"Herrgott, wenn doch Hitler helfen wollte!"

Das Massaker von Nanking 1937 - die wahre Geschichte

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Es war mit geschätzten 80.000 Opfern die größte Massenvergewaltigung der Weltgeschichte und auch sonst eines der grausamsten und opferreichsten Ereignisse des 20. Jahrhunderts. Es forderte weit mehr Todesopfer als die Atombombenexplosionen von Hiroshima und Nagasaki zusammen: Das Massaker von Nanking, verübt von japanischen Truppen an der chinesischen Zivilbevölkerung und gefangenen Soldaten zwischen 12. Dezember 1937 und Januar 1938. Nach wie vor leugnet Japan die auch von neutralen Quellen mittlerweile gut belegten Verbrechen. Die lange Zeit kaum bekannte Rolle, die der Deutsche Siemens-Repräsentant John Rabe während des Massakers als Leiter der Internationalen Sicherheitszone bei der Rettung Hunderttausender Chinesen spielte, bilden den Hintergrund für Florian Gallenbergers Spielfilm "John Rabe", der aktuell in den Kinos läuft. Seit einiger Zeit ist "Nanking" mehr und mehr auch zum Symbol des japanisch-chinesischen Krieges, zum "Auschwitz des Ostens" geworden. Ein Grund mehr, das tatsächliche Geschehen zu rekapitulieren.

Szenenfoto aus dem Film „John Rabe“. Bild: Majestic Film Verleih GmbH

Eine große Projektionsfläche füllt den Raum, vor ihr eine ewige Flamme. In Überblendungen sind dort Portraitfotos zu sehen. Alle zehn Sekunden wechselt das Bild. Ungefähr 35 Tage dauert es, bis sich im Gedenkmuseum von Nanking Bild und Name wiederholen - denn es sind etwa 300.000 Namen. Es sind die Opfer des "Massakers von Nanking", das die Soldaten der kaiserlichen japanischen Armee an der Bevölkerung der alten Kaiserstadt und damaligen Hauptstadt der chinesischen Republik und an gefangenen chinesischen Soldaten nach ihrer Eroberung im Winter 1937/38 verübten, inmitten des japanischen Überfalls auf China - eines der schlimmsten Kriegsverbrechen vor Beginn des 2. Weltkriegs.

Es schockiert bis heute nicht allein durch sein Ausmaß und dadurch, dass für das Geschehen keinerlei militärische Notwendigkeit oder auch nur der Wahn von Rassismus und Ideologie zur Entschuldigung vorgeschoben werden können. Auch in der Kriegsgeschichte des japanischen Faschismus nimmt "Nanking" bis heute eine Sonderstellung ein, und obwohl die Verantwortlichen soweit möglich vor Gericht gestellt wurden, leugnet Japan das Massaker - nicht zuletzt offenkundig aus Scham über die vor allem in ihren Details ebenso empörenden wie unglaublichen Vorgänge: Es gab Wettbewerbe wie „Schnell-Köpfen" unter Offizieren, es gab Massenvergewaltigungen und Folter, Menschen wurden bei lebendigem Leib mit Benzin übergossen und angezündet, an den Zungen aufgehängt, Kinder an die Wand genagelt, Frauen an der Vagina aufgespießt, oder bei lebendigem Leib von innen verbrannt, indem man brennende Gegenstände in ihre Körperöffnungen einführte; Männer zum gegenseitigen Analverkehr gezwungen, lebendig gehäutet und vieles Schreckliche mehr.

"…wie ein Meer voller Blut. Hätte ich doch nur einen Farbfilm dabei gehabt…"

Die Vorkommnisse und grausamen Torturen sind in Prinzip bekannt und gut belegt. Es genügt, sich jene Filmausschnitte anzusehen, die von John Magee, einem Pastor, der von 1912 bis 1940 in Nanjing lebte, stammen und Szenen des Massakers und Verwundete zeigen, um sich andeutungsweise ausmalen zu können, was seinerzeit geschah. Man sieht dort zum Beispiel einen Mann, dessen Köpfung per Säbel mißlang. Sein halber Hals ist weggeschlagen, die andere Hälfte riesig eingekerbt, die Muskeln, die den Kopf aufrecht halten durchtrennt. Oder eine Frau, die am Leib Wunden von über 30 Bajonettstichen trägt, aber wundersamerweise überlebte.

Ein japanischer Kriegsreporter schrieb nach dem Einmarsch in Nanking: "Ich sah Hunderte von Leichen den Jangtse hinuntertreiben. Ich erinnere mich an einen kleinen See außerhalb von Nanking. Er sah aus wie ein Meer voller Blut. Hätte ich doch nur einen Farbfilm dabei gehabt, was für ein aufrüttelndes Foto wäre das geworden." Der Zensur zum Opfer fiel das Buch des japanischen Kriegsreporter Ishikawa Tatzuko, der Anfang 1938 seine Nanking-Erlebnisse in dem Buch "Ikiteiro heitai" ("Aus dem Leben der Soldaten") niederschrieb: "Jede kämpfende Einheit stand vor dem Problem, wie sie mit Kriegsgefangenen umgehen sollte. Als der Krieg begann, war es unmöglich, vorzurücken und gleichzeitig Kriegsgefangene zu bewachen oder mitzuschleifen. Einfacher war es, sie zu töten." Über Wochen waren die Straßen blutgetränkt. Leichen lagen herum, das Wasser der Seen im Park war vom Blut gefärbt.

Dies war die brutalste Episode des an Brutalitäten über das im Krieg übliche Maß hinaus reichen japanisch-chinesischen Krieges von 1937-45. Von japanischer Seite aus wurde er, ähnlich wie der deutsche Krieg gegen die Sowjetunion 1941-45 als Vernichtungsfeldzug geführt.

"Wir sind eine Regierung der Arbeiter"

Als die japanische Armee am 12. und 13. Dezember 1937 die alte Kaiserstadt einnahm, war der Hamburger Kaufmann John Rabe Siemens-Repräsentant in China. Seit 1908 bereits lebte er dort, hatte seitdem nur zweimal kurze Urlaube in der Heimat verbracht, zuletzt 1930, und so die Veränderungen, den Weltkrieg und seine Folgen wie die ersten Jahre der Nazi-Diktatur nur vom Hörensagen aus der Ferne verfolgt. Die Deutschen machten in Nanking gute Geschäfte, die Beziehungen waren eng, es gab unter anderem eine von Rabe gegründete deutsche Schule. Um hierfür offizielle Unterstützung zu erhalten, so Rabe später, sei er 1934 Mitglied der dortigen NSDAP-Ortsgruppe geworden.

Szenenfoto aus dem Film „John Rabe“. Bild: Majestic Film Verleih GmbH

Vom Nationalsozialismus wusste er nicht viel: "Wir sind eine Regierung der Arbeiter, wir lassen den Arbeiter – den Armen – in der Not nicht im Stich!" - so notierte er 1937 in seinem Tagebuch. Er war offenkundig kein Rassist, eher ein Patriarch. 1936 besuchte ihn Erwin Wickert (1919-2008), später deutscher Diplomat in Shanghai, Tokio und Peking, auf seiner Asien-Reise als junger Student. 60 Jahre später hat Wickert Auszüge der 2.300 Seiten umfassenden Tagebücher Rabes aus der Kriegs-Zeit veröffentlicht. Sie bilden jetzt die Grundlage für Florian Gallenbergers mittlerweile ins Kino gekommenen Film "John Rabe" - eine atemberaubende, ebenso widersprüchliche, wie heroische Geschichte.

"Kann und darf ich unter diesen Umständen fortlaufen? Ich glaube nicht!"

19. Dezember 1937: Sechs Japaner sind über meine Gartenmauer gestiegen und wollen die Tore von innen öffnen. Als ich dazukomme und dem einen der Banditen mit der elektrischen Handlampe ins Gesicht leuchte, greift er zur Pistole, lässt die Hand aber schnell wieder sinken, als ich ihn anbrülle und ihm meine Hakenkreuzbinde unter die Nase halte.

Aus dem Tagebuch von John Rabe

In den Wochen vor der Eroberung der Stadt waren die Regierung Tschiang Kai-sheks, die deutschen Diplomaten und alle, die es sich leisten konnten, geflohen. Gegen den Rat von Siemens entschloss sich Rabe zu bleiben, um seine chinesischen Arbeiter nicht im Stich zu lassen. Im Werk und auf seinem Grundstück baute er Unterstände, die er allen zugänglich machte. Um die Bomber Japans, das seit dem Anti-Komintern-Pakt von 1936 mit Deutschland verbündet war, abzuhalten, spannte er eine große Hakenkreuzfahne auf.

Tatsächlich drehten die Bomber ab, verschonten die Gebäude. In seinem Tagebuch schildert Rabe die Beweggründe: "Kann und darf ich unter diesen Umständen fortlaufen? Ich glaube nicht! Wer einmal, an jeder Hand ein zitterndes Chinesenkind, stundenlang bei einem Luftangriff im Unterstand gesessen hat, wird mir das nachfühlen können."

Die nackte Hölle

25. November 1937: "Herrgott, wenn doch Hitler helfen wollte." 27. November 1937: "Ich hoffe weiter, dass Hitler uns hilft. Ein einfacher, schlichter Mensch - wie du und ich, wird nicht nur für die Not des eigenen Volkes das tiefste Mitgefühl haben, sondern auch für die Not Chinas.

Aus dem Tagebuch von John Rabe

Die Ausländer, die in Nanking geblieben waren, gründeten eine vier Quadratkilometer große Internationale Sicherheitszone für die Zivilbevölkerung. Sie wurde von einem Komitee geleitet, Rabe wurde zum Vorsitzenden gewählt. Weil die Zivilverwaltung geflohen war, war er damit praktisch der Bürgermeister von Nanking. Dies geschah einerseits, weil Rabe erfahren, bekannt und offenkundig auch beliebt war, fließend Chinesisch sprach, aber auch aus taktischen Gründen: Man wusste, dass ein deutsches NSDAP-Mitglied mit Hakenkreuzbinde bei den Japanern bessere Erfolgsaussichten hatte. Nur zum Teil ging das Kalkül auf: Japan verweigerte die offizielle Anerkennung der Zone, verschonte sie aber in der Praxis.

Szenenfoto aus dem Film „John Rabe“. Bild: Majestic Film Verleih GmbH

Trotzdem kam es immer wieder zu Übergriffen. Außerdem litt die Zone unter Hunger und Hygieneproblemen. Trotz allem fanden hier rund 250.000 Chinesen leidlichen Schutz. Außerhalb herrschte dagegen die nackte Hölle. In ihrem Buch "Rape of Nanking" berichtete die chinesisch-amerikanische Autorin Iris Chang erstmals umfangreich von den Ereignissen und brachte dieses weitgehend vergessene Massaker wieder ans Licht. Bill Guttentags Dokumentarfilm zeigt Interviews mit chinesischen Überlebenden und japanischen Soldaten, außerdem Fotos und Auszüge aus Briefen und Tagebüchern. Besonders eindrücklich sind Filmausschnitte, die von John Magee, einem Pastor der von 1912 bis 1940 in Nanjing lebte, stammen und viele Einzelheiten und Folgen des Massakers zeigen.

Rabe war kein Schindler

Wir müssen uns John Rabe als widersprüchlichen Menschen vorstellen. Gerade das macht ihn zu einer interessanten Kinofigur. Er verband die Gewitztheit und den Einfallsreichtum eines Hamburger Kaufmanns, mit dem Opportunismus des NSDAP-Mitglieds, naiven Führerglauben mit erstaunlicher Humanität und Standfestigkeit im Angesicht der Japaner, mit denen er nach dem Fall der Stadt als Leiter der internationalen Sicherheitszone zu tun hatte. Natürlich war Rabe kein Oskar Schindler, wie ihn manche jetzt nennen, weil er kein Mitglied der Täternation war und auch nicht, dafür muss man nur mal die jetzt wieder erschienenen großartigen Tagebücher lesen, in gleicher Weise sein Leben riskierte. Trotzdem ist es gut, dass dieser wahnwitzige Stoff jetzt erzählt wird, und wenn Florian Gallenbergers Film immerhin einen Verdienst hat, so den, dass jetzt jeder weiß, wer dieser John Rabe war.

Aber es bleiben die Taten des John Rabe, so heroisch sie gewesen sein mögen, marginale Glücksmomente im riesigen Unglück. Diese Verhältnismäßigkeit muss bei solchen Geschichten miterzählt werden, nicht nur aus moralischen, sondern auch aus ästhetischen Gründen, gerade dann, wenn die Wirklichkeit selbst es ist, die ein Kitsch-Drehbuch schreibt. Steven Spielberg hat das gewusst, als er in "Schindlers Liste" auf viele der auch von ihm sonst gern verwendeten Stilmittel verzichtete, als er bewusst manche Gräuel nicht zeigte, dezent den Blick abwandte und den Rest der Vorstellungskraft überließ.

"Da kann man schon vom Heimweh kuriert werden"

Bis zum Januar 1938 dauerte es, dann kehrte in Nanking immerhin die Ordnung der brutalen japanischen Besatzung ein. Die Gesamtzahl der Opfer bis dahin lässt sich nur schätzen. US-amerikanische und chinesische Historiker gehen übereinstimmend davon aus, dass es in Nanking mindestens 370.000 Tote gab.

Im Februar 1937 verließ Rabe China. Nach seiner Rückkehr wollte er in Deutschland von dem Massaker berichten, hielt in Berlin Vorträge über seine Erlebnisse, darunter auch vor der SS in Siemensstadt. Dabei zeigte er die Aufnahmen, die der amerikanische Missionar John Magee von den Greueln gemacht hatte. Am 8. Juni 1938 schickte Rabe einen Brief an Hitler mit der Kopie seiner Vorträge. Er ging weiterhin davon aus, dass Hitler nicht über die tatsächlichen Ereignisse in Nanking informiert war - Drohungen der Gestapo brachten ihn zum Schweigen. Die bei seiner Verhaftung beschlagnahmten Tagebücher erhielt er jedoch erst später zurück, der Film von Magee blieb konfisziert.

Von Siemens wurde er kalt gestellt. Man setzte ihn nur noch als Sachbearbeiter ein. Nach Ausbruch des Krieges in Europa war er für Auslandsreisen der Angestellten zuständig und betreute internierte Mitarbeiter im Ausland. Nach dem Krieg verlor er seine Stelle und erhielt nur noch unter der Hand Jobs von früheren Kollegen. Rabes Antrag auf Entnazifizierung wurde 1946 zunächst abgelehnt. Ein Mann seiner Intelligenz hätte der NSDAP nicht beitreten dürfen, hieß es. Später wurde seinem Antrag doch stattgegeben und ihm sein humanitärer Einsatz in Nanking zugute gehalten.

Zur gleichen Zeit fand die chinesische Regierung Rabes Adresse heraus und bot ihm an, auf Staatskosten in China seinen Lebensabend zu verbringen. Rabe lehnte ab. Als man in Nanking hörte, dass er Not litt, sammelten die Chinesen für ihn 2.000 Dollar. Aus den USA erhielt er von Ex-Kollegen des Nanking-Komitees Carepakete. 1950 starb Rabe an einem Schlaganfall. Im Tagebuch heißt es: "In Nanking der 'Lebende Buddha', hier bin ich ein Paria, ein Outcast! Da kann man schon vom Heimweh kuriert werden."

In China ist John Rabe heute der bekannteste Deutsche - neben Karl Marx.

Filme: "Nanjing 1937: Don’t cry Nanjing" von Wu Ziniu, China 1998 "Nanking" von Bill Guttentag und Dan Sturman, USA 2007 "Iris Chang: The Rape of Nanking" von Anne Pick, William Spahic, USA 2007