IS-Frauen aus Raqqa: Enttäuschte Dschihad-Groupies

Screenshot eines Clips des Interviews von Jenan Moussa (rechts im Bild) mit IS-Frauen. Quelle: Akhbar al-An, Twitter

Militärisch wird der IS in die Ecke gedrängt, ideologisch bleibt das Grauen

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Militärisch wird der IS in Syrien und Irak in die Enge getrieben. Die Erwartung, dass in Mosul und Raqqa demnächst Jubelfeiern anstehen, ist unübersehbar. Auch wenn es hohe Verluste und große Mühen gibt, die Vertreibung der IS-Milizen aus den beiden Städten wird als Gewissheit behandelt, als bloße Frage der Zeit. Inwieweit die IS-Ideologie weiter ihre Kreise zieht, ist ein dagegen ein ganz anderes Feld.

Mosul: Erfolge, aber brutaler Widerstand

Aus Mosul wird von einem beständigen, aber sehr mühsamen und verlustreichen Vormarsch der irakischen Streitkräfte berichtet. Es gibt Rückschläge. IS-Milizen sollen am Sonntag mit Schläferzellen Gegenoffensiven in bereits eroberten Stadtvierteln unternommen haben, die die irakischen Streitkräfte überraschten und die Rückeroberung der Altstadt aufhielten. Der Widerstand des IS wird als erheblich bezeichnet, die andauernden Kämpfe in der Altstadt als schwer und brutal.

Dennoch gab es gestern Jubelbilder, Bilder von Feiern im Osten der Stadt und die offizielle Meldung, dass die irakischen Anti-Terror-Einheiten, die Bundespolizei und die 16. Division der irakischen Armee 50 Prozent der Altstadt befreit haben, was die Hoffnung schürt, dass die Kämpfe der Stadt bald beendet sind.

Raqqa: Hohe Verluste für SDF

Auch aus Raqqa gibt es Erfolgsmeldungen, doch auch sie sind voll mit bitteren Erfahrungen, auch dort sind die Verluste für die Angreifer der SDF beträchtlich. Die von kurdischen Truppen geführte Offensive kommt im Westen der Stadt voran, ihr stehen aber Autobomben und Selbstmordattentäter entgegen. Die Kämpfe werden sich aller Wahrscheinlichkeit nach auch in Raqqa länger hinziehen, als die Generäle Journalisten gegenüber prognostiziert haben.

Dazu wird aktuell von Angriffen der türkischen Streitkräfte und ihrer Verbündeten auf Orte in Afrin im Norden Syriens berichtet, was zur Folge haben könnte, dass Teile der kurdischen Milizen von der Offensive abgezogen werden, um der YPG in Afrin zu helfen.

Die Flüchtlinge

Dies ist nur ein grober Lagebericht, keine Nahaufnahme, die den Erfolgsmeldungen noch mehr Kriegshärte gegenüberstellen würde. Völlig ausgelassen ist die Lage der Zivilbevölkerung. Davon abgesehen, dass von sporadischen Meldungen abgesehen so gut wie nichts über die zivilen Opfer von Luftangriffen, Granatenbeschuss und Sprengstofffallen berichtet wird, kann man sich anhand der normalen Berichterstattung nur ein recht oberflächliches Bild von den Massen an Flüchtlingen machen, die dem Krieg in Mosul und Rakka entkommen sind.

Allein die Zahlen stellen eine kaum fassbare Dimension dar. Laut UNHCR, die sich auf irakische Behördenangaben stützt, sind insgesamt 750.000 Personen aus Mosul geflohen. Für das Gouvernement Raqqa beziffert das UNHCR die Zahl der Geflüchteten allein im Mai auf 100.000.

Wie ein Flüchtlingslager bei Raqqa aussieht, davon kann man sich auf einem 360°-Panorama-Bild des niederländischen Journalisten Harald Doornbos einen Eindruck machen.

Besuch bei Frauen von auswärtigen IS-Kämpfern

Doornbos besuchte zusammen mit Jenan Moussa, Reporterin des arabischen Fernsehsenders Akhbar al-Aan TV dieses Lager im Norden Raqqas. Moussa hatte kürzlich mit einer Undercover-Reportage aus Idlib (Video mit englischen Untertiteln), die zeigt, wie stark al-Qaida/al-Nusra dort vertreten ist, für Aufmerksamkeit gesorgt. Nun hat sich Moussa auf den Weg nach Raqqa gemacht, um sich, soweit möglich, vor Ort ein Bild von der Lage zu machen.

Dazu gehören auch Eindrücke von Geflüchteten, über die man ansonsten nicht so viel erfährt: Frauen von IS-Mitgliedern, die als foreign fighters für das IS-Kalifat kämpfen. Auf Englisch nachzulesen, sind Moussas Eindrücke in zwei Tweet-Reihen (hier und hier).

Die Journalistin hat mit sieben Frauen aus dem Libanon, aus Tunesien, Dagestan und Syrien gesprochen, ihre Männer sind IS-Kämpfer aus Frankreich, Malaysia, Tunesien und der Türkei. Laut Moussa sind die "ausländischen IS-Familien" - die Frauen haben Kinder -, nicht freiwillig ins Flüchtlingslager gekommen - "Sie haben sich nicht ergeben" -, sondern wurden von SDF-Mitgliedern bei ihren Fluchtversuchen, angeblich Richtung Türkei, geschnappt. Im Lager werden sie von den anderen Flüchtlingen gesondert untergebracht, um Aggressionen zu vermeiden.

Vom IS enttäuscht, aber weiterhin ideologisch linientreu

Nun kann man einwenden, dass sieben Frauen nicht repräsentativ sind, allerdings bestätigen deren Aussagen in einem wesentlichen Punkt eine beunruhigende Erkenntnis, die vom französischen Dschihad-Szene-Kenner David Thomson in die Debatte gebracht wurde. In seinem Buch über Dschihad-Rückkehrer aus Syrien ("Les Revenants", leider noch(?) nicht auf Deutsch erhältlich) stößt der Leser bei allen Wiederkehrern, die Thomson porträtiert, auf eine Gemeinsamkeit: Sie sind vom IS enttäuscht, aber sie sind weiterhin ideologisch linientreu. Sie hängen weiter einer radikalen Auslegung des Islam an.

Auch bei den Gesprächspartnerinnen von Jenan Moussa zeigt sich dieses Phänomen. "Man muss verstehen, dass sie alle an die Idee des Islamischen Staates glauben. Sie behaupten jetzt nur, dass der IS nicht der wahre ist." Dass sie es nun bedauern, sich dem IS angeschlossen zu haben, ist dem Eindruck der Journalistin nach lediglich dem geschuldet, dass es mit dem IS abwärts geht. Sie wollen nun ihr altes Leben zurück, ihre Landesvertretungen sollen ihnen helfen. Die Frage wird sein, wer sie aufnehmen wird.

In Frankreich wurden die Ansichten von David Thomson von Wissenschaftlern, Publizisten und Experten, die in Talk-Shows auftreten lange nicht ernst genommen. Weil auch er als Referenz nur Kontakte und Gespräche zum Dschihad-Milieu angeben konnte und keine empirischen Studien. Vor allem aber hatte er keine Thesen parat, die sich dem Mainstream freundlich fügten.

Denn Thomson warnte nicht nur vor Gefahren einer tiefsitzenden Bereitschaft zur Radikalität, als man auch in Frankreich noch sehr darauf achtete, bloß keine Aussagen zu tätigen, die zu Missverständnissen, Ressentiments und einem Generalverdacht gegen Muslime führen könnten, was ihm Experten vorhielten, Thomson ging noch weiter.

Er erklärte, dass die französische Öffentlichkeit und Politiker noch nicht begriffen, was es mit dem Phänomen auf sich habe, dass sich so viele dem Dschihad anschlossen. (Thomson hielt sich zu einer Zeit in Tunesien auf, als sich kurz nach dem Aufstand 2011 Tausende auf den Weg zum Dschihad machten, das hat seine Arbeit geprägt, daher stammen viele Kontakte zur Szene, die er im Laufe der Zeit vergrößern konnte).

De-Radikalisierungsmaßnahmen: Wirkungslos

Thomson ist aufgrund seiner Erfahrungen davon überzeugt, dass De-Radikalisierungsprogramme scheitern. Sie seien kein Mittel, um die Dschihad-Jünger von ihren Einstellungen abzubringen. Die Länder, zu denen die enttäuschten IS-Anhänger zurückkehren wollen, haben keine Antwort darauf, kein probates Rezept dafür, wie sie mit diesen umgehen sollen. Der französische Geheimdienstchef warnte im letzten Jahr davor, dass man noch keine Ahnung habe, wie man mit Kindern von IS-Eltern verfahren soll. Da kämen Probleme auf Frankreich zu.

Liest man sich die Antworten durch, die Jenan Moussa von den Dschihad-Frauen übermittelt, so zeigt sich ein hoher Grad an Verrohung und Ausblendung der Realität um sie herum, was wahrscheinlich auch auf die Kinder abgefärbt hat, zumal in der Umgebung, in der sie die letzten Jahre aufgewachsen sind.

Verrohung und Ausblendung der Wirklichkeit

Die Frauen zeigen sich als Opfer des IS, waren aber offensichtlich nicht imstande, sich schon vor ihrer Reise ins gelobte IS-Land über Videos davon in Kenntnis zu setzen, dass sich der IS seiner außerordentlichen Beziehung zu Gewalttaten rühmte. Sie wussten anscheinend weder vorher noch während ihres Aufenthaltes von diesen Grausamkeiten, haben sie verdrängt oder wie das Abhacken einer Hand sogar als gerecht empfunden.

Auch dass Minderjährige als Sklavinnen gehalten wurden, die vergewaltigt wurden, mit schwerwiegenden körperlichen und psychischen Folgen, hat den Alltag der von Jenan Moussa Befragten nicht groß gestört. Wenn sie, wie sie berichten, einigen Sklavinnen zur Freiheit verhalfen, dann war dies mit Eifersucht motiviert. Kritik an der ausgeübten Gewalt im IS, an Zerstörungen in Raqqa, bekam die Journalistin nicht zu hören.

Ihr sei während des Interviews die Frage in den Sinn gekommen, wie die Frauen sie wohl behandelt hätten, wenn sie eine Gefangene des IS gewesen wäre, so Jenan Moussa. Die Antwort ist wahrscheinlich gruslig.