Hoch lebe die gerechte Gewalt!

Forderungen einer Mahnwache vor der russischen Botschaft in Berlin

Angesichts des Krieges in der Ukraine können sich die Deutschen wieder aus tiefster Überzeugung für die militärische Eskalation begeistern. Dahinter steht eine Meta-Erzählung (Teil 1)

Der Krieg in der Ukraine und der Geist der Zeit

Nicht diskutieren kann man dies: Wir sind inmitten der Gefahr eines militärischen Konflikts, eines Krieges in Osteuropa. Und dafür trägt Russland die Verantwortung.

Frank-Walter Steinmeier, 13.2.2022

Jede und jeder einzelne von uns muss jetzt eine dezidierte und verantwortungsvolle Entscheidung treffen und Partei ergreifen.

Annalena Baerbock, 1.3.2022

Aber dennoch ist die Öffentlichkeit das größte Bildungsmittel für die Staatsinteressen überhaupt.

Hegel, 1821

Dass auch Deutschland im Krieg in der Ukraine inzwischen de facto, wenngleich noch nicht de jure, eine (Nato-)Kriegspartei ist, erfährt der Einzelne alltäglich am eigenen Leib: an der Inflationsrate, an der Tanksäule, beim Einkauf, angesichts seiner Energie-Rechnungen, die ihm ins Haus flattern, solange es Energie noch gibt.

Weiter in der politischen und massenmedialen Rund-um-die-Uhr-Betreuung und Kriegsberichterstattung. Protest, Massendemonstrationen und Generalstreiks dagegen gibt es nicht. Gekennzeichnet ist der gegenwärtige "Geisteszustand der deutschen Gesellschaft" (Renate Dillmann) und der Geisteszustand der in den Nato-Ländern eingemeindeten Völkerschaften vielmehr dadurch, dass diese Völkerschaften in überragender Mehrheit "als Parteigänger ihrer Regierungen im Krieg gegen Russland" (Suitbert Cechura), die ukrainische Fahnen und Fähnchen schwenken; und im Geiste vereint mit den USA und der Nato auf musikalisch-künstlerischen Klein- und Großveranstaltungen singen und rufen: "Freiheit für die Ukraine".

Weltweite Demonstrationen gegen den russischen Einmarsch in die Ukraine (21 Bilder)

Washington, D.C. am 6. März. Bild: Frypie / CC-BY-SA-4.0

Das seit Jahr und Tag dem zugrundeliegende, von der transatlantischen und deutsch-europäischen politischen Klasse negativ gezeichnete Russland-Bild, zuoberst das des Präsidenten der Russischen Föderation, ist zweifelsohne recht erfolgreich bei den abendländischen Völkerschaften angekommen.

Weshalb festzuhalten ist: "Auf diese sorgfältig und mit eindeutiger Absicht über Jahre aufgebauten Hassbilder fallen bedauerlicherweise sehr viele Bürger herein." (Björn Hendrig)

Warum das so ist, scheint einer näheren Betrachtung wert. Dem nachzugehen, welchem Nährboden es sich verdankt, dass die staatlich produzierten Bilder des ausgemachten Feindes so fruchtbaren Anklang finden; dem nachzuspüren, warum die Öffentlichkeit, wie am Krieg in der Ukraine ersichtlich, "das größte Bildungsmittel für die Staatsinteressen ist" (Hegel) und es zustande bringt, den jeweils benötigten Geist der Zeit zu formen, auch das scheint lohnenswert.

Eine solche nähere Betrachtung steht allerdings der bundespräsidialen Aufforderung, die Diskussion um die Ukraine-Frage habe beendet zu sein, entgegen; auch steht sie dem außenministeriellen Aufruf zur Pflicht entgegen, in der Ukraine-Frage gedanklich und praktisch Partei zu ergreifen.

Der moderne Gebrauch des Verstandes und sein Kompass

Die Maxime, dass das Denken, dass der Gebrauch des Verstandes eines "Wegweiser oder Kompass" (Kant 1786)1 bedarf; einer grundlegenden "Orientierung" (Kant), die allem Denken und Nachdenken a priori innewohnt und dem Verstandesgebrauch dahingehend eingeschrieben sein soll, er möge in all seinem gedanklichen Tun angesichts der Welt des politischen Geschehens vor Augen haben und daran denken, was dieses oder jenes (außen- und welt-)politische Phänomen oder Ereignis für "Uns", für "unser Wir" bedeutet.

An diese Maxime erinnern die "offiziell bevollmächtigten Priester der Erinnerung"2 ohne Unterlass, mögen sie Frank-Walter Steinmeier, Annalena Baerbock, Olaf Scholz, Joseph Biden, Emmanuel Macron, Boris Johnson oder sonstige Politiker sein.

Zur Unterstreichung dieser Maxime gerne assistiert durch politologisch geschulte Fachexperten für welt- und geopolitische Fragen aus den sogenannten Denkfabriken, die ihrer stolzen Namensgebung durchaus gerecht werden.

Prinzipiell sehen die offiziellen Priester der Erinnerung keinerlei Grund, am "klaren Wertekompass" (Baerbock, Rede zur nationalen Sicherheitsstrategie, 18.03.2022) des modernen, des staatsbürgerlich gebildeten und politisierten Denkens und Nachdenkens zu zweifeln.

Bekommen sie doch alltäglich, auch in jeder demokratischen Wahl und der darauffolgenden Legislaturperiode ganz praktisch bestätigt, dass der "klare Wertekompass" dem modernen Gebrauch des Verstandes zugrunde liegt und die Richtung weist, mithin wunschgemäß funktioniert.

Die "Orientierung" (Kant) des Denkens und Nachdenkens am erfolgreichen Fortgang des als reinen Wert, als pure Abstraktion betrachteten "unser Wir" ist längst zur subjektiven Maxime, zum unbedingten, zum kategorischen Imperativ des Urteilens und theoretischen Schließens geworden; und findet sich auf diese Weise in eins mit dem staatlichen Interesse am erfolgreichen Fortgang des verehrten "Wir". Dementsprechend sehen die theoretischen Urteile und Schlüsse andererseits auch aus.

Keineswegs also lässt es der moderne, der staatsbürgerliche Gebrauch des Verstandes daran mangeln, bei all seinem Denken und Nachdenken in Anbetracht der (welt-)politischen Ereignisse sich konstruktiv zu fragen, was all das für "uns", für "unser Wir" bedeutet: Eingedenk dieser Identität, eingedenk dieses "höchsten Gutes" (Kant), das der staatsbürgerliche Verstand und Verstandesgebrauch für sich weiß und als Dogma fixiert hat, kommt er in seinen Urteilen und Schlüssen auch zu keinem anderen theoretischen Ergebnis, als die (welt-)politischen Phänomene und Ereignisse für "gut" oder "schlecht", "vorteilhaft" oder "nachteilig" zu befinden – für "uns".

Und denkt entlang dieses "höchsten Gutes" darüber nach, was er, seiner privaten Meinung nach "besser" oder "am besten" fände für das heimatliche, für das deutsche Wir, auch im Ukrainekrieg; und bekundet, auf der Straße befragt, in seinem Urteil eine ausgeprägte Gewaltbereitschaft und Liebe zur Gewalt: "Warum hat Deutschland so lange gezögert, endlich Waffen an die Ukraine zu liefern? Was, nur 5.000 Helme? Kann wirklich keine Flugverbotszone in der Ukraine errichtet werden?"

Die Ukraine-Frage – eine geopolitische Erinnerung

In Kraft gesetzt ist mit dieser "Verstandeshandlung" (Kant, a.a.O.: 267) "ein Denken, das sich auf Heimat, das Vaterland, die Nation bezieht und dessen Motivation im Interesse des Fortkommens, des Erfolgs, der Durchsetzung eben des nationalen Kollektivs besteht."3 Außer Kraft gesetzt ist mit diesem "Gebrauche der Vernunft" (Kant, a.a.O: 272) "der distanzierte und unvoreingenommene Blick" (J. Schillo, a.a.O: 79).

Mit dem Ergebnis: "Wahrheit als Kriterium des Denkens im objektiven Sinne tritt dann endgültig beiseite; sie macht den nationalen Wahrheiten Platz." (J. Schillo, ebd.) Die haben ihr Kriterium der Wahrheit am zum höchsten Gut, zum reinen Wert erhobenen Maßstab des "unser Wir".

So ist Raum geschaffen für "eine breit angelegte und als nationaler Besitzstand definierte Erinnerungskultur." (J. Schillo, ebd.: 7) Einer jederzeit renovierungsbedürftigen und renovierungsfähigen Erinnerungskultur, die das deutsche Gedächtnis längst als Teil "eines gemeinsamen Gedächtnisses" (Steinmeier, Rede zum Volkstrauertag, 14.11.2021) definiert; als Teil nicht nur einer "gemeinsamen europäischen Erinnerung" (Steinmeier, Ebd.), sondern als Teil einer transatlantisch-deutsch-europäischen Nato-Erinnerungskultur, die mit der Gründung der Nato am 4. April 1949 das Licht der Welt erblickte.

In der Ukraine-Frage gilt in der abendländisch-westlichen Wertegemeinschaft diese vom obersten Priester der abendländischen Erinnerungskultur verkündete Nato-Wahrheit als internationaler, transatlantischer und deutsch-europäischer Erkenntnisstand:

Ein Krimineller will die Nato-Erweiterung als ein imperiales Projekt darstellen, das darauf abzielt, Russland zu destabilisieren. Nichts ist weiter von der Wahrheit entfernt. Die Nato ist ein Verteidigungsbündnis. Sie hat nie den Untergang Russlands angestrebt.

J. Biden, Warschau-Rede, 26.3.2022

Was heißt: In der seit eh und je kriegsträchtigen Ukraine-Frage ist es den politischen und massenmedialen Produzenten der westlichen (Welt-)Öffentlichkeit mittels ihrer konsequenten Erinnerungsarbeit weitgehend gelungen, in ihrer alles beherrschenden "Meta-Erzählung" (Shlomo Sand, a.a.O.: 48) sachliche Hinweise dieser Art von der Öffentlichkeit fernzuhalten, mithin aus dem kollektiven Gedächtnis der Nato-Völkerschaften zu tilgen:

Als die Sowjetunion zusammenbrach, verschob sich ihre Westgrenze um fast 1.000 Meilen (ca. 1.609 km) nach Osten, von der westdeutschen Grenze bis zur russischen Grenze zu Belarus. Die russische Macht hat sich nun so weit nach Osten zurückgezogen wie seit Jahrhunderten nicht mehr [...] Die Russen sahen in den Ereignissen in der Ukraine einen Versuch der Vereinigten Staaten, die Ukraine in die Nato zu ziehen und damit die Voraussetzungen für den Zerfall Russlands zu schaffen. Offen gesagt, war an dieser russischen Sichtweise etwas Wahres dran [...]

Was Russland nicht tolerieren kann, sind enge Grenzen ohne Pufferzonen und seine Nachbarn, die sich gegen es verbünden. Deswegen werden Russlands künftige Aktionen zwar aggressiv erscheinen, in Wirklichkeit aber defensiv sein.

George Friedman, Ukraine and the "Little cold War", 04.03.2014

Oder, in anderen Worten: "Nicht wir rückten dicht an die Nato-Grenzen heran. Es ist die Nato, die bereits vor unserer Haustür steht. Russland kann nicht irgendwohin zurückweichen. Die Nato aber schon", so Sergej Netschajew, Botschafter der Russischen Föderation in Deutschland Ende Januar.

Gleichwohl war die Ukraine am 07.02.2019 so frei, das Beitrittsziel zu EU und Nato in der Verfassung zu verankern. Dort heißt es:

Die Werchowna Rada der Ukraine entscheidet [...] Bestätigung der europäischen Identität des ukrainischen Volkes und der Unverhandelbarkeit des europäischen und euro-atlantischen Weges der Ukraine [...] Festlegung der Grundsätze der Innen- und Außenpolitik, Umsetzung des strategischen Kurses des Staates zur Erreichung der Vollmitgliedschaft der Ukraine in der Europäischen Union und in der Organisation des Euro-Atlantischen Vertrages.

Wie dem auch sei: fruchtbaren Boden findet die Meta-Erzählung der Nato-Erinnerungskultur mit dem Narrativ von der Nato als einem nicht um die strategische Einkreisung Russlands bemühten Verteidigungsbündnis in der vorgefundenen, ausgeprägten Parteinahme und Parteilichkeit der in den Nato-Ländern eingemeindeten Völkerschaften für ihr jeweiliges höchste Gut, für ihr jeweils heimisches "unser Wir" und dessen Wohlergehen: im Interesse des Fortkommens, des Erfolgs, der Durchsetzung eben des nationalen Kollektivs (J. Schillo).

Vom Himmel gefallen ist dieses parteigewordene Denken für "das große Wir" (Ex-Bundespräsident Gauck, 12.6.2012, "Mutbürger in Uniform"-Rede) allerdings nicht. Der eigentümliche Gebrauch des Verstandes, den der moderne Staatsbürger angesichts der Welt des Politischen sich zu eigen gemacht hat, muss ja einen Grund haben.