Idlib: Erdogan stellt sich gegen al-Assad und Putin

Maarat an-Numan, Syrien, "Ostteil der Stadt von der Schnellstraße". Archivbild (von 2009): Bertramz/CC BY 3.0

"Wer sind die Terroristen? Die, die ihr Land verteidigen?" Die Zahl der Flüchtlinge aus den umkämpften Gebieten wächst sich zum Riesenproblem aus

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Geschätzt 120.000 Menschen in Idlib sollen sich in den vergangenen zwei Wochen zur Flucht entschieden haben. Es kursiert darüber hinaus noch die Zahl von beinahe 400.000 Binnenflüchtlingen, die seit Anfang Dezember Zuflucht vor den Angriffen suchen.

Dazu kommen laut einem aktuellen Bericht der UN-Hilfsorganisation OCHA weitere geschätzte 400.000, die zwischen Mai und August 2019 ihre Wohnorte im Nordwesten Syriens verlassen haben.

Bei der jüngsten Fluchtwelle - die 390.000, die sich zwischen 1. Dezember und 27. Januar auf den Weg gemacht haben - sind laut OCHA ein Großteil, 80 Prozent, Frauen und Kinder. Sie kommen meist aus den größeren Bevölkerungszentren wie Saraqab und Ma'ratt an-Nu'man (oft: Ma'arat al-Numan), wie die Hilfsorganisation berichtet.

Befürchtet wird, dass der Strom der Binnenflüchtlinge in den nächsten Tagen noch zunehmen wird, da sich die aktuelle Offensive der syrischen Armee genau auf die beiden Städte und deren Umland konzentriert.

Bislang hält die Türkei ihre Grenzen für die Flüchtlinge geschlossen

Viele der Binnenflüchtlinge seien schon mehrmals vertrieben worden, was auch erklären kann, weshalb eine genaue Erfassung der Zahlen der Binnenflüchtlinge so schwierig ist. Nicht zu bestreiten ist jedoch das riesige Unterbringungs- und Versorgungsproblem, das sich durch die Flucht Hunderttausender stellt. Laut der Hilfsorganisation sind die Lager und andere Unterbringungsmöglichkeiten an der Belastungsgrenze. Als Ziele der meisten Binnenflüchtlinge der vergangenen achteinhalb Wochen werden Afrin genannt sowie die Gebiete bei Azaz und al-Bab.

Beide Zonen sind nördlich von Aleppo gelegen und wie Afrin unweit der türkischen Grenze. Man braucht nicht viel Fantasie, um zu erkennen, dass die Türkei einem Problem gegenübersteht, und nur etwas mehr Vorstellungskraft, um zu ahnen, dass dieses Problem auch Europa betreffen könnte. Bislang hält die Türkei ihre Grenzen für die Flüchtlinge geschlossen. Eine Öffnung wäre auch der türkischen Bevölkerung schwer vermittelbar.

Jedoch fragen sich Beobachter, wie lange die Türkei diese Situation so halten kann, besonders wenn der Druck mit weiteren Fluchtbewegungen zu grenznahen Orten zunimmt und sich in der Folge massive Proteste an der Grenze entwickeln könnten (siehe dazu: Idlib: Die Wut der Dschihad-Milizen auf die Türkei). Afrin und die Gebiete in Nordsyrien, die die Türkei seit ihrer Invasion im Oktober besetzt, sind nicht dafür tauglich, Hundertausende Vertriebene aus Idlib aufzunehmen. Das würde die Sicherheitslage in beiden Regionen gefährden.

Anderseits müsste die türkische Regierung bei einer Grenzöffnung ebenfalls Sicherheitsprobleme durch Dschihadisten befürchten, die ins Land kommen und dort möglicherweise mit Anschlägen Druck auf die Regierung in Ankara ausüben.

Das "Riesenproblem" (Merkel)

Zu den Regelmäßigkeiten der letzten Monate gehörten, wenn es um türkische Probleme mit Flüchtlingen aus Syrien ging, Drohungen seitens Erdogan Richtung EU. Man kann davon ausgehen, dass dies auch der Fall sein wird, wenn sich die Lage der Flüchtlinge an der Grenze zur Türkei weiter zuspitzt.

Das "Riesenproblem" (Merkel) der Flüchtlinge in Nordsyrien wurde bereits beim kürzlichen Besuch der Kanzlerin in Ankara angesprochen. Sie signalisierte unkritische Unterstützungsbereitschaft für eine Situation, an deren Entstehung die Türkei maßgeblich mitverantwortlich ist (Finanziert Deutschland Erdogans Umsiedelungspolitik in Nord- und Ostsyrien?).

Wenn das Regime Idlib kontrolliert, werden sich die Leute in die Türkei aufmachen - sie werden dort nicht bleiben, aber sie werden planen, von dort nach Europa zu kommen. Wenn der Sommer kommt wird es mehr Boote geben, die von der Türkei nach Griechenland übersetzen.

Ungenanntes Mitglied einer Hilfsorganisation, al-Monitor

Erdogans Zorn und die Beziehung zur HTS

Derzeit richtet sich Erdogans Zorn gegen die syrische Armee und seine Forderungen an Russland. Sein Ärger über die Idlib-Offensive offenbart zugleich, wo er sein Lager sieht. Am vergangenen Mittwoch platzte ihm offenbar der Kragen:

Wir haben geduldig bis jetzt gewartet. Zuletzt gab es Granatenbeschuss aus Aleppo auf unsere Seite(!). Unsere Vertreter gaben ihren russischen Gesprächspartnern Bescheid, dass sie entweder dafür sorgen, dass die Bombardements aufhören oder wir machen auf unsere Art weiter.

Recep Tayyip Erdogan

Er erwarte, dass Russland "dem Regime eine notwendige Warnung" erteile, sagte Erdogan den Journalisten. Interessant ist ein Zusatz, der etwas aufhellt, was der türkische Präsident mit "unserer Seite" meint:

Russland erzählt uns, dass sie gegen Terrorismus kämpfen. Wer sind die Terroristen? Die Menschen, die darum kämpfen, ihr Land zu verteidigen?

Recep Tayyip Erdogan

Gehört der al-Qaida-Ableger Hayat at Tahrir asch-Scham (HTS) auch zu diesen Gruppen, die Erdogan im Gegensatz zu den YPG nicht als Terroristen bezeichnet haben will? Die Beziehungen zwischen der türkischen Regierung, ihrem Militär und ihrem Geheimdienst zur HTS sind nach wie vor schwer durchschaubar.

Dass es zu gelegentlichen Kooperationen kommt, ist allein schon aufgrund der Tatsache gegeben, dass die türkischen Soldaten, die die Beobachtungsposten an der "Deeskalationszone" in Idlib bemannen, auf die Gunst der HTS-Milizen angewiesen sind, um dorthin zu gelangen und Nachschub zu bekommen.

Aber, wie ein Mann aus der "deutschen Bäckerei in Idlib" in einem Interview (mit ein paar interessanten Details aus dem Alltag der Dschihadisten dort) verstehen lässt, gibt es auch ideologisch-religiös begründete Distanzen - was jedoch längst nicht ausschließt, dass es zu Kooperationen, auch militärischen, kommen kann, wenn die Gelegenheit dafür spricht. Allein die Wortwahl von Erdogan legt dies nahe.

Vorwürfe Richtung Russland

Offensichtlich wird aus den Aussagen des türkischen Präsidenten auch, dass es zwischen Erdogan und Putin "rumpelt". Die Forderung Erdogans, wonach Russland auf die syrische Regierung einwirken soll, lässt jedenfalls auf Ärger rückschließen. Zudem wirft Erdogan Russland vor, dass es Abmachungen, die in Astana und in Sotschi getroffen wurden, nicht einhalte.

Russlands Luftwaffe unterstützt die Offensive der syrischen Armee in Idlib, wo sich die türkischen Militärs und die syrischen an unterschiedlichen Fronten befinden. Mittlerweile hat die Offensive dazu geführt, dass erneut türkische Beobachtungsposten eingeschlossen sind. Auch das wird Erdigan nicht gefallen.

(Syrische, Einf. d. A.) Militäreinheiten rückten auf der M5-Autobahn entlang in Richtung Norden vor und befinden sich nun etwa 16 Kilometer von Saraqib entfernt, entlang zwei Autobahnen liegt sie in einer strategisch günstigen Position und öffnet damit Tor und Tür zur gleichnamigen Provinzhauptstadt Idlib. Bei diesem Vorstoß konnten sie zudem einen türkischen Militärstützpunkt umzingeln und isolieren, wodurch Dutzende türkische Soldaten nun eingeschlossen sind. Die türkischen Soldaten hatten eigentlich die Aufgabe, die zwischen Russland und der Türkei ausgehandelte Waffenruhe zu überwachen, weiteten aber effektiv nur den Einfluss der Türkei in Idlib aus. Insgesamt handelt es sich um den dritten "Observierungspunkt", welcher in Folge der Idlib-Offensive belagert werden konnte.

Philip Klaus, Flutterbareer

Der zitierte Lagebericht stammt vom vergangenen Dienstag. Da hatte die syrische Armee gerade die strategisch wichtige Stadt Ma'arat al-Numan erobert und war dabei, die Eroberung durch militärische Aktionen in der Umgebung abzusichern. Das nächste Ziel heißt Saraqib.

Die Stadt steht anscheinend kurz vor der Einnahme durch die syrische Armee, die damit dem großen Ziel, nämlich der Wiedererlangung der für die Regierung vital wichtigen Kontrolle über die M5-Schnellstraßen-Verbindung zwischen Damaskus und Aleppo, einen wichtigen Schritt näherkommt. Geht es nach Informationen von SOHR - deren Qualität bekanntlich sehr schwanken kann -, stellen sich türkische Militärs und ihre Verbündeten der Miliz "Nationale Armee Syrien" mit schwerem Gerät und Waffen nördlich von Saraqib der offiziellen syrischen Armee in den Weg.

Sollten sich diese Informationen bewahrheiten, dann würde auch dies auf eine Zusammenarbeit zwischen der Türkei und der al-Qaida-Gruppe HTS verweisen.