufmerksam gemacht (Albrecht Goeschel: Finanzmittel der gesetzlichen Krankenversicherung: Umverteilungsvorgänge zu Lasten der ländlichen Räume. In: Der Landkreis, 8/9-1986). Diese Negativtransfers allein schon der bundesweiten Ersatzkassen-Konzerne zu Lasten der ländlichen Räume übertrafen vom Volumen her die Positivtransfers aus dem Bundeshaushalt zur Förderung der ländlichen Räume bei weitem. Im Jahre 1983 überstiegen diese Negativtransfers der Ersatzkassenbeiträge die Positivtransfers der Bundesförderung um ca. 33 Milliarden Mark.

Nach dem "Gesundheitsstrukturgesetz" ging das Machtkartell CDU/CSU/SPD im Jahr 2007 daran, das bald auf 150 Milliarden Euro angewachsene Volumen der Gesetzlichen Krankenversicherung noch wirkungsvoller in seine zentralistische Finanzpolitik einzubinden. Das Instrument hierfür war der 2007 beschlossene "Gesundheitsfonds". Dieser erleichterte gesamtfiskalisch gesehen seinerseits die im Dunkel der weltweiten Finanzkrise 2009 beschlossene "Schuldenbremse" für die Steuerhaushalte.

Hauptfunktion des "Gesundheitsfonds" ist eine nunmehr für alle Krankenkassen-Konzerne generalisierte bundesweit-einheitliche Beitragsabschöpfung. Dieses Beitragsaufkommen beim "Gesundheitsfonds" wird mit risikogestaffelten Versichertenpauschalen in die Kassenkonzerne transferiert und von diesen für Sach- und Geldleistungen verausgabt. Mit Wettbewerbsregelungen werden dabei die Kassen dazu genötigt, gegenüber ihren Versicherten eine höchstmögliche Leistungszurückhaltung zu üben, d.h. Überschüsse zu erwirtschaften. Der "Gesundheitsfonds" wurde dabei so konstruiert, dass er vom Bundesfinanzminister als eine Art Reservebudget zur Schuldenminderung des Bundeshaushalten, d.h. zur Einhaltung der "Schuldenbremse" benutzt werden kann - wie das auch in den Folgejahren praktiziert worden ist.

Auch für den "Gesundheitsfonds" galt wie zuvor für die einzelnen Krankenkassen-Konzerne, dass auf dem Wege über den Einheitsbeitragssatze die mit weniger Gesundheitswirtschaft ausgestatteten, meist schwächeren Regionen weniger Beitragsmittel in Form von Leistungsausgaben zurück erhalten, als sie zum "Gesundheitsfonds" beigetragen haben. Dagegen erhalten die mit mehr Gesundheitswirtschaft ausgestatteten, meist stärkeren Regionen mehr Beitragsmittel in Form von Leistungsausgaben zugeführt, als sie zum "Gesundheitsfonds" beigetragen haben. Der "Gesundheits- fonds" generalisiert die Grundregel des kapitalistischen Sozialstaats: "Der Schwächere finanziert den Stärkeren" und "die Armen werden noch ärmer" (Albrecht Goeschel, Rudolf Martens: Gesundheitsfonds und Regionalpolitik. Hrsg. Accademia ed Istituto per la Ricerca Sociale, Verona 2013).

Horst Seehofer, der bis Herbst 2008 Verbraucherschutzminister der ersten Großkoalition war, setzte sich vehement und in offenem Gegensatz zu seiner Partei für den "Gesundheitsfonds" ein. Nach seinem Amtsantritt als Bayerischer Ministerpräsident ging der heutige Heimatminister allerdings auf Distanz zu diesem Konstrukt. Er kritisierte vor allem dessen Rolle als eine Art zweiter Finanzausgleich, bei dem Bayern ebenso wie im Steuerfinanzausgleich nun auch im Beitragsfinanzausgleich Zahler sei.

Der "Gesundheitsfonds" stellt wegen seines enormen Volumens, wegen seiner negativen Umverteilungswirkung und wegen seiner Funktion als Reservebudget für den Bundeshaushalt einen Hauptfaktor für die weitere Abwertung von Lebensverhältnissen in weiten Teilen des Bundesgebietes dar.