Hetzjagden frei erfunden?
Ein Kommentar zur Versetzung von Hans-Georg Maaßen in den einstweiligen Ruhestand
BILD ist auch nicht mehr das, was es einmal war. "Kippt jetzt der Mann, der uns vor Terror schützt?" fragte das Blatt am 18. September entrüstet und unternahm einen dringlichen Rettungsversuch für den Präsidenten des Verfassungsschutzes, weil er "allseits gute Sacharbeit" geleistet habe. 48 Tage später und nach etlichen Schleifen der Großen Koalition war es so weit. Hans-Georg Maaßen wurde von seinem Minister in den einstweiligen Ruhestand versetzt.
Horst Seehofer zeigte sich "enttäuscht", hatte er doch alles Erdenkliche unternommen, um den Konflikt zu moderieren und Maaßen in seinem Stab zu behalten. Dieser dankte es ihm nicht. Ein Treffen der Chefs europäischer Inlandsgeheimdienste, das sich betont unauffällig als Berner Club bezeichnet, nahm er zum Anlass, seine Version der Chemnitzer Ereignisse von Ende August/Anfang September erneut zu präsentieren. Maaßen legte noch eine Schippe drauf.
In Deutschland gebe es, so ehemals oberste Verfassungsschützer, "eine neue Qualität von Falschberichterstattung". Diese überschreite alles, was er bisher "an deutscher Medienmanipulation und russischer Desinformation" erlebt habe. Das klingt erst einmal wie die Abrechnung eines beleidigten Staatsdieners gegen seine hundsgemeinen Feinde in Berlin und das Böse in der Welt. Es klingt aber auch wie eine neue Stimme im populistischen Chor gegen die "Lügenpresse" oder die "fake news media", die der wahre Feind des Volkes seien. Es ist eine Kriegserklärung an das freie Wort. "Ein Spitzenbeamter mit einer fragwürdigen Haltung zum Grundrecht der Presse- und Meinungsfreiheit hat im öffentlichen Dienst nichts mehr zu suchen", erklärte der Deutsche Journalistenverband über den "Medienhasser".
Ungeachtet der wochenlangen Debatte, ungeachtet der zahlreichen Bild- und Tondokumente, die inzwischen veröffentlicht wurden, ungeachtet der Augenzeugen und ungeachtet seiner eigenen relativierenden Aussagen in zwei Bundestagsausschüssen kommt Maaßen auf seine Anfangsthese zurück: Nach dem gewaltsamen Tod von Daniel Hillig am 26.8. in Chemnitz habe "nicht das Tötungsdelikt im politischen und medialen Interesse (gestanden), sondern rechtsextremistische 'Hetzjagden gegen Ausländer'. Diese 'Hetzjagden' hatten nach Erkenntnissen der lokalen Polizei, der Staatsanwaltschaft, der Lokalpresse, des Ministerpräsidenten des Landes und meiner Mitarbeiter nicht stattgefunden. Sie waren frei erfunden."
Getreu der Devise, dass man eine Behauptung nur oft genug wiederholen muss, damit sie geglaubt wird, repetiert Maaßen, Politiker und Medien hätten Hetzjagden (bei M. stets in Anführungszeichen gesetzt) frei erfunden oder zumindest ungeprüft diese Falschinformation verbreitet. Und nochmal für die Vergesslichen unter seinen Zuhörern: Nach Erkenntnissen aller zuständigen Sicherheitsbehörden habe es keine derartigen rechtsextremistischen Hetzjagden (bei M. in Anführungszeichen) gegeben. Schließlich, damit es auch der Letzte merkt: "Ein Kampf gegen Rechtsextremismus rechtfertigt es nicht, rechtsextremistische Straftaten zu erfinden."
Außerhalb der geschlossenen Welt der AfD-Medien einschließlich der Posse-des-Guten erhielt Maaßen nur noch von der Neuen Zürcher Zeitung Unterstützung. Beim Springer-Verlag ließ man ihn wie eine heiße Kartoffel fallen. Die FAZ widerlegte seine steilen Thesen Punkt für Punkt, sodass wir uns die Mühe sparen können. Stattdessen seien zwei einfache Fragen gestellt - eine gute Frage kann ja manchmal noch besser sein als eine gute Antwort.
Hasenvideo
Maaßens Vorwurf einer gezielten Falschinformation bezieht sich vor allem auf das sogenannte Hase-Video, das von der anonymen Gruppe Antifa Zeckenbiss in irgendeiner Chatgruppe aufgestöbert und auf Youtube eingestellt wurde. Zunächst nährte der technisch wohl eher unbewanderte Verfassungsschützer Zweifel an der "Authentizität" des Clips. Nachdem er fachlich widerlegt worden war, zog er sich auf den Vorwurf zurück, @AZeckenbiss habe mit der Überschrift "Menschenjagd in Chemnitz" absichtsvoll desinformiert. Der Clip, in dem immerhin drei Männer zu sehen sind, die hinter zwei von ihnen als "Kanacken" bezeichneten Personen herrennen, zeige keine Menschenjagd.
Und der Ton? Laut und deutlich ist eine Frauenstimme zu vernehmen, die dem Clip unwiderruflich seinen Namen verliehen hat: "Hase, du bleibst hier!" Fragen wir also nach dem Grund, warum diese Frau einen Ordnungsruf für angebracht hielt. Wollte Hase bei Rot über die Straße laufen? Entfernte er sich unerlaubt in Richtung der nächsten Kneipe? Vielleicht fällt Maaßen eine noch dümmere Ausrede ein. Wer nicht gerade dem VS angehört, kann sich allerdings des Eindrucks nicht erwehren, dass die Häsin einer gerade startenden Hetzjagd Einhalt gebieten wollte.
Sie hatte Erfolg mit ihrer Intervention - die aggressiven Typen brachen die Verfolgung ab. Das ist ja das Erfreuliche an diesem Beispiel: Ein beherztes Einschreiten kann etwas bewirken. Maaßen hat das Video überhaupt nicht verstanden. Rechtsradikale Schläger, die zu einer Verfolgung ansetzten, gehören für ihn in den Bereich freier Erfindungen. Dass Zeit online eine wesentlich dramatischere und nicht abgebrochene Hetzjagd dokumentierte, unterschlägt der Verfassungsschützer glatt. Es passt nicht in seine verzerrte Sicht.
Die zweite Frage richtet sich an die Vorsitzenden der AfD, die den frischen Ruheständler gern in ihren Reihen begrüßen würden. Jörg Meuthen hat "eine ausgezeichnete Meinung von Herrn Maaßen". Seine Einschätzung der Chemnitzer Ereignisse teilt Meuthen ausdrücklich: "Er benennt die Wahrheit". Offenbar ist ihm der Widerspruch zu seinem Co-Vorsitzenden Alexander Gauland nicht aufgefallen. Der erkannte in Chemnitz ein "Ausrasten" und fand es "normal". Dabei ging es um einen Tweet, den Markus Frohnmaier, Bundestagsabgeordneter der AfD und Pressesprecher der Fraktion, am späten Abend des 26.8. abgesetzt hatte: "Wenn der Staat die Bürger nicht mehr schützen kann, gehen die Menschen auf die Straße und schützen sich selber. Ganz einfach! Heute ist es Bürgerpflicht, die todbringende ‚Messermigration’ zu stoppen!"
Diese Sätze lesen sich wie eine Rechtfertigung von Akten der Selbstjustiz, die Frohnmaier in Chemnitz ausmachte und ganz einfach zur Bürgerpflicht erklärte. So verstand es auch Die Welt, die Gauland nach seiner Meinung hierzu befragte. Seine Antwort lautete: "Selbstverteidigung ist mit Sicherheit nicht Selbstjustiz. Nichts anderes ist gemeint". Wie immer man es nennt, dort ist etwas real passiert. Nach Ansicht Gaulands und Frohnmaiers gab es handgreifliche Aktionen in Chemnitz, die sich gegen vermeintliche Migranten richteten und für die sie ihr wärmstes Verständnis bekundeten. Jetzt soll das alles von linksgrünen Medien frei erfunden worden sein. In Wahrheit hatte die AfD Sachsen ihre erste Demonstration am 26.8. eilends beendet, um nicht in direkten Zusammenhang mit dem zu geraten, was in jenen Chemnitzer Momenten in der Luft lag. Selbstverteidigung, Selbstjustiz, Ausrasten, Hetzjagden, alle Anzeichen sprachen für einen Exzess der Gewalt. Es war die Stunde des Pogroms.
Aber dazu kam es nicht. Die Hetzjagden haben sich nicht zum Pogrom ausgeweitet. Das soll hier klargestellt werden, weil der Unterschied nicht verwischt werden soll und weil ich selber den Begriff in einem heftig diskutierten Artikel, der am 30.8. auf Telepolis erschien, benutzt habe. Zum Zeitpunkt des Verfassens wusste man noch nicht, was die nächsten Stunden bringen würden und so war es die Absicht des Artikels, durch eine Zuspitzung ein deutliches Haltezeichen zu setzen, um die Eskalation zu stoppen und einigermaßen zivile Standards für die Tage einzufordern, die eigentlich der Trauer um Daniel Hillig gelten sollten.
Engagierten Antifaschisten, mutigen Chemnitzer Bürgern und besonders den Musikern der Band Kraftclub ist es zu verdanken, dass wir nicht von einem Pogrom in Chemnitz sprechen müssen. Doch das Thema ist nicht abgeschlossen, wie Seehofer bei der Bekanntgabe seiner Entscheidung in der Causa Maaßen enttäuscht feststellen musste. Es kann schon deswegen nicht abgeschlossen sein, weil die Dresdner Staatsanwaltschaft 120 Strafanzeigen dazu bearbeitet. Maaßen versucht die Polizei und Justiz für seine sehr speziellen Ansichten in Beschlag zu nehmen, obwohl die noch in den Ermittlungen stecken. Der Mann, der die Verfassung schützen sollte, hat nicht nur eine fragwürdige Haltung zum Grundrecht der Presse- und Meinungsfreiheit, sondern auch zur Unabhängigkeit der Justiz.
"Linksradikale Kräfte in der SPD"
Er begnügte sich in seiner Abschiedsrede nicht damit, die Chemnitzer Ereignisse umzuschreiben und zur Front gegen die "Lügenpresse" überzulaufen. Maaßen enthüllte auch "linksradikale Kräfte in der SPD", die seinen Fall zum Anlass genommen hätten, den Austritt ihrer Partei aus der Regierungskoalition voranzutreiben. Dafür handelte er sich Kopfschütteln und viele lustige Sprüche bei Twitter ein.
Man ist nun versucht, die Angelegenheit zu personalisieren und auf die Überheblichkeit, Engstirnigkeit und Besserwisserei eines Beamten zurückzuführen, der an Selbstüberschätzung leidet und einen Karriereknick nicht verwinden kann. Wenn das alles wäre, könnten wir die Causa abhaken. Der Mann ist "verbrannt", wie es im Geheimdienstjargon mitleidslos heißt. Das begrenzt seine Einsatzmöglichkeiten für sogenannte gute Sacharbeit, sprich: Intrigen in der Schnittmenge zwischen Schwarz und Blau.
Allerdings war auch sein Vorgänger im Amt zwölf Jahre lang ein sogenannter hochgeachteter Jurist, gar ein Sozialdemokrat, bis herauskam, dass der Verfassungsschutz unmittelbar nach Auffliegen des NSU systematisch Akten von V-Leuten schredderte. Auch der Nachfolger Maaßens wird ein sogenannter untadeliger Mann sein und es wird wieder ein paar Jahre dauern, bis der dann amtierende Innenminister - Überraschung! - "menschlich enttäuscht" ist.
Maaßen war kein eigenwilliger Solist an der Spitze des Bundesamts für Verfassungsschutz, sondern ein Vertreter dieses Amts. Die kruden Ansichten, die er vortrug, sind nicht individueller Natur, sondern repräsentativ. Seine 3000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter folgen ihm in seiner Sicht der Verhältnisse und in seinem Verständnis der Behörde, die als Verfassungsschutz geschützt vor den Restriktionen der Verfassung zu operieren beansprucht - natürlich im Namen des Staatswohls, dessen Definition sie selbst vornimmt. Das mag nicht für jeden einzelnen Beschäftigten zutreffen. Vielleicht gibt es sogar eine heimliche kleine Opposition gegen den Kurs der Amtsleitung, aber sie hält den Mund.
Umgekehrt kann man nur ahnen, wie stark AfD-Sympathien in der Behörde vertreten sind. Dieses Lager hat Maaßen zum Abschied bestätigt, gestärkt und auf die Zeit nach ihm eingeschworen. Im gleichen Abwasch hat er den Chefs der befreundeten Inlandsdienste eine deutliche Botschaft hinterlassen, die nur als Aufforderung zu ähnlichem Handeln verstanden werden kann. Welchen Sinn soll es sonst gehabt haben, innerdeutsche Konflikte vor dem Berner Club auszubreiten? Natürlich macht seine Rede in den anderen Diensten die Runde und stößt dort auf großes Interesse.
Die Bundes- und Landesämter des Verfassungsschutzes haben nach dem Auffliegen des NSU ein Dutzend parlamentarischer Untersuchungsausschüsse beschäftigt. Dafür wurden Steuergelder in beachtlicher Höhe aufgewendet. Trotzdem konnte das Agieren des Dienstes in der Mordserie des Nationalsozialistischen Untergrunds nicht aufgeklärt werden. Einige Erkenntnisse wurden immerhin durch Anwälte, Journalistinnen und Journalisten zutage gefördert, was die öffentlichen Hauhalte sehr geschont hat. Leider ist noch niemand auf die Idee gekommen, die Budgets der VS-Ämter entsprechend den Kosten für die PUAs zu reduzieren.
Angesichts dieses ergebnisarmen Unterfangens erlahmt der Eifer, ein weiteres Gremium zu fordern, das sich mit dem Anspruch des Dienstes zu beschäftigen hätte, die Deutungshoheit über zentrale politische und gesellschaftliche Ereignisse zu gewinnen, den öffentlichen Diskurs zu steuern und sich handfest in die Politik einzumischen. Zumal es einen einfacheren und kostenneutralen Weg gäbe, das diskrete Netzwerken zu untersuchen.
Nach den Enthüllungen der AfD-Aussteigerin Franziska Schreiber über einen interessanten Austausch zwischen Frauke Petry und Hans-Georg Maaßen rechtfertigte sich Letzterer mit dem Argument, er habe viele solche Gespräche mit Politikern geführt, insgesamt 237 seit seinem Amtsantritt. Im Innenausschuss schlüsselte er die Treffen nach Parteien auf: "Davon 121 mit Politikern der CDU/CSU, 69 der SPD, 23 der GRÜNEN, 14 der Partei DIE LINKE und jeweils 5 mit Politikern der FDP und der AfD". Petrys Nachfolger Gauland bestätigte zwei derartige Kontakte, bestritt jedoch, dass er von Maaßen politisch beraten worden sei. Petra Pau (Die Linke) plauderte in einer Diskussion bei phoenix aus, Maaßen habe in ihrem Büro auf dem Sofa gesessen. Das ist also die Spitze des Eisbergs. Wie sieht es mit den restlichen 232 Gesprächen aus? Ist es zuviel verlangt, dass die Abgeordneten darüber berichten, vielleicht auch etwas konkreter als Frau Pau und Herr Gauland?
Auch die Äußerungen in BILD, mit denen Maaßen den Stein ins Rollen brachte, entstanden nicht in einem gewöhnlichen Interview. Vielmehr waren sie das Ergebnis eines Gesprächs zwischen dem Verfassungsschützer und der Redaktion; es verlief offenbar so angenehm, dass es Maaßen zu dem Vorschlag anspornte, seine Inhalte in die Form eines Interviews zu bringen und zu veröffentlichen. Es darf extrapoliert werden, dass der Beamte neben der Pflege der Parlamentsbeziehungen die Pflege der Presselandschaft als wichtige Aufgabe ansah. Hat er vielleicht nicht nur mit BILD gesprochen, gab es eine Art "jour fix"? Wie oft, mit wem und worüber? Viele Personen könnten etwas für die demokratische Kultur tun, wenn sie sich gegenüber ihren Wählern bzw. Lesern verantwortlich fühlen.