"Hoffentlich fängt der Krieg nicht wieder an"

Flüchtlingsfrauen aus der Ostukraine vor ihrer Unterkunft, dem Romaschka-Kinderheim. Bild: U. Heyden

1,1 Millionen Flüchtlinge aus der Ost-Ukraine leben in Russland. Moskau bereitet sich auf eine neue Flüchtlingswelle vor. Besuch im südrussischen Flüchtlingsheim Solotaja Kosa

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Seit dem Beginn des Bürgerkrieges in der Ukraine im April 2014 wurde das südrussische Rostow-Gebiet zu einem der wichtigsten Flucht-Korridore für die Menschen, welche wegen dem Krieg in den nichtanerkannten Volksrepubliken Donezk und Lugansk für kurze oder auch längere Zeit Schutz in Russland suchten.

Nach Angaben der russischen Migrationsbehörde kamen zwischen dem 1. April 2014 und dem 26. Januar 2016 1,1 Millionen Ukrainer nach Russland, die bisher nicht wieder zurückkehrten. 19.000 Ukrainer, darunter 6.000 Kinder, lebten Ende Dezember 2015 in 383 Flüchtlingsunterkünften in Russland. 170.000 Ukrainer wollen für immer in Russland bleiben und haben sich nach Angaben der russischen Migrationsbehörde um die entsprechende Genehmigung bemüht.

Ein großer Teil der Ukraine-Flüchtlinge lebt in Russland bei Verwandten und Bekannten, allein im südrussischen Rostow-Gebiet sind es nach Angaben der Gebietsverwaltung 27.800 Flüchtlinge, die auf diese Weise untergekommen sind. Nur 749 Flüchtlinge im Rostow-Gebiet lebten Ende Januar in den drei Flüchtlingsheimen.

Eine dieser Unterkünfte - das Romaschka-Heim bei dem Dorf Solotaja Kosa (Goldene Landzunge) an der Bucht von Taganrog am Asow-Meer - mussten die 120 dort lebenden Flüchtlinge, darunter 47 Kinder, in diesen Tagen verlassen. Ein Teil von ihnen geht zurück in die "Volksrepubliken" Lugansk und Donezk, ein anderer Teil kommt in ein anderes Flüchtlingsheim in der Region Rostow, erklärte die Heimleitung. Und warum die Ausquartierung? Das Romaschka-Heim müsse für den Aufenthalt von russischen Kindern vorbereitet werden, die an der Bucht von Taganrog Urlaub machen werden, so die Heimleitung.

Wie in diesen Tagen bekannt wurde, bereitet sich die russische Regierung auf eine neue Flüchtlingswelle aus der Ukraine vor. Wie die Nesawisimaja Gazeta berichtete, will die russische Migrationsbehörde zu diesem Zweck Plätze für 50.000 neue Flüchtlinge schaffen. "Bei einer Zuspitzung der Situation in der Ukraine" - so die russische Migrationsbehörde - sollen Flüchtlinge aus der Ukraine vor allem in Regionen Sibiriens, dem Ural- und dem Wolga-Gebiet untergebracht werden.

Krankenschwester Ina mit ihrem dreijährigen Sohn Jegor. Bild: U. Heiyden

Jede Flüchtlingsfamilie hat ein Zimmer für sich

Die Bucht von Taganrog am Asow-Meer ist ein schöner Ort für Kinder-Urlaub. Das Wasser ist hier ruhig und nicht tief. Die Luft ist sauber. Auf den Korridoren des Kinderheims, das in einem frischen Hellgrün gestrichen ist - merkt man auf den ersten Blick nichts vom Bürgerkrieg in der Ukraine. Kinder spielen mit ihren Steiftieren. Neugierig beobachten sie die Besucher. Ein kleines Mädchen wird von der Mutter auf dem Arm gehalten, fängt aber an zu weinen, als sie unsere Besuchergruppe sieht. Viele Kinder seien traumatisiert, erklären mir die Mütter und Großmütter später.

Das Romaschka-Kinderheim liegt im Neklinowski-Bezirk, 30 Kilometer von der ukrainisch-russischen Grenze entfernt. Die Gebäude sind frisch renoviert. Die drei Mahlzeiten am Tag sind kostenlos. Jede Familie hat ein Zimmer für sich, erzählt die 29jährige Jekaterina. Sie hat zwei kleine Kinder und kommt ursprünglich aus der Bergarbeiterstadt Krasnodon im Lugansk-Gebiet.

Jekaterina aus dem Gebiet Lugansk mit ihren Kindern. Bild: U. Heyden

Die Flüchtlingskinder aus dem Romaschka-Heim gingen in die nahegelegene Schule im Dorf Solotaja Kosa (Goldene Landzunge). Sie bekamen Schulbücher und Hefte umsonst und wurden neu eingekleidet, erzählt die 29jährige Mutter Jekaterina. Spenden kamen von Privatpersonen und der russisch-orthodoxen Kirche.

Als ich mit Jekaterina sprach, saß sie bereits auf gepackten Taschen. Sie geht mit ihren Kindern zurück nach Krasnodon. Und was werden die Flüchtlinge tun? Ein Teil geht in die Ost-Ukraine zurück. Ein anderer Teil wird in ein anderes Flüchtlingsheim umquartiert. Die Schutzsuchenden sind nicht begeistert, aber ihnen bleibt keine Wahl. Sie sind schutzlose Wanderer zwischen Krieg und Frieden und vom Wohlwollen der Behörden abhängig.

Der kleine Kolja hat monatelang geschwiegen

Auf einem der langen Korridore treffe ich eine Oma in weinrotem Pullover. Sie hält ihren Enkel, den dreijährigen Kolja, auf dem Arm. Der Kleine meidet den Augenkontakt mit Fremden und sagt keinen Ton. "Zuerst dachten wir, dass er nach den Bombardierungen überhaupt nicht mehr spricht. Erst im Dezember letzten Jahres hat er angefangen zu sprechen", erzählt die Babuschka.

Kolja mit seiner Oma. Bild: U. Heyden

Der Grund seines Schweigens ist für die Oma offensichtlich. "Er hat alles gesehen. Neben uns hat man ein Wohnheim bombardiert." Wenn er das Geräusch eines Flugzeuges hört, verstecke er sich unter einem Bett. Ihre Tochter sei alleinerziehend und arbeite jetzt im Rostow-Gebiet, erzählt die Babuschka. "So können wir wenigstens Pampers für Kolja kaufen." Denn nachts mache er noch ins Bett. Das komme wohl von der nervlichen Anspannung.

Einer der wenigen männlichen Flüchtlinge im Heim ist Denis. Der 29-Jährige erzählt, er sei ohne Vater aufgewachsen und mit Mutter und Großmutter geflüchtet. Denis ist von Beruf System-Administrator, sucht intensiv Arbeit in Russland und will die russische Staatsbürgerschaft beantragen. Um sich wenigstens ein Taschengeld zu verdienen, hat er in einem landwirtschaftlichen Betrieb in der Nachbarschaft schon mal mit seiner Mutter Äpfel sortiert.

Gerne würde er in sein Heimat-Dorf Jubilejnoje zurückkehren, erzählt Denis. Aber das Haus am Rand der Großstadt Lugansk liege auf einer "strategischen wichtigen Anhöhe". "Als die ukrainische Nationalgarde unser Dorf einnehmen wollte, gab es harte Kämpfe und das ganze Dorf wurde stark beschädigt", erzählt er. Die Opoltschenzi (Aufständische) hätten die Bewohner des Dorfes dann evakuiert. Wer die Opoltschenzi waren, will ich wissen. Das seien Kämpfer aus Lugansk gewesen. "Viele von ihnen sind meine Freunde." Doch den Kontakt zu ihnen habe er verloren.

"Naziki" und "Karateli"

Im Eingangsbereich des Heims sitzt eine Gruppe Rentnerinnen aus dem Dorf Krasnyj Jar. Es liegt ebenfalls in der nichtanerkannten Volksrepublik Lugansk. "Wir lebten dort praktisch an der Front", sagt eine ältere Frau mit schlohweißem Haar und roter Hose, die sich auf ihren Krückstock stützt. "Die Naziki haben ihre Stellungen drei Kilometer von unserem Dorf entfernt. Wir sehen sie und sie sehen uns. Was sie über uns denken, wissen wir nicht. Wir wollen einfach in Frieden leben und unsere Kinder großziehen", sagt die Rentnerin.

"Naziki" (Nazis) oder "Karateli" (Mitglieder von Strafbataillonen) nennen die Rentnerinnen die Soldaten des rechtsradikalen, ukrainischen Freiwilligenbataillon Aidar, das im Juli und August 2014 das Dorf Krasnyj Jar mit Panzern beschoss.

Flüchtlingsfrauen aus dem Dorf Krasnyj Jar. Bild: U. Heyden

"Wohin sollen wir fahren?" fragt die Frau mit den roten Hosen verzweifelt. Die Fenster ihres vierstöckigen Mehrfamilienhauses seien doch nur mit Plastikplanen abgedichtet und das Dach des Hauses "Nr. 50" bisher nur zur Hälfte wieder aufgebaut.

Immerhin: Das Internationale Rote Kreuz helfe bei der Instandsetzung der Häuser. Es seien Balken, Holzplatten, Schiefer und Nägel geliefert worden. Lebens- und Reinigungsmittel liefere Russland. Das Trinkwasser müssten die Frauen, wenn sie zurückkehren, mit Eimern "wie Pferde" in ihre Wohnungen schleppen, klagt eine Rentnerin in grünem Pullover.

Und da sei noch etwas sehr Unangenehmes. Im Flüchtlingsheim bekämen sie Medikamente umsonst, aber zuhause, in Krasnyj Jar, müssten sie die Medikamente selbst kaufen. Bei einer monatlichen Rente von 2.000 Rubel (24 Euro) sei das sehr schwierig.

"Die Stadt wird bis heute beschossen"

In einem anderen Raum mit weichen Polstermöbeln komme ich mit der 60jährigen Raissa Iwanowna ins Gespräch. Sie ist Chefbuchhalterin des Quecksilber-Kombinats von Gorlowko. Die Stadt liegt nordöstlich von Donezk, nah an der Waffenstillstandslinie. "Ich habe bis zum Schluss gearbeitet", erzählt die 60jährige mit den blonden Locken und dem schwarzen Kleid nicht ohne Stolz. Doch irgendwann ging es nicht mehr. "Unser Verwaltungsgebäude wurde bombardiert und ist zerstört". Das Unternehmen mit den 3.000 Mitarbeitern sei zur Zeit nicht in Betrieb. Es werde nur das Wasser aus den Schächten abgepumpt.

Rentnerin Raissa und System-Administrator Denis. Bild: U. Heyden

Raissa lebte am Stadtrand von Gorlowka. "Die Stadt wird bis heute beschossen", erzählt sie. Im Stadtzentrum von Gorlowka sei es ruhig, "insbesondere wenn die OSZE zur Beobachtung kommt", fügt sie mit einem spitzen Lächeln hinzu. Doch am Stadtrand, wo das Haus von Raissa steht, gäbe es ständig Angriffe von kleinen, ukrainischen Einheiten. Deshalb, und weil ihre Mann herzkrank ist, hätten sie flüchten müssen.

Nicht alle Familienmitglieder blieben während der Bombardierungen bei klarem Verstand. Die Schwester von Raissa wurde psychisch krank. "Wegen der Bomben saß sie eineinhalb Jahre im Keller. Sie wollte nicht mehr weg. Mein Sohn hat uns dann drei Monate auf die Krim evakuiert." Dann seien sie wieder zurück nach Gorlowka gekommen und dann wieder geflüchtet, diesmal nach Russland an die Bucht von Taganrog.

Einigung ist "nach so viel Zerstörungen und Toten nicht möglich"

Was jetzt in der Ukraine passiere, sei vergleichbar mit Bürgerkrieg, den es 1918 in Russland gab, meint Raissa. Viele Familien in der Ukraine seien heute in zwei Lager gespalten. "In der Ukraine gibt es Propaganda. Danach lebten in Donezk und Lugansk Separatisten. Dabei waren das die beiden am stärksten industrialisierten Gebiete, welche die ganze Ukraine ernährt haben", empört sie sich.

Das Romaschka-Kinderheim, in dem bis Januar 2016 120 Flüchtlinge, darunter 47 Kinder, lebten. Bild: U. Heyden

Die 36jährige Natalja, Mutter von drei Kindern, wirft ein, "wenn die Ukraine sich von uns abgetrennt hätte, hätte wir sie nicht daran gehindert". Am Referendum im Mai 2013 hätten sich 90 Prozent der Menschen in Donezk und Lugansk beteiligt und für die Unabhängigkeit von Kiew gestimmt. Die Teile des Donezk-Gebietes, welche die ukrainischen Truppen eroberten, lebten jetzt praktisch "unter der Okkupation der ukrainischen Nationalgarde", meint Raissa.

Dass die Grenze zwischen Russland und den sogenannten Volksrepubliken - wie im Minsker Abkommen vorgesehen - jemals wieder unter Kontrolle der Ukraine kommt, glauben die Frauen nicht. "Nach so viel Zerstörungen und Toten ist das nicht möglich", meint Raissa. Und überhaupt wolle sie Staatsbürgerin Russlands werden. Petro Poroschenko sei nicht ihr Präsident. Und ihre Meinung zum Maidan 2013? Da meldet sich die 36jährige Natalja aus dem Dorf Bestschanoje bei Donezk zu Wort. "Wir waren im Schock, als wir sahen, was auf dem Maidan passierte, die brennenden Autoreifen. Das war einfach maßlos."

Natalja will mit ihren drei Kindern in ihr Dorf Bestschanoje bei Donezk zurückzukehren. Aber sie hat auch Angst. Denn dort werde "ständig geschossen". Aber ihre Kinder wollten nach Hause. "Sie haben dort ihre Freunde."

Nach ihrer Flucht im Sommer 2014 lebte Natalja mit den Kindern zunächst in einem Zeltlager, im Winter dann in festen Unterkünften. Viele Flüchtlinge seien in russische Regionen, bis weit in den Fernen Osten gereist, um Arbeit und Wohnung zu finden. Eine Freundin von ihr habe dort Arbeit in einer Brotfabrik gefunden, erzählt Natalja. Wer in Russland arbeiten wolle, werde auch Arbeit finden, wirft Raissa ein. Sie ist mit ihren 60 Jahren die älteste und erfahrenste Frau in der Gruppe.

Im Flüchtlingsheim wird Fasching gefeiert. Bild: U. Heyden

Beim Geräusch eines Flugzeuges flüchten die Kinder

Bei meinem Rundgang durch das Flüchtlingsheim werde ich von Aleksandr Tretjakow, dem stellvertretenden Leiter des Neklinowski-Bezirks begleitete. Der russische Beamte erzählt, dass er in den letzten zwei Jahren selbst drei Familien aus der Ukraine aufgenommen habe.

Erschüttert war er von einem Erlebnis, als er nachts mit den ersten Flüchtlingskindern im Heim ankam. "Da startete in der Nachbarstadt Taganrog ein Flugzeug. Die Kinder laufen augenblicklich auseinander und versteckten sich hinter Bäumen. Ich habe geweint. Wir haben sie lange gesucht." Als ich ihn frage, ob er den Lesern in Deutschland etwas sagen will, wird der Beamte plötzlich sehr emotional. "Lasst uns in Frieden miteinander leben. Ich habe einige Freunde in Deutschland. Lasst uns zusammen Geschäfte machen. Lasst uns zusammen in den Weltraum fliegen."

"Hoffentlich fängt der Krieg nicht wieder an", sagt die Rentnerin in grünem Pullover aus dem Dorf Krasnyj Jar. Die Frau wirkt unruhig. Sie hat wie alle ukrainischen Rentnerinnen in den letzten beiden Jahren viel durchmachen müssen. Das Leben im Kinderheim an der Taganrog-Bucht ist da wie ein kurzer Sonnenstrahl.