Henry Kissinger: Der Metternich des 20. Jahrhunderts

Seite 2: Der Staat ist der Akteur des Politischen

Seit seinem Ende als Außenminister blieb Kissinger ein viel gefragter globaler Strippenzieher. Bis in die letzten Tage seines Lebens engagierte er sich in der Politik, nahm an Sitzungen im Weißen Haus teil und trat vor dem Senatsausschuss zu den nuklearen Bedrohungen durch Nordkorea auf.

Im Juli dieses Jahres noch stattete er China einen Überraschungsbesuch ab, wo er sich in Peking mit dem chinesischen Präsidenten Xi Jinping traf.

Jetzt erkennt ihn die chinesische Zeitung Xinjing Bao als einen der größten Diplomaten des 20. Jahrhunderts.

In einer gefährlichen Phase des Kalten Krieges hat er eine Entspannungspolitik vorangetrieben, die zum Weltfrieden beigetragen hat. China hat einen wahren Freund in Amerika verloren. Die Welt wird einen klugen Außenpolitiker vermissen, der in der Lage war, Dinge auch aus der Perspektive des Gegenübers zu betrachten.

"Staatskunst" heißt sein letztes Buch und fasst zusammen, worauf es ankommt: Der Staat, nicht der Bürger oder diffuse Kräfte, wie "die Macht", "die Geschichte", "das Volk", "das Kapital" ist der Akteur des Politischen. Und es muss, angemessen betrieben, eine Kunst sein, kein Handwerk und kein "Dienst".

Dem 21. Jahrhundert war Kissinger eine Kassandra: Die neuen aufkommenden Moden der Weltpolitik, der alte Traum vom Abschied vom Realismus und die Relativierung des Westens angesichts der autoritären Revolten in der Dritten Welt, sowie das neue Beharren der postmodernen Linken auf nationaler Selbstbestimmung wurde von Kissinger immer wieder nüchtern analysiert und widerlegt.

Er erkannte die Gefahren durch neue, totalisierende Ideologien und die Mächte, die sich ihrer bedienen. Weniger die Supermächte Russland und China, als die neue Zauberlehrlinge in Nahost und Mittelasien, in Osteuropa und Afrika, in Nordkorea.

Vielen Jungen erschien Kissinger darum als ein Mann aus einer anderen Zeit. Er war der Beweis, dass diese Zeit aber längst nicht vorbei ist.

Kissingers Staatskunst: Geheimdiplomatie, Gespräche mit Feinden, ohne Rücksicht auf eigene Werte

Die wichtigsten grundsätzlichen Lehren Henry Kissingers lauten, dass Diplomatie nicht die Rudelbildung zwischen Freunden ist, sondern das Gespräch mit den Feinden. Und dass dieses Gespräch wichtiger ist, als das mit den Freunden.

Dass das Ziel der Frieden und die Freiheit sind, ihre Erhaltung, ihr Ausbau, ihre Wiederherstellung - in dieser Reihenfolge.

Dass eine Außenpolitik, die ohne Rücksicht auf eigene Werte betrieben wird, viel erreichen kann. Dass in der Außenpolitik die innere Struktur und Ideologie eines Staates zweitrangig ist. Denn alle Akteure können sowohl Freund als auch Feind sein.

Dass man in der Außenpolitik einen Feind niemals total besiegen sollte, denn in der Zukunft könnte er sich als Freund herausstellen.

Dass in der Außenpolitik nichts stabil bleibt, also Siege von kurzer Dauer sind, und Niederlagen viel länger nachwirken. Dass es deshalb mehr darum geht, Niederlagen zu vermeiden, als darum, Siege auszukosten.

Dass Gesten manchmal bedeutsamer sind als reale Veränderungen.

Dass Politik letztlich immer in persönlichen Beziehungen stattfindet.

Dass man am meisten erreicht mit Geheimdiplomatie unter Ausschluss der Öffentlichkeit.

Dass man am zweitmeisten erreicht durch eine Doppelstrategie öffentlicher und heimlicher Manöver.

Ohne handwerkliches Können gibt es keine Kunst.