Hubert Aiwanger, das Nazi-Pamphlet und die SZ: Der eigentliche Skandal liegt ganz woanders
Medien sind fassungslos, dass sie den bayerischen Regierungsvize nicht gestürzt haben. Schlimm ist, dass man das gut finden muss. Ein Telepolis-Leitartikel.
"Operation Weiter-so" titelte der Spiegel in seiner Online-Ausgabe nach der Entscheidung des bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder, an seinem Vize Hubert Aiwanger festzuhalten, und sprach von einem "Sieg der Populisten".
Auch der Süddeutschen Zeitung, die den Eklat um ein antisemitisches Pamphlet des Gymnasiasten Aiwanger vor dreieinhalb Jahrzehnten, aber sechs Wochen vor der Landtagswahl im Freistaat losgetreten hatte, war die Fassungslosigkeit anzumerken, als sie mit der Schlagzeile "Eine verhängnisvolle Affäre" nachlegte.
Es half alles nichts: Der Populist Aiwanger, dessen Freie Wähler in Bayern als Bollwerk gegen die AfD gelten, was zugleich bedeuten muss, dass sie deren Positionen übernehmen, was ja Teil der Kontroverse ist, bleibt, so entschied Söder.
Das Schlimme an dieser medial-politischen Affäre ist, dass man dem als Demokrat - also auch als Demokrat mit einer antifaschistischen Grundhaltung, die, wie die Dietrich einst betonte, zwingend auf Anstand beruht - zustimmen muss.
Denn schaut man sich die Causa Aiwanger genauer an, fallen Ungereimtheiten auf. Und die betreffen den Vorwurf an sich, der sehr selektiv gehandhabt wurde, und die Rolle der Medien.
Denn die Medien, vor allem die genannten, haben sich als Ankläger, Richter und Henker aufgespielt. "Aiwanger muss weg", forderte die Grünen-nahe taz im Einklang mit einer Petition auf der Kampagnenplattform Campact, in der es hieß: "Hubert Aiwanger muss entlassen werden!" Bei so viel blindem Aktionismus wusste man am Ende nicht mehr, wer was wo geschrieben und wer mutmaßlich von wem abgeschrieben hat.
Und genau das weist auf ein tiefer liegendes Problem hin: Journalismus ist kein Aktionismus. Und er hat nicht zu entscheiden, was Gerichte zu entscheiden haben, oder gar deren Urteile vorwegzunehmen oder überflüssig zu machen.
Die Frankfurter Allgemeine Zeitung hat in einem medienkritischen Kommentar unter der Überschrift "Wenn die Jagd begonnen hat" zu Recht auf den diffamierenden Charakter einer solchen Berichterstattung hingewiesen.
Werden Aussteigerprogramme unattraktiv?
Der FAZ-Redakteur zitierte auch den Sozialdemokraten Sigmar Gabriel, der treffend bemerkt habe, "dass man sich alle Aussteigerprogramme sparen könne, wenn man 35 Jahre später noch für den Wahnsinn der eigenen Jugend gebrandmarkt werde".
Fast verzweifelt ungläubig musste man auf den Gegenstand des Skandals blicken: Es ging ernsthaft um ein Pamphlet in einem Schulranzen vor 35 Jahren? Und das sollte 2023 einen Wahlkampf mitentscheiden?
Nicht nur das, auch der Vergleich mit schwerwiegenderen Fällen, muss zu denken geben. Als der ehemalige Hitlerjunge Joseph Ratzinger 2006 München besuchte, jubelte die Süddeutsche und schrieb noch vier Jahre später: "Joseph Ratzinger war nie freiwillig Mitglied der HJ". War Ratzinger nicht einfach schlauer als Aiwanger, indem er braune Flecken in seiner Vergangenheit offenlegte und so die Diskurshoheit behielt?
Beispiele von Politikern mit Nazi-Vergangenheit oder Nazi-Verharmlosung in der Bundesrepublik gibt es zuhauf. Kaum einem hat es geschadet.
Der ehemalige NSDAP- und spätere CDU-Politiker Kurt Kiesinger, dritter Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland, war NS-Funktionär, auch im Auswärtigen Amt.
Der ehemalige baden-württembergische Ministerpräsident Hans Filbinger gehörte als NS-Jurist zum Mordapparat der Nazis. Noch wenige Tage nach Ende des Zweiten Weltkriegs, also nach dem Zusammenbruch des Hitler-Regimes, verhängte er ohne erkennbaren Zwang mehrere Todesurteile gegen junge Männer, die sich den Kampfhandlungen entziehen wollten. Er wurde dafür nie zur Rechenschaft gezogen.
Nun gut, könnte man sagen, das waren andere Zeiten. Aber wo war die Medienkampagne mit Rücktrittsforderungen gegen Günther Oettinger (CDU), der noch 2007 bei der Beerdigung des Ex-Nazis Filbinger sagte:
Anders als in einigen Nachrufen zu lesen, gilt es festzuhalten: Hans Filbinger war kein Nationalsozialist. Im Gegenteil: Er war ein Gegner des NS-Regimes. […] Es bleibt festzuhalten: Es gibt kein Urteil von Hans Filbinger, durch das ein Mensch sein Leben verloren hätte."
War seine späte und widerwillige Distanzierung so glaubwürdig, dass er heute unbehelligt eine Privatuniversität leiten kann?
Und so stehen die Freien Wähler in den Umfragen da
Der Skandal um Hubert Aiwanger zeigt damit die extreme Ungleichbewertung, mit der die Leitmedien der NS-Vergangenheit von Spitzenpolitikern begegnen. Das heißt nicht, dass die Verwicklung des Freie-Wähler-Chefs in die Flugblattaffäre und sein Umgang damit zu vernachlässigen sind. Es bedeutet aber, dass die Medienkampagne dazu unglaubwürdig bis verwerflich ist.
Die eigentliche Aufgabe einer demokratischen Presse ist es, mündige Bürgerinnen und Bürger in demokratischen Prozessen durch Information und Aufklärung in ihren Entscheidungen zu unterstützen. Rücktrittsforderungen gehören nicht dazu.
Sehr wohl aber die Aufarbeitung der strukturellen Verflechtungen zwischen dem Parteiapparat der Bundesrepublik und dem NS-Staat. Doch dieser Aufgabe haben sich andere Akteure angenommen.
Die Süddeutsche wird den Ruch nicht los – und Aiwangers Anhänger werden da nachhelfen –, in den Landtagswahlkampf eingreifen zu wollen, Mit welchen Motiven eigentlich? Aufgrund welcher Verflechtungen? Solche Fragen stehen jetzt im Raum. Und das ist schlimm, weil Aiwanger, wie Telepolis kommentiert hat, kein Opfer ist.
Die Causa Aiwanger hätte von Anfang an anders laufen müssen. Nämlich ohne jeden Versuch, den demokratischen Wahlprozess zu beeinflussen. Ohne das unschwer erkennbare Ansinnen, eine Auseinandersetzung über politische Programme und Positionen durch ein Verfehlen von 35 Jahren zu verdrängen, das keinen unmittelbar erkennbaren Zusammenhang zur Aktualität hat.
So hat eine personifizierte Kampagne wieder einmal vieles verdrängt: eine vorbehaltlose Auseinandersetzung mit NS-Spuren in der Bundes- und Landespolitik, einen Dialog mit Aiwangers Wählerschaft in Bayern, einen Streit auch um Inhalte. Aber klar, das wäre aufwendiger gewesen. Und hätte weniger Zugriffe und vielleicht Abonnements gebracht.
Am 8. Oktober ist Landtagswahl in Bayern. Die Freien Wähler haben in den Umfragen zuletzt vier Punkte zugelegt und liegen bei 15 Prozent.