Hybris des Westen: Drei Jahrzehnte Chaos und Niedergang
USA und Europa verlieren globalen Einfluss, in Afrika, im Nahen Osten und Asien. Sie antworten darauf mit Gewalt und Repression. Ein Rezept für den Untergang.
Nach dem Fall der Berliner Mauer feierte sich der Westen, die USA und Europa, als Sieger der Geschichte. Geschichte wurde in einer Art globaler Selbstermächtigung für beendet erklärte.
Was nichts anderes heißt als: Es gibt keine bessere Welt als die vom Westen erschaffene. Wir sind im irdischen Paradies angelangt. Was die Menschen und insbesondere "der Rest der Welt" außerhalb der reichen Industriestaaten davon hielten, war irrelevant.
Verletzliche Supermacht
Die USA und ihre Nato-Verbündeten erklärten sich zugleich zu Weltpolizisten, die nun ungehindert für Ordnung sorgen würden. Dem Sich-auf-die-Schulterkopfen und Triumphalismus folgten auch Taten. Doch nicht Ordnung und westliche Zivilisation verbreiteten sich damit, sondern was folgte war Blut, Instabilität und Niedergang.
Der erste Golfkrieg und die Militäroperationen der Nato in Jugoslawien ließen schon erkennen, wohin die Reise gehen sollte. Dann kamen die Anschläge vom 11. September 2001.
Es war ein einschneidendes Ereignis. Nach Jahrzehnten, in denen die USA überall auf der Welt mit Gewalt ihren Willen durchsetzen konnten (von Indochina bis Lateinamerika), wurden für einen Moment die Kanonenrohre umgedreht.
Die Vereinigten Staaten von Amerika – eine Insel der Sicherheit, abgeschirmt von den Konfliktherden der Welt, die sie oft selbst antrieben – zeigten sich verletzlich. Es war auch eine narzisstische Kränkung der "einzig verbliebenen Supermacht" auf der Welt.
Das Tor zur Hölle
Die angeschlagene Supermacht mit der mächtigsten Militärmaschine in der Menschheitsgeschichte ließ daraufhin ihre Muskeln spielen. Der Überfall auf Afghanistan zog die US-Truppen in einen blutigen Sumpf und stieß das ärmliche Land vollends in den Abgrund.
Die Irak-Invasion öffnete dann "die Tore zur Hölle" im Nahen Osten, wie es Generalsekretär der Arabischen Liga, Amr Moussa, vorhersagte.
Nach Angaben der Brown University wurden 4,5 Millionen Menschen im Zuge der sogenannten "Antiterrorkriege" getötet, die zugleich immer mehr Terror züchteten.
Dazu kamen Abu Ghraib, Guantánamo, das Wikileaks-Video "Collateral Murder", die darauffolgende Jagd auf Julian Assange sowie insgesamt auf Journalisten, Kritiker und Whistleblower, der Abbau von Bürgerrechten und der Meinungsfreiheit.
Die Weltpolizisten gehen auf globale Streife
Die Weltpolizisten öffneten zugleich eine andere Front. Mit einer ökonomischen Schocktherapie von Privatisierung und Liberalisierungen, angeleitet von US-Beratern, kollabierte die russische Wirtschaft und führte zu einem beispiellosen Rückgang der Lebenserwartung dort. Wladimir Putin erbte diesen gesellschaftlichen Frust und setzte auf Nationalismus und neue Stärke.
Eine ähnliche Politik hatte man in den USA ab den 1970er-Jahren und später auch in Europa bereits durchgesetzt. Mit dem Instrumentenkasten "Washington Konsens" oder "Neoliberalismus" wurden die Demokratien "marktkonform" gemacht.
Die Auswirkungen der Maßnahmen waren in westlichen Industriestaaten zwar nicht derart drastisch wie in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion (da die "Medizin" schonender verabreicht wurde und die Ökonomien viel gefestigter waren). Aber es fand ebenfalls ein schleichender sozio-ökonomischer Niedergang in Form von wachsender Ungleichheit, Ausbreitung von Armut, stagnierende bis sinkende Reallöhne und Abbau des Wohlfahrtsstaats statt.
In den USA ist die Lebenserwartung jetzt sogar so stark wie nie zuvor in den letzten hundert Jahren zurückgegangen.
Die Nato als Krisenbeschleuniger
Gleichzeitig wurde die Nato gegen Versprechen, die man Gorbatschow machte, weiter nach Osten ausgedehnt. Die westliche Militärallianz rückte immer näher an die russischen Grenzen, während Moskau warnte und deutlich signalisierte, dass Georgien und die Ukraine rote Linien seien für ihre eigenen Sicherheitsbedürfnisse.
Das Bündnis erhielt auch den Auftrag, Regionen ökonomisch auf westfreundlichem Kurs zu halten. Der damalige Nato-Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer teilte auf einer Nato-Tagung im Juni 2007 mit, dass "die Nato-Truppen Pipelines bewachen müssen, die Öl und Gas transportieren, das für den Westen bestimmt ist". Sie sollen insgesamt die von Tankern genutzten Seewege und andere "entscheidende Infrastrukturen" des Energiesystems schützen.
Doch der Versuch, die Welt mit Druck, Erpressungen und "militärischen Lösungen", manchmal auch mit ökonomischen Anreizen, unter Kontrolle zu bringen, funktioniert immer weniger. Die Unschlagbarkeit des Westens unter Führung der Vereinigten Staaten, die Fähigkeit, dem Rest der Welt seinen Willen mit Verweis auf die militärische und ökonomische Überlegenheit aufzudrücken, erodiert seit Jahrzehnten immer mehr.
Die Kriegsunternehmungen in Afghanistan, Irak, aber auch in Libyen hinterließen Chaos, während die USA gezwungen waren, ihre Truppen am Ende nach langjähriger Besatzung zurückzuholen und den Einflussverlust hinzunehmen.
Durchhalteparolen im Ukraine-Krieg
Doch trotz der offensichtlichen Desaster macht der Westen weiter wie zu Zeiten, als man noch glaubwürdig Dominanz ausüben konnte. Anstatt Konflikte zu deeskalieren, setzt man auf Konfrontation.
In der Ukraine führt man seit dem Sturz der Janukowitsch-Regierung und Maidan-Proteste 2014 de facto einen Stellvertreter-Krieg mit Russland. Diplomatische Lösungen wären machbar gewesen (vor allem, wenn die USA erklärt hätten, die Sicherheitsbedürfnisse Moskaus zu berücksichtigen und die Ukraine nicht in die Nato aufzunehmen).
Nun droht das Ganze nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine im Februar 2022 in einem weiteren Fiasko zu enden. Die Ukraine ist trotz massiver Unterstützung durch den Westen weit entfernt zu siegen, im Gegenteil.
Trotz der düsteren Aussichten auf dem Schlachtfeld, der Zerstörung der Ukraine, der Tötung von vielen Tausenden Ukrainern, werden in Europa und USA unbeirrt Durchhalteparolen und Siegesstimmung verbreitet. An die Stelle von Realpolitik ist längst Illusionspolitik getreten.
Die chinesische Rebellion
Das historische Sanktionsregime gegen Russland hat das Land dabei kaum schädigen können, vielmehr die Integration mit China und die Kooperation innerhalb der Brics-Staaten verstärkt, die sich immer mehr vom Westen absetzen. Und zugleich wurde Europa durch die Sanktionen wirtschaftlich geschädigt, sie haben den Lebensstandard hierzulande einbrechen lassen.
Gegen Beijing wirkt man ebenfalls machtlos. Wenn Brüssel oder Washington mit Sanktionen und Strafen drohen, zuckt man in China mit den Schultern. Dann eben nicht, sagt man sich. Oder man warnt die USA, mit ihren Drohungen aufzuhören und keine "rote Linien" zu übertreten, wie gerade heute geschehen.
Der chinesische Markt ist einfach zu wichtig, zu dominant, als dass der Westen ihn ignorieren oder mit Befehlen dirigieren könnte, wie noch in der Vergangenheit.
Der Verlust von Afrika
In Afrika sieht es nicht besser aus. Nach Staatscoups in der Sahelzone haben der Niger und der Tschad ihre militärische Zusammenarbeit mit den USA aufgekündigt. In Niger müssen die US-Truppen das Land verlassen und die zentrale Drohnenbasis aufgegeben. Auch im Tschad wird Ähnliches passieren.
In Mali und Burkina Faso nach Regierungsstürzen sowie in Äthiopien oder Senegal nach Regierungswechseln ist man dabei, sich neu zu orientieren. Es geht auch um Öl- und Gasverträge. Die alten Kolonialmächte drohen ins Abseits zu geraten.
Die Junta in Niger verkündete diese Woche, dass die staatliche chinesische Ölgesellschaft eine Vorauszahlung von 400 Millionen Dollar für den Kauf von Rohöl aus dem nigrischen Agadem-Feld geleistet habe.
Während Frankreich und die USA aus den Ländern geworfen werden, ziehen Russland (auch russische Militäreinheiten als Ausbilder) und China ein. Das Wall Street Journal schreibt in seinem Leitartikel unverblümt: "In der neuen Ära des Wettbewerbs der Großmächte ist Afrika ein Ort, an dem die USA verlieren".
In Lateinamerika ist das längst geschehen. Die Vereinigten Staaten mussten ihre Militärbasen schon vor längerer Zeit räumen, auch wenn sie versuchen, diesen Trend wieder umzukehren und Marinestützpunkte in den wenigen verbliebenen befreundeten Staaten zu errichten. Auch ökonomisch schlugen die Staaten Lateinamerikas einen von den USA unabhängigen Weg ein und gründeten eigene Handelsorganisationen.
Israelisch-amerikanischer Gaza-Krieg
Und dann ist da der Nahe Osten mit seinen weiter enormen Ressourcen. Der Gaza-Krieg, der fünfte bereits, und die anhaltende eherne Unterstützung Israels durch die USA sowie, wenn auch zunehmend mürrischer, der europäischen Länder, bei dem, was der Internationale Gerichtshof als "plausiblen Völkermord" bezeichnet – fast täglich kommen neue Details von Grausamkeit ans Licht (zuletzt Massengräber und Anzeichen von Folter) –, wirkt wie ein Krisenbeschleuniger beim Niedergang des Westens.
Während in der Ukraine ein fataler direkter Krieg zwischen der Nato und Russland droht, inklusive atomare Bedrohung und der Aussicht auf einen dritten Weltkrieg, könnte der Nahe Osten durch die Eskalation der Netanjahu-Regierung in Brand gesetzt werden. Die militärischen Schlagabtausche zwischen Israel und dem Iran, die Huthi-Angriffe im Jemen, die wechselseitigen Angriffe an der Grenze zum Libanon mit der Hisbollah sind ein ständiges Spiel mit dem Feuer.
Die USA, der Westen, haben in dieser Eskalation nichts zu gewinnen, nur zu verlieren. Die Weltgemeinschaft haben sie längst dabei verloren. Der Globale Süden wendet sich von ihnen ab.
Die ehemalige palästinensische Unterhändlerin Diana Buttu spricht beim Gaza-Krieg von einem "israelisch-amerikanischen Angriff". Das denkt ein Großteil der Welt. Israel mit den USA werden diesen Krieg am Ende nicht gewinnen können, man hat auch gar kein "Endgame" außer endlose Zerstörung, während die Region droht, in Chaos zu versinken.
In einer aktuellen Studie von Amnesty International warnt deren Generalsekretärin Agnès Callamard, dass die offensichtlichen Kriegsverbrechen Israels trotz UN-Resolution und Aufforderung des Weltgerichtshofs seit Monaten weitergehen, mit unausgesetzter Unterstützung der USA und anderer Staaten wie Deutschland. Damit stehe das internationale System und internationales Recht vor dem Zusammenbruch.
Eine zerbrechende Ordnung
Die alte globale, westlich dominierte Ordnung, kodifiziert in Werten und internationalen Regeln, erodiert zunehmend, militärisch, politisch, und auch rechtlich und ethisch. In Europa wächst derweil die Unzufriedenheit und der Frust in den Gesellschaften, der sich in Rechtsentwicklungen und im Aufstieg von rechtsextremen Parteien und politischen Galionsfiguren zeigt.
Der Westen, die politischen Führungen und Eliten, reagieren auf den Kontrollverlust mit mehr Gewalt, Waffen, Eskalation und nach innen mit Repression und Angriffen auf demokratische Rechte, um die "außer Kontrolle geratene" Bevölkerung in die Spur zu bringen. Statt Politikänderung und Dialog gibt es Einschüchterung und Meinungseinschränkungen.
Damit trampelt der Westen gerade auf den Werten, die man vorgibt, überall auf der Welt zu verteidigen. Das sieht die Welt, das sehen die Menschen überall sehr genau. Mit der schwindenden Glaubwürdigkeit drohen die USA und Europa in ihrer eigenen Hybris unterzugehen.
Es liegt an der Zivilbevölkerung, das zu verhindern und die Regierungen dazu zu bringen, die hehren Ideale westlicher Zivilisation nicht nur in Reden zu proklamieren, sondern ihnen auch in Taten zu folgen.