Historikerstreit um ukrainischen Holodomor
Sozialer Druck schadet der ergebnisoffenen Forschung
Der Begriff "Holodomor" setzt sich aus den ukrainischen Wörtern "Holod" ("Hunger") und "Mor" ("Tod") zusammen und steht für das Verhungern von drei bis fünf Millionen Menschen in den Jahren 1932 und 1933. Die UNESCO, sprach in einer Resolution von 2007 zwar von einer "nationalen Tragödie des ukrainischen Volkes", die aus Stalins Politik der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft resultierte, erwähnte aber auch die zahlreichen Opfer in nichtukrainischen Gebieten wie der Wolgaregion, dem Nordkaukasus und Kasachstan, wo vor allem ethnische Russen verhungerten.
Manchen ukrainischen Politikern reichte das nicht. Sie forderten, dass die UNESCO die Hungerkatastrophe als geplanten Völkermord an ethnischen Ukrainern einstufen sollte, was in Russland unter anderem auf den Widerspruch des Archipel-Gulag-Autors Alexander Solschenizyn stieß, der diese Forderung mit den "kühnen Verdrehungen des bolschewistischen Agitprops" verglich. Die Duma, das russische Parlament, formulierte damals eine Erklärung, in der es heißt: "Es gibt keinen historischen Beweis dafür, dass es sich um eine nach ethnischen Kriterien organisierte Hungersnot handelte [-] Millionen Sowjetbürger unterschiedlicher Herkunft fielen ihr zum Opfer" (vgl. Retrospektives Nation Building).
Applebaum vs. Fitzpatrick
Zehn Jahre später ist aus diesen unterschiedlichen Betrachtungen durch Politiker ein Krieg der Geschichtsbuchschreiber geworden, dessen symbolische Fronten aktuell Anne Applebaum und Sheila Fitzpatrick sind. Der Funke, der den Konflikt aufflammen ließ, ist Applebaums neues Buch Red Famine - Stalin’s War on Ukraine, das am 10. Oktober erscheint. Die Autorin, die für ihr 2003 erschienenes Werk Gulag - A History of the Soviet Camps den Pulitzerpreis verliehen bekam, kommt darin zum Ergebnis, dass der Holodomor von der damaligen sowjetischen Staatsführung beabsichtigt war, weil sie in einer in Bauernköpfen blühenden ukrainischen Identität eine Gefahr für ihre Machterhaltung sah.
Sheila Fitzpatrick, die Verfasserin von Stalin's Peasants - Resistance and Survival in the Russian Village after Collectivization und Everyday Stalinism - Ordinary Life in Extraordinary Times rezensierte ein Vorabexemplar von Applebaums Buch für den Guardian und kam dabei zum Ergebnis, dass das Buch zwar gut geschrieben sei, aber zu einem falschen Ergebnis komme, weil der Georgier Stalin nicht absichtlich Millionen von Ukrainern verhungern lassen, sondern die Lebensmittellieferungen von dort ohne Rücksicht auf Verluste unter den Bauern "optimieren" wollte. Die teilweise falsch wiedergegebenen Zitate, die Fitzpatrick in Applebaums Werk fand, resultieren ihrer Vermutung nach daraus, dass die Autorin nicht die Quellen selbst konsultierte, sondern aus Darstellungen (vulgo: "Sekundärquellen") abschrieb.
Stille Post mit Vorwürfen
Nach dem Erscheinen dieser Rezension am 25. August verlagerte sich die eigentlich akademische Debatte in Soziale Medien, wozu auch Applebaum beitrug, indem sie ihre Erwiderung auf die Rezension auf ihrem Facebook-Profil veröffentlichte. Das erregte unter anderem die Aufmerksamkeit des Daily-Beast-Autors David Patrikarakos, der Fitzpatrick auf Twitter eine "Schmutzkampagne" gegen Applebaum vorwarf. Der Telegraph-Autor Willard Foxton ging mit dem Vorwurf der "Stalin-Apologetik" noch etwas weiter. Und nachdem der Southhamptoner Historiker und Slawist John Schindler meinte, Fitzpatrick Applebaums Buch zur Rezension zu überlassen, sei wie den Holocaustleugner David Irving um eine Besprechung eines Werk über den Holocaust zu bitten, beschuldigte die schwedische Journalistin Andrea Chalupa die in Fachkreisen sehr angesehene Historikerin, die absolut nichts mit Irving zu tun hat, eine "Revisionistin" zu sein. Dabei befindet sich Fitzpatrick durchaus näher am wissenschaftlichen Konsens zum Holodomor als Applebaum, die Historikern vorwirft, aus Angst um Visa und den Zugang zu Archiven zu freundlich mit den Russen umzugehen.
"Unpassenden Anschuldigungen, Ad-hominem-Attacken und falsche Gleichsetzungen"
Anna Lukina, die sich an der University of Oxford mit sowjetischer Rechtsgeschichte beschäftigt, charakterisiert die Debatte in einem Beitrag für Quilette als geprägt von "unpassenden Anschuldigungen, Ad-hominem-Attacken und falschen Gleichsetzungen". Das wirkt sich ihrer Ansicht nach negativ auf die Forschung aus, weil es Wissenschaftler einem sozialen Druck aussetzt, der eine ergebnisoffene Herangehensweise hemmt. Leidtragende sind vor allem Selberdenker, denen es zu langweilig ist, schon vorher zu wissen, was hinten rauskommt.