Hoch lebe die gerechte Gewalt!
Seite 2: Die Ukraine-Frage – eine geopolitische Erinnerung
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In Kraft gesetzt ist mit dieser "Verstandeshandlung" (Kant, a.a.O.: 267) "ein Denken, das sich auf Heimat, das Vaterland, die Nation bezieht und dessen Motivation im Interesse des Fortkommens, des Erfolgs, der Durchsetzung eben des nationalen Kollektivs besteht."3 Außer Kraft gesetzt ist mit diesem "Gebrauche der Vernunft" (Kant, a.a.O: 272) "der distanzierte und unvoreingenommene Blick" (J. Schillo, a.a.O: 79).
Mit dem Ergebnis: "Wahrheit als Kriterium des Denkens im objektiven Sinne tritt dann endgültig beiseite; sie macht den nationalen Wahrheiten Platz." (J. Schillo, ebd.) Die haben ihr Kriterium der Wahrheit am zum höchsten Gut, zum reinen Wert erhobenen Maßstab des "unser Wir".
So ist Raum geschaffen für "eine breit angelegte und als nationaler Besitzstand definierte Erinnerungskultur." (J. Schillo, ebd.: 7) Einer jederzeit renovierungsbedürftigen und renovierungsfähigen Erinnerungskultur, die das deutsche Gedächtnis längst als Teil "eines gemeinsamen Gedächtnisses" (Steinmeier, Rede zum Volkstrauertag, 14.11.2021) definiert; als Teil nicht nur einer "gemeinsamen europäischen Erinnerung" (Steinmeier, Ebd.), sondern als Teil einer transatlantisch-deutsch-europäischen Nato-Erinnerungskultur, die mit der Gründung der Nato am 4. April 1949 das Licht der Welt erblickte.
In der Ukraine-Frage gilt in der abendländisch-westlichen Wertegemeinschaft diese vom obersten Priester der abendländischen Erinnerungskultur verkündete Nato-Wahrheit als internationaler, transatlantischer und deutsch-europäischer Erkenntnisstand:
Ein Krimineller will die Nato-Erweiterung als ein imperiales Projekt darstellen, das darauf abzielt, Russland zu destabilisieren. Nichts ist weiter von der Wahrheit entfernt. Die Nato ist ein Verteidigungsbündnis. Sie hat nie den Untergang Russlands angestrebt.
J. Biden, Warschau-Rede, 26.3.2022
Was heißt: In der seit eh und je kriegsträchtigen Ukraine-Frage ist es den politischen und massenmedialen Produzenten der westlichen (Welt-)Öffentlichkeit mittels ihrer konsequenten Erinnerungsarbeit weitgehend gelungen, in ihrer alles beherrschenden "Meta-Erzählung" (Shlomo Sand, a.a.O.: 48) sachliche Hinweise dieser Art von der Öffentlichkeit fernzuhalten, mithin aus dem kollektiven Gedächtnis der Nato-Völkerschaften zu tilgen:
Als die Sowjetunion zusammenbrach, verschob sich ihre Westgrenze um fast 1.000 Meilen (ca. 1.609 km) nach Osten, von der westdeutschen Grenze bis zur russischen Grenze zu Belarus. Die russische Macht hat sich nun so weit nach Osten zurückgezogen wie seit Jahrhunderten nicht mehr [...] Die Russen sahen in den Ereignissen in der Ukraine einen Versuch der Vereinigten Staaten, die Ukraine in die Nato zu ziehen und damit die Voraussetzungen für den Zerfall Russlands zu schaffen. Offen gesagt, war an dieser russischen Sichtweise etwas Wahres dran [...]
Was Russland nicht tolerieren kann, sind enge Grenzen ohne Pufferzonen und seine Nachbarn, die sich gegen es verbünden. Deswegen werden Russlands künftige Aktionen zwar aggressiv erscheinen, in Wirklichkeit aber defensiv sein.
George Friedman, Ukraine and the "Little cold War", 04.03.2014
Oder, in anderen Worten: "Nicht wir rückten dicht an die Nato-Grenzen heran. Es ist die Nato, die bereits vor unserer Haustür steht. Russland kann nicht irgendwohin zurückweichen. Die Nato aber schon", so Sergej Netschajew, Botschafter der Russischen Föderation in Deutschland Ende Januar.
Gleichwohl war die Ukraine am 07.02.2019 so frei, das Beitrittsziel zu EU und Nato in der Verfassung zu verankern. Dort heißt es:
Die Werchowna Rada der Ukraine entscheidet [...] Bestätigung der europäischen Identität des ukrainischen Volkes und der Unverhandelbarkeit des europäischen und euro-atlantischen Weges der Ukraine [...] Festlegung der Grundsätze der Innen- und Außenpolitik, Umsetzung des strategischen Kurses des Staates zur Erreichung der Vollmitgliedschaft der Ukraine in der Europäischen Union und in der Organisation des Euro-Atlantischen Vertrages.
Wie dem auch sei: fruchtbaren Boden findet die Meta-Erzählung der Nato-Erinnerungskultur mit dem Narrativ von der Nato als einem nicht um die strategische Einkreisung Russlands bemühten Verteidigungsbündnis in der vorgefundenen, ausgeprägten Parteinahme und Parteilichkeit der in den Nato-Ländern eingemeindeten Völkerschaften für ihr jeweiliges höchste Gut, für ihr jeweils heimisches "unser Wir" und dessen Wohlergehen: im Interesse des Fortkommens, des Erfolgs, der Durchsetzung eben des nationalen Kollektivs (J. Schillo).
Vom Himmel gefallen ist dieses parteigewordene Denken für "das große Wir" (Ex-Bundespräsident Gauck, 12.6.2012, "Mutbürger in Uniform"-Rede) allerdings nicht. Der eigentümliche Gebrauch des Verstandes, den der moderne Staatsbürger angesichts der Welt des Politischen sich zu eigen gemacht hat, muss ja einen Grund haben.