"Ich halte es für legitim, aus Armutsgründen sein Heimatland zu verlassen"

Miriam Fassbender zur Migrationsbewegung in Afrika und die Abschottungspolitik der EU

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Die Regisseurin und Filmemacherin Miriam Fassbender hat in ihrem Buch 2850 Kilometer. Mohamed, Jerry und ich unterwegs in Afrika. Tagebuch einer Flucht ihre Erfahrungen auf den Fluchtwegen der Menschen in Mali, Algerien und Marokko festgehalten. Telepolis sprach mit der Autorin.

Frau Faßbender, gibt es Zahlen, wie viele Menschen sich jährlich von ihren Heimatländern in Afrika zur Nordküste des Kontinents aufmachen, um über das Mittelmeer nach Europa zu gelangen?
Miriam Fassbender: Ich denke es ist schwierig, authentische Zahlen dafür zu bekommen, weil die Herkunfts-, Transit- und Schengen-Staaten mit zweierlei Maß messen. Flüchtende werden unterwegs illegalisiert, gelten vor allem in Ländern wie Algerien und Marokko als "inexistent" und werden zwischen den Staaten hin- und hergeschoben.
Von Europa wird streng zwischen politischen und "Wirtschaftsflüchtlingen" getrennt, wie viele Menschen aufgrund von Armut oder Perspektivlosigkeit gezwungen sind, ihre Heimatländer zu verlassen, ist schwer überschaubar, vor allem da es gerade im subsaharischen Afrika nach wie vor eine nomadische Lebensweise gibt: Wenn man an einem Ort keine Arbeit findet (respektive nicht überleben kann), bewegt man sich an einen anderen Ort oder in ein anderes Land der afrikanischen Union weiter.
Die zunehmende Exterritorialisierung und Militarisierung unserer Außengrenzen unterbricht auch natürliche Nomadismusbewegungen im subsaharischen Afrika.
Wie lange benötigen die Menschen auf dem Weg von ihrem Heimatland nach Europa?
Miriam Fassbender: Ich habe in Marokko Subsaharis kennen gelernt, die seit 12 Jahren in Richtung Europa unterwegs sind und die einundzwanzig Mal vom europäischen Boden aus zurückgeschoben wurden. Ich habe mit Kindern von Geflüchteten gesprochen, die bis zu ihrem vierten Lebensjahr in Zeltkonstruktionen im Niemandsland zwischen Algerien und Marokko verbracht haben.
Bis heute haben sie keinen europäischen Pass, gelten als sans papièrs wie ihre Eltern. Die meisten Migranten, mit denen ich Interviews geführt habe, waren zwischen sieben Monaten und sieben Jahren unterwegs. Ich schätze, durchschnittlich sind sie drei, vier Jahre unterwegs, bis sie entweder nach Europa gelangen oder sich entscheiden, in ihr Heimatland zurückzukehren. Aber das sind Vermutungen.

"Oft werden die Menschen ohne Wasserkanister mitten in die Wüste abgeschoben"

Welche Schwierigkeiten müssen die Menschen auf diesem Weg meistern?
Miriam Fassbender: In den Transitländern werden sie, wie gesagt, illegalisiert. Sie werden von Banditen in der Wüste überfallen und von Zollbeamten, Polizei, Militär und Grenzpersonal drangsaliert, beziehungsweise ausgenommen. Korrupte Beamten der Transitländer oder des Grenzschutzes bereichern sich an ihnen und verdienen Unsummen, indem sie sie zwischen Küstenorten, Grenzgebieten, Militärlagern und Wüstencamps hin- und herschieben.
Oft werden sie ohne Wasserkanister mitten in die Wüste abgeschoben. In Libyen, aber auch im Yemen und im Sinai laufen sie Gefahr, in den sogenannten Foltercamps zu enden. Zudem sind sie einem enormen Rassismus durch Teile der nordafrikanischen Gesellschaft ausgesetzt.
Miriam Fassbender, Foto: Westend Verlag
Bei Abschiebungen von der euro-afrikanischen Grenze zurück an die algerisch-marokkanische Grenze werden sie häufig von den "Grenzschützern" (die auch von Europa finanziert werden) zusammengeschlagen. Ihre Schuhe und Kleider werden ihnen selbst im Winter oftmals abgenommen. Immer mehr Länder errichten Zäune gegen die Flüchtenden (Griechenland und Bulgarien haben diese bereits, aktuell will nun auch Algerien einen Zaun an der Grenze zu Marokko in Auftrag geben, um sich so vor Rückschiebungen zu wappnen).
Außerdem werden sie als billige Arbeitskräfte meist ausgebeutet und ihr Lohn wird ihnen nicht selten vorenthalten. Ihre provisorischen Unterkünfte nahe der Grenzgebiete werden oft im Morgengrauen vom Grenzschutz, der Polizei und der Gendarmerie gestürmt, ihr einziges Hab- und Gut ( Handys, Pässe, Kleider) dabei verbrannt oder ihnen von den Beamten abgenommen.

"Illegal ist viel mehr, was Europa an seinen Außengrenzen betreibt"

Der Versuch, ohne gültige Papiere nach Europa einzuwandern, verstößt gegen unser Gesetz. Warum halten Sie ihn trotzdem für legitim? Inwiefern hängt der Wohlstand der europäischen Industrienationen mit der Armut in Afrika zusammen?
Miriam Fassbender: Unser Wohlstand basiert auch auf der Kolonialisierung und der seitdem konstanten Ausbeutung der Ressourcen des afrikanischen Kontinents. Hinzu kommen Agrarsubventionen für europäische Produkte, Waffentransporte, Landgrabbing, die Rodung der Wälder auf dem afrikanischen Kontinent für den Anbau von Monokulturen oder der Öl- und Uranabbau etcetera - ohne Rücksicht auf die zerstörerischen, irreversiblen Umweltfolgen durch multinationale Unternehmen.
All das nimmt vielen jungen Afrikanern die letzte Perspektive, sich in ihren Heimatländern etwas aufbauen zu können. Vor allem aber schließt Europa, um Wirtschaftsinteressen zu wahren, Verträge mit afrikanischen Autokraten, die die Menschenrechte nicht respektieren.
Aus diesen Gründen halte ich es für legitim, aus Armutsgründen oder auch aus Klimagründen und so weiter sein Heimatland zu verlassen um in Europa Schutz zu suchen. Illegal ist viel mehr, was Europa an seinen Außengrenzen betreibt - nämlich Menschen, die schon mit den Füßen auf europäischem Boden stehen, keinen Schutz zu bieten, sie ihren Asylantrag gar nicht erst stellen zu lassen und sie dazu zu zwingen, auf irregulärem Wege nach Europa einreisen zu müssen, obwohl sich Angehörige ihrer Familie bereits in Europa befinden.
Das wiederspricht den Statuten der EU, die sich mit ihrem Humanismus rühmt. Das Mindeste ist, dass die EU zukünftig eine gefahrenfreie Einreise auf unseren Kontinent garantiert.

"Tendenziell ist aber der Islam eine sehr offene Religion"

Sie schreiben in Ihrem Buch, dass Europa militärische Einsätze und Auseinandersetzungen um Rohstoffe mit dem Vorwand der Terrorbekämpfung rechtfertigt. Können Sie uns mehr darüber erzählen?
Miriam Fassbender: Ich denke was Mali und den Süden Algeriens betrifft, wo es Gold-, seltene Erden- und Ölvorkommen gibt, dass mit unserer Militärintervention in erster Linie europäische Wirtschaftsinteressen und nicht etwa die Menschen dort vor den Dschihadisten geschützt werden sollen. Ich hatte während meines Drehs im Nordosten von Mali nicht den Eindruck, als gäbe es wirklich ein Problem mit den Milizen. In dieser Region leben die Menschen seit Jahrtausenden friedlich zusammen, obwohl viele verschiedene Ethnien dort leben.
Die dogmatischen Islamisten, wie jene, die nach Mali bewaffnet aus dem Libyenkrieg zurückkehrten, stellen eine nicht zu unterschätzende Gefahr für die Demokratien vieler Länder dar, sobald sie sich organisieren. Tendenziell ist aber der Islam eine sehr offene und vielfach auslegbare Religion, durch die sich Militäreinsätze nicht rechtfertigen lassen, nur weil Teile ihrer Anhänger radikal sind.
Wie viele Menschen müssen jährlich bei dem Versuch von Afrika nach Europa überzusetzen ihr Leben lassen und wie viele Frauen und Kinder sind darunter?
Miriam Fassbender: Ich kenne einzig die Zahl der Zwanzigtausend, die seit Anfang der 1990er Jahre im Mittelmeer ertrunken sind. Der Anteil der Frauen und Kinder liegt meines Erachtens unter zehn Prozent, aber das ist eine Schätzung. Ihr Anteil nimmt allerdings zu.
Welche Rolle spielt dabei die europäische Grenzschutzagentur FRONTEX?
Miriam Fassbender: FRONTEX ist dafür zuständig die stetige Militarisierung unserer Außengrenzen voranzutreiben und zu wahren. Offiziell ist FRONTEX für die Seenotrettung von Geflüchteten zuständig und die Zahl der Toten ist seit Beginn des Abschottungs- Konzepts Eurosur und der OP Mare Nostrum auch gesunken. Weitgehend unbekannt ist aber, dass FRONTEX die Geflüchteten nach ihrer Rettung direkt registriert und gegebenenfalls sofort zurückschiebt.
Zwar hat FRONTEX mittlerweile sogar eine Menschenrechtsbeauftragte, aber Menschenrechtsverletzungen und Tote werden für die Abschottung Europas nach wie vor in Kauf genommen.
Wie wird in Europa mit den immensen Todeszahlen umgegangen?
Miriam Fassbender: Nach den beiden verheerenden Bootsunglücken vor Lampedusa innerhalb der ersten Oktoberwoche im vergangenen Jahr gab es viel Erschütterung und Anteilnahme in der europäischen Bevölkerung. Die Bürger unseres Kontinents scheinen emphatischer als noch zum Beispiel 2005, als sechzehn subsaharische Migranten bei ihrem Versuch, den Zaun von Melilla organisiert zu stürmen, erschossen wurden.
Die mediale Resonanz auf die Flüchtenden hat sich in den letzten Jahren glücklicherweise ein wenig geändert. Insgesamt denke ich, dass es eine große Divergenz zwischen der Haltung vieler Bürger Europas und dem Handeln der Politiker gibt, die sich einzig in Zugzwang sehen, wenn wieder ein überfülltes Boot untergegangen ist und es mehrere Hundert Tote gab.

"Die anhaltenden Proteste bewirken ein Infragestellen von Europas Asylpolitik"

In Deutschland zeigt es sich in den letzten Jahren, dass die Non-Citizens unter sehr schwierigen Bedingungen mit ihren Forderungen erheblich an Selbstbewusstsein gewonnen haben. Wird das in absehbarer Zeit Auswirkungen auf die hiesige Asylpolitik haben?
Miriam Fassbender: Ich denke es wird in Deutschland langfristig Auswirkungen auf die Residenzpflicht haben. Sicherlich haben ihre Proteste indirekt auch den Europäischen Strafgerichtshof beeinflusst, der kürzlich Deutschland aufforderte Geduldete, die keine Verlängerung ihres Asylgesuchs mehr bekommen, nicht in Abschiebegefängnissen unterzubringen.
Was Deutschland betrifft, hoffe ich, dass langfristig Gruppen wie Women for Exile, Lampedusa in Hamburg oder auch die Refugees der Ohlauer Schule in Berlin eine Anerkennung aufgrund des Paragraphen 23 für sich erwirken können, wobei das eher unrealistisch ist.
Die anhaltenden Proteste der Non Citizens bewirken auf jeden Fall Solidarität sowie ein Infragestellen von Europas Asylpolitik bei der hiesigen Bevölkerung, was langfristig hoffentlich dazu führt, dass die Drittstaatenregelung abgeschafft und Europa wie auch Deutschland ein Zuwanderungsgesetz zulassen wird.

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